In Zeiten komplexer innen- und außenpolitischer Stapelkrisen warnt Düzen Tekkal vor Spaltung durch Migrantisierung und Vereinfachung von Debatten. Demokratie brauche jetzt Leadership, Haltung und gerechten Zugang zu Ressourcen. Welche Rolle die Wirtschaft dabei haben sollte, erzählt sie uns im Interview.

Frau Tekkal, in diesem Jahr werden in verschiedenen Wahlen weltweit die politischen Weichen für wichtige Entscheidungen der nächsten Jahre gestellt. Wie blicken Sie inmitten geopolitischer, sozialer und ökologischer Herausforderungen darauf?

Angriffslustig. Und das ist auch meine Kritik. Dass wir in unserem Land zu wenig wollen. Dass immer so getan wird, als wenn die Dinge so kommen müssen, wie wir sie haben kommen sehen, anstatt Leadership und Haltung zu zeigen. Wir sind mit der Vielzahl von und Gleichzeitigkeit an Stapelkrisen plötzlich mit Herausforderungen konfrontiert, die wir nie für möglich gehalten haben. Darauf braucht es jetzt strukturelle Antworten. Und mir ist dabei noch ein Punkt wichtig: Immer, wenn Überforderungserscheinungen auftreten, werden Probleme schnell migrantisiert und sarrazinisiert. Das merken wir auch in unserer Bildungsarbeit bei GermanDream. Es gibt kein Thema, wo der Populismus nicht reinkickt. Wir dürfen es den Populisten nicht so einfach machen wie in den letzten Jahren

Ist das auch eine Kritik an der gesellschaftlichen Mitte, die vielleicht bislang zu leise und zu wenig angriffslustig war?

Kritik ist immer einfach, aber durch Kritik allein ändert sich wenig. Was gerade passiert, ist, dass die schweigende Mehrheit plötzlich aufsteht und auf die Straße geht, weil es für sie so nicht mehr weitergeht. Es ist gar nicht in Worten auszudrücken, wie wichtig und mutig das ist. Vor allem auch in den Kommunen, in ländlichen Räumen und in den ostdeutschen Kleinstädten, wo man sich mit einer ganzen Peergroup anlegt, mit AfD-Bürgermeistern oder Nachbarn, die stramm rechts sind. Es ist wichtig, jetzt allen – auch den AfD-Wählern – klarzumachen, dass wir es ihnen künftig nicht mehr so einfach machen werden. Vor allem muss es auch darum gehen, wo wir als Gesellschaft und als Deutschland hinwollen und wo unsere roten Linien sind. Und da ist unser Haltungsmuskel gefragt. Politik wird nicht nur von den „oberen Eintausend“ verhandelt, sondern von uns allen mitgestaltet.

Genau das bedeutet für mich Leadership: etwas zu tun, weil es richtig ist. Und wer soll das besser machen als Menschen in Führungsverantwortung?

Wen sehen Sie beim Thema Leadership am ehesten in der Pflicht?

Immer uns alle. In dem Moment, wo ich sage: „Der oder die muss“, muss ich mir die Frage stellen: „Habe ich selbst schon genug getan?“ Dazu gehört auch eine gute Streitkultur, in der wir uns etwas zumuten müssen. Wir sind wahnsinnig schlecht darin geworden, Diskurs und Dissens auszuhalten. Fortschritt ist anstrengend, keine Frage. Aber ich glaube, Leadership ist immer da, wo auch Macht, Kraft, und Verantwortung sind. Wir müssen keine Angst davor haben – auch nicht als Frauen oder als marginalisierte Gruppen. Ich habe in unserer Arbeit festgestellt, dass die Überzeugung, für eine Sache einzustehen, wahnsinnig immunisieren und stabilisieren kann – trotz der vielen Anfeindungen. Die Akzeptanz für Gegen- wind gehört nämlich zum Prozess dazu. Wir dürfen die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen. Extremisten kriegen das besser hin.

Gehen wir einmal auf die strukturelle Ebene: Welche Strukturen müssen konkret angegangen werden, damit jede:r gleichermaßen die Chance hat, im dargelegten Sinne Leadership zu übernehmen?

Strukturelle Benachteiligung haben wir auf allen Ebenen. Ins- besondere dann, wenn es um viel geht, kommt der Rassismus, der Klassismus, der Sexismus. Das sehen wir beispielsweise beim Thema Fachkräfte: Ich kann doch nicht jahrelang warten, bis da irgend- welche Projekte ins Leben gerufen werden, während die Leute im Schmerz sitzen, Jobs suchen und noch von Rassismus betroffen sind. Deswegen haben wir das Fachkräftefestival GermanDreamJob gestartet, wo über 2 000 Menschen hingekommen sind. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu gefallen, sondern zu konfrontieren. Politik, neue Strukturen und neue Prozesse entstehen durch Konfrontation. Das gilt auch für Arbeitgeber, die aufgrund von bürokratischen Hindernissen nicht einstellen können. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse muss ausnahmslos für alle gelten und Strukturen müssen ausnahmslos für alle zugänglich sein. Denn wer hat denn sonst noch Bock auf uns? Der Alltagsrassismus, die bürokratischen Hemmnisse und die Tatsache, dass Fachkräfte in die Rolle von Bittstellern treten müssen, haben sich doch international längst herumgesprochen. Da gehen die Leute doch lieber nach England oder Australien.

Ist es nicht schon ein Defizit an sich, dass es eine Organisation wie GermanDream braucht?

Ja, da gibt es ein Defizit. Sonst hätten wir nicht so viel zu tun. Wertedialoge, die Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und Klassismus, müssten normalerweise Aufgaben des Rechtsstaates sein. Aber zur Realität gehört auch, dass gute Ideen eben nicht nur aus der Politik kommen können. Sie kommen immer auch aus dem Schmerz der Beteiligten. Wir bei GermanDream sind aus einem Defizit heraus entstanden, aus einem Schmerz, aus einer Wut, aus einem Frust. Es ist aber wichtig, dass wir in diesen Gefühlen nicht verharren, sondern daraus Handlungen ableiten.

Welche Rolle muss die deutsche Wirtschaft aus Ihrer Sicht bei der Bewältigung der Problemlagen, die Sie gerade beschrieben haben, spielen? Welche Verantwortung haben Unternehmen?

Sie haben eine sehr große Verantwortung, weil sie ein Quer- schnitt der Gesellschaft sind. Die Probleme machen ja nicht Halt vor Wirtschaftsunternehmen – gerade nicht in sehr großen Unternehmen, wo Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft zusammen- kommen. Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, in der gesagt wurde, Sport und Wirtschaft seien nicht politisch. Das war ja eine fette Lüge. Wir sind alle politisch und das muss anerkannt werden, um gute Lösungen zu finden. Natürlich brauchen wir die Wirtschaft als monetäre Kraft, aber eben auch als ideelle. Und dazu gehört selbstverständlich auch, dass große Wirtschaftsunternehmen die Gefahr der AfD im eigenen Interesse adressieren und das nicht nur den Aktivisten überlassen. Genau das bedeutet für mich Leadership: etwas zu tun, weil es richtig ist. Und wer soll das besser machen als Menschen in Führungsverantwortung? Diversity ist nicht nur ein Modewort, sondern Diversity tut weh. Da geht es um harte Umverteilungsprozesse.

Man sollte immer auf die Spur des Geldes schauen. Die AfD ist unter anderem deswegen so wirkmächtig, weil sie großzügig finanziert wird. Und zwar auch von Unternehmen, die wir alle kennen.

Man hört immer noch häufig, dass es nicht die Aufgabe von Unter- nehmen sei, sich politisch zu exponieren. Was sagen Sie dazu?

Die Wirtschaft muss erkennen, dass die Voraussetzungen von Wirtschaft und Innovation Frieden und die Einhaltung von Menschenrechten sind. Wenn das in Gefahr ist, dann ist es schnell vorbei mit der Wirtschaft. Gleichzeitig müssen wir uns auch bewusst machen, dass internationale Grundsätze wie „Wandel durch Handel“ in Zeiten eines russischen Vernichtungskrieges in der Ukraine an ihre Grenzen kommen. Wir leben in einer Zeit, in der auch Konsumenten darauf achten, mit welcher Art Unternehmen sie es zu tun haben. Man sollte immer auf die Spur des Geldes schauen. Die AfD ist unter anderem deswegen so wirkmächtig, weil sie großzügig finanziert wird. Und zwar auch von Unternehmen, die wir alle kennen. Wir müssen uns fragen: Wer finanziert dagegen Demokratie und Vielfalt? Das hat nicht nur mit Haltung zu tun, sondern auch damit, was wir strukturell bereit sind, in die Hand zu nehmen – auch finanziell.

Werfen wir einen Blick auf die internationale Ebene: Ist eine feministische Außenpolitik die richtige Herangehensweise bei den neorealistischen Machtkämpfen, mit denen wir es heute wieder mehr und mehr zu tun haben?

Ich weiß, dass das Konzept der feministischen Außenpolitik oft belächelt wird. Aber ich bin dankbar für eine Außenministerin, die das zumindest als Maßstab nimmt – wohl wissend, dass sie auch daran gemessen wird. Die Tatsache, dass Annalena Baerbock eine der Politikerinnen ist, die am meisten bekämpft wird, zeigt auch, wie wirkmächtig sie ist. Wenn ich mir unsere Außenminister der Vergangenheit anschaue, kann sich unsere aktuelle Außenministerin mehr als sehen lassen. Ich möchte lieber Impulse haben, über die ich auch streiten kann, als gar keinen Impuls oder einen Old Boys’ Club.

Sie selbst haben viele Rollen: Journalistin, Menschenrechtsaktivistin, Kriegsberichterstatterin, Sozialunternehmerin. Sie sind in Deutschland geboren und haben auch jesidisch-kurdische Wurzeln. Wie prägen diese Teilidentitäten Ihre Entscheidungen?

Es bedingt sich im besten Fall gegenseitig und man muss schon auch mal mit sich ringen. Als Journalistin will ich manchmal viel lauter schreien, aber die Sozialunternehmerin in mir weiß, dass ich strategischer agieren muss, weil ich Arbeitsplätze und Projekte nicht gefährden will. Ich habe als Chronistin einen Völkermord miterlebt und weiß daher, dass Völkermorde mit Waffengewalt verhindert werden müssen. Wenn mich dann jemand als Kriegstreiberin bezeichnet, dann kann ich damit leben, weil ich selbst weiß, dass ich keine bin. Für mich sind diese unterschiedlichen Rollen sehr wertvoll und ich bin dankbar für jede Erfahrung, die ich machen durfte – auch für die schlechten.

Düzen Tekkal ist Menschenrechtsaktivistin, Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin und Sozialunternehmerin. Nach diversen beruflichen Stationen, u. a. als Fernsehjournalistin, gründete sie 2015 vor dem Hintergrund des Völkermordes an ihrer Religionsgemeinschaft der Jesidinnen und Jesiden durch den sogenannten Islamischen Staat die Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help und 2019 die Bildungsinitiative GermanDream. Im Jahr 2021 wurde Düzen Tekkal für ihr Engagement für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Bildnachweis © Bernd Brundert