Jens Geier glaubt an ein starkes Europa. Auch wenn er das Bündnis im permanenten Ausnahmezustand erlebt. Der Europaparlamentarier redet mit uns über Energiepolitik, Klimaziele und die Mammutaufgabe der Transformation.

Jens Geier, wir erleben aktuell vielfältige Krisen. Von der Corona-Pandemie über den Ukrainekrieg bis zu Klimawandel, Inflation und Energieunsicherheit. Wie gelingt es Ihnen, sich diesen Krisen und Herausforderungen jeden Tag mit Zuversicht zu stellen?

Das ist eine sehr persönliche Frage. Es gibt Leute, die resignieren. Ich hingegen gehöre zu denen, die sagen: Wir müssen die Chancen nutzen, die wir haben. In Bereichen, in denen ich eine Verantwortung habe und Dinge gestalten kann, will ich das auch tun. Wenn dann etwas gelingt, gibt mir das Kraft.

Stärkt der permanente Krisenmodus den Zusammenhalt in Europa, also den Willen, gemeinsam Lösungen zu finden, oder ist er eher eine Gefahr?

Dieser Wille geht von den Regierungen aus, und die meisten wissen, dass es gar nicht anders geht als gemeinsam. Kein Staat hat allein die Kraft und die politischen Möglichkeiten, die Krisen nach seinen Vorstellungen zu bewältigen. Es funktioniert nur im europäischen Verbund. Der Wille, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, hat sich mit jeder Krise weiterentwickelt. Das bedeutet nicht, dass alle einer Meinung sind. Aber über unterschiedliche Vorstellungen zum Vorgehen entsteht kein existenzieller Dissens. Die Gefahr für den Zusammenhalt in der EU geht von Regierungen aus, die die gemeinsamen europäischen Werte infrage stellen. 

Die Energiepolitik ist ebenfalls ein Thema, das den Zusammenhalt gefährden kann, denn hier fühlen sich nicht alle Bürger:innen mitgenommen. Tut die EU genug, um die Bürger:innen zu unterstützen?

Die Probleme, die der Krieg verursacht hat, sind vielfältig. Mittlerweile sind die Energiepreise wieder gesunken, aber sie sind noch nicht auf einem Niveau, auf dem man leichten Herzens in der Industrie oder in der Bäckerei den Ofen anfacht. Ich finde nicht, dass teure Energiepreise ein Anreiz für neue Investitionen sind. Denn diese Neuinvestitionen muss man sich erst einmal leisten können. Die EU-Kommission macht ihre Hausaufgaben, um die Situation zu entschärfen und Transformation zu erleichtern. Sie hat die Probleme erkannt und legt Lösungen vor.

Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit die Mitgliedsstaaten die ambitionierten Klimaziele der EU erreichen? 

Die Kommission muss immer versuchen, die individuelle Lage von 27 Staaten zu berücksichtigen. Kritisiert man europäische Institutionen für ihre Standpunkte, muss jedem bewusst sein, dass diese Standpunkte für 27 Länder passen müssen. Sie können deshalb für den einzelnen Staat auch einmal nicht so komfortabel sein. Man kann nicht sagen: Solange mir nicht alles gefällt, mache ich gar nichts. Ein bisschen Druck gehört dazu. Es ist die Kunst von Politik, den Ausgleich zwischen Entgegenkommen und Druck zu finden. Ich erlebe immer wieder, dass Abgeordnete sagen: Das können wir nicht! Das machen wir nur, wenn es Geld gibt. Das wird der gemeinsamen Aufgabe Klimaschutz nicht gerecht. Wenn der Meeresspiegel steigt, steigt er bei allen. Zusammenhalt muss man organisieren.

Sie setzen sich für den Ausbau der erneuerbaren Energien ein. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die grüne Wende so gelingt, dass am Ende mehr Arbeitsplätze gerettet oder geschaffen werden als verloren gehen? 

Da das mein Fachgebiet ist, bin ich sehr zuversichtlich (lacht). Ich behaupte, die Sozialdemokraten können Transformation am besten, denn das ist unsere politische DNA. Ohne Industrialisierung gäbe es die SPD nicht. Zur Gestaltung des Strukturwandels in der Industrie gehört aber mehr, als nur Jobs zur Verfügung zu stellen. Es geht darum, Wertschöpfungsketten aufrechtzuerhalten, Innovation zu sichern, Souveränität aufrechtzuerhalten, indem die Produkte einer Wertschöpfungskette komplett in der EU liegen. Aber die Balance zwischen Aufrechterhaltung industrieller Ressourcen und Arbeitsplatzerhalt und gleichzeitiger Einleitung des notwendigen Strukturwandels zu einer Net-Zero-Produktion ist eine schwierige Aufgabe. So als würde man der Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln. 

Das Ruhrgebiet hat die Kohle hinter sich gelassen. In anderen europäischen Regionen ist das noch anders. Wie können die Erfahrungen aus Deutschland dazu beitragen, dass der Ausstieg sozialverträglich gelingt?

Das Ruhrgebiet hat es erfolgreich ohne große soziale Friktionen geschafft. Die wesentlichen Weichen wurden im Einvernehmen zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften gestellt. Der Ausstieg verlief zeitlich lang gestreckt und sozial verträglich. Vor dem Hintergrund des Klimawandels bleibt für eine lange Streckung aber keine Zeit mehr. Wir müssen den Menschen die Angst nehmen, dass die soziale Lage katastrophal wird, wenn sich die Arbeit verändert. Sie wird uns nicht ausgehen. Außerdem brauchen wir Alternativen, zum Beispiel mit der Ansiedlung von Universitäten und dem Umgang mit den Relikten der Industriekultur. Das freie Spiel der Kräfte erledigt das nicht. Es ist eine öffentliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Bevölkerung und Region eine neue wirtschaftliche Perspektive bekommen. Das kostet Geld und Anstrengung. 

Wie kann die EU helfen?

Nicht mit Geld, zumindest nicht aus dem eigenen Haushalt. Der EU-Haushalt ist doppelt so groß wie der Landeshaushalt von Nordrhein-Westfalen. Damit macht man keine EU-weite Strukturpolitik. Die Stärke der EU ist die Rechtsetzung. Da die Transformation eine gemeinschaftliche Herausforderung ist, müssen die montangeprägten Regionen eine besondere Hilfe erfahren. Die Entwicklung der passenden Strategie ist Aufgabe nationaler und regionaler politischer Akteure. Aber die EU kann deren Arbeit durch Rechtsetzung erleichtern.

Was fehlt an Weichenstellungen, um den Wasserstoffmarkt in der EU in Gang zu bringen?

Ich wünsche mir, dass wir das Gesetzgebungsverfahren dieses Jahr abschließen. Im deutschen und nordwesteuropäischen Raum stehen genug Investoren bereit, die nur auf Rechtssicherheit warten, bevor sie investieren. Der nächste Punkt betrifft die Versorgungssicherheit mit Wasserstoff. Wenn der Wasserstoff am Ende einen Beitrag zum Klimaschutz liefern soll, muss er low carbon oder grün sein. Dafür brauchen wir sehr viel erneuerbare Energie. Das schaffen wir nicht allein. Wir müssen mit unseren Nachbarn Abkommen über die Produktion und den Transport von Wasserstoff schließen, in erster Linie über Pipelines. Ich denke an Skandinavien, Nordafrika, die Ukraine, wenn dort wieder Frieden herrscht, und Zentralasien. Diversifizierung ist entscheidend. 

Versetzen wir uns gedanklich in den März 2024. Wie werden Sie auf das Jahr 2023 zurückblicken? 

Das wage ich nicht zu sagen. Seit ich in Brüssel bin, erlebe ich Europa im Ausnahmezustand. Wir leben in einer Epoche, in der sich Veränderungen in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit vollziehen. Entweder weil sie nötig sind oder weil externe Einflüsse uns dazu zwingen. Daher kann ich jeden verstehen, der sich abgehängt fühlt oder dem Veränderungen Angst machen. Es ist mein Job als Politiker, den Menschen Zuversicht zu vermitteln, indem wir auch unter schwierigen Umständen die Weichen für die Zukunft stellen. 

Das Gespräch führten Johanna Fleger und Lennart Paetz.

Jens Geier ist seit 2009 Abgeordneter der SPD im EU-Parlament. Seit 2017 ist er Vorsitzender der Europa-SPD, des Zusammenschlusses der 16 SPD-
Abgeordneten im Europaparlament, und in dieser Funktion ständiger Gast im Präsidium der SPD. Er beschäftigt sich intensiv mit der Dekarbonisierung des Energiesektors und der Zukunft des Wasserstoffmarktes. 

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