Rieke Havertz und Jeff Rathke begleiten die politische Situation in den USA seit vielen Jahren. Wir treffen die internationale Korrespondentin der ZEIT und den Präsidenten des American German Institute zum hybriden Interview. Sie schildern uns ihre Eindrücke aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, blicken auf das transatlantische Verhältnis in der Sicherheitspolitik und erklären, was ihnen auf beiden Seiten des Atlantiks Mut macht.

Am 5. November 2024 werden sich bei den US-Präsidentschaftswahlen wahrscheinlich Joe Biden und Donald Trump gegenüberstehen. Mit welchen Gedanken blicken Amerikaner:innen und Europäer:innen auf die Wiederholung des Duells von 2020?

Rathke Aus amerikanischer Perspektive ist es besonders, dass wir einen erneuten Zweikampf zwischen Joe Biden und Donald Trump erleben. Ich denke aber, dass diese Tatsache im Laufe der kommenden Tage und Wochen verblassen und der Fokus stärker auf Inhalten liegen wird. Joe Bidens Rede zur Lage der Nation vor dem US-Kongress – ein fest in der Verfassung verankerter alljährlicher Höhepunkt des amerikanischen Politikbetriebs – kann in diesem Jahr als ein Auftakt des Wahlkampfs gesehen werden. Die Rede hat gezeigt, dass sich der amtierende Präsident nicht nur stark von der Persönlichkeit von Donald Trump absetzen will, sondern auch inhaltlich. Die aktuell zu spürende Politikverdrossenheit wird in den Hintergrund treten und Zukunftsfragen weichen: Welchen Kurs möchten die beiden in einer zweiten Amtszeit fahren? Was wären die Konsequenzen ihrer politischen Vorstellungen?

Havertz Diese starke State-of-the-Union-Rede hat vor allem den Wahlkämpfer Joe Biden gezeigt. In den USA spürt man aber gerade auch: Es ist kein Wahlkampf der Begeisterung, den wir erleben werden. Viele Menschen, mit denen ich spreche, sagen: „Oh Gott, jetzt haben wir das Rematch, das wir nicht wollen!“ Vergleicht man beide Kandidaten aus europäischer Perspektive, ist Biden der präferierte Präsident. Aber aus US-amerikanischer Perspektive gibt es eben auch viele Menschen, die Donald Trump für einen guten Präsidenten gehalten haben und sich das wieder vorstellen können. Eine entscheidende Wählergruppe wird die sein, die frustriert ist von der erneuten Wahl Trump oder Biden. Sie stimmen möglicherweise nicht ab oder votieren für einen aussichtslosen dritten Kandidaten. Mobilisierung wird für beide Kandidaten sehr wichtig sein. Wenn sich viele Menschen entscheiden, zu Hause zu bleiben, könnte das am Ende diese absehbar sehr knappe Wahl entscheiden.

Welche sind die dominierenden Wahlkampfthemen und inwieweit unterscheidet sich der aktuelle Wahlkampf von dem vor vier Jahren?

Rathke Biden hat in seiner Rede zur Lage der Nation bereits einige Themen in den Fokus gerückt: Einmal ist es die Frage der Abtreibung, die nach dem Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2022 zu einer Mobilisierung auf demokratischer Seite geführt hat. Biden hatte sich bisher als gläubiger Katholik von diesem Thema ferngehalten. Gleichzeitig versucht er durch eine Art politisches Jiu-Jitsu eins der stärksten Themen der republikanischen Partei für sich zu gewinnen: die Grenzsicherheit. Nach monatelangen Verhandlungen mit den Republikanern brachte Biden ein Gesetzespaket auf den Weg, das die Grenzsicherheit stärken sollte. Trump versucht, seine Vorreiterrolle bei dem Thema beizubehalten, und rät zur Ablehnung – die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus ist bisher Trumps Empfehlung gefolgt, und das Resultat ist, dass keine neuen Maßnahmen ergriffen werden können. Biden könnte es jedoch gelingen, das Thema für die Demokraten zu gewinnen.

Havertz Die ökonomische Lage wird mitentscheidend sein. Die meisten erinnern sich noch gut an den Spruch aus Bill Clintons Wahlkampf aus den 90ern: It’s the economy, stupid! Da sieht es gerade für Biden nicht so gut aus: Zwar entwickeln sich die Wirtschaftsdaten in den USA derzeit positiv. Das führt jedoch nicht dazu, dass die Bürger:innen Biden das zugutehalten. Es gibt Umfragen, in denen Trump mehr Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird. Zwar geht die Inflation zurück und auch die Arbeitslosenquote ist sehr niedrig. Aber das, was die Menschen im Alltag beschäftigt – Mieten, Lebensmittelpreise und die Ausgaben für den täglichen Bedarf –, entwickelt sich nicht so, wie sie es sich erhoffen. Sie wünschen sich nicht bloß einen Rückgang der Inflationsrate, sondern eine Deflation: dass die Preise auf das Niveau vor der Pandemie sinken. Und das ist bislang nicht passiert.

Wie steht es vor diesem Hintergrund um die Mobilisierungspotenziale der beiden Kandidaten, insbesondere mit Blick auf umkämpfte Wähler:innengruppen und Wechselwähler:innen?

Rathke Seit dem 7. Oktober 2023 ist man sehr aufmerksam geworden in Hinblick auf die politische Haltung von amerikanischen Muslimen, insbesondere in sogenannten Swing States wie Michigan. 2016 und 2020 gab es in diesen Staaten einen Vorsprung von wenigen Zehntausend Stimmen für den jeweiligen Wahlsieger. Auch hat Trump 2020 mehr Stimmen von Latinos und Afro-Amerikaner:innen erhalten. Das erzeugt Unsicherheit bei den Demokraten, ob die eigentlichen Stammwähler:innen an Bord bleiben. Die Meinung und Bedenken dieser Wähler:innengruppen nicht ernst genug zu nehmen, ist eine Gefahr, wenn in bestimmtem Bundesstaaten jede Stimme zählt.

Havertz Biden hat ein Problem mit seiner Basis. Insbesondere viele jüngere Wähler:innen sind enttäuscht, dass sich Biden vor vier Jahren als Brücke zu einer neuen Generation präsentiert hat und nun doch noch einmal antritt. In dieser Hinsicht hat Trump seine Basis besser im Griff. Die Make-America-great-again-Republikaner werden sicher für ihn stimmen und sind extrem motiviert. Entscheidend wird sein, wie die beiden über ihre Basis hinaus Stimmen bekommen, ohne die keiner gewinnen kann. Da sehe ich Biden bei Unabhängigen und Wechselwähler:innen – etwa aus den Vorstädten – leicht im Vorteil.

Die transatlantischen Beziehungen sind wichtiger Anker der deutschen Sicherheitspolitik. Wie haben Sie die Debatten auf der Münchner Sicherheitskonferenz dazu wahrgenommen?

Rathke Die Konferenz war auf der europäischen Seite von Pessimismus geprägt. Donald Trumps offensichtliche Abneigung gegenüber den Verteidigungs- und Sicherheitsverpflichtungen in Europa prägt die aktuelle europäische Haltung sehr. Gleichzeitig haben die republikanischen Vertreter:innen versucht, den Eindruck eines gemeinsamen Wegs zu vermitteln. Es wirkte aber unentschiedener als im Vorjahr. Nun muss man sich mit der Frage auseinandersetzen: Was muss Europa leisten, um sich für eine zweite Amtszeit von Donald Trump aufzustellen, ohne auf dessen automatische Unterstützung für die europäische Sicherheit bauen zu können? Das hätte viel früher stattfinden müssen. Durch den Einsatz von Emanuel Macron und eine Neuorientierung der französischen Sicherheitspolitik in Europa sieht man Bewegung bei dem Thema. Wenn auch in Deutschland nicht in dem Maße, wie es in Frankreich – zumindest rhetorisch – geschieht.

Havertz Ich nehme den Pessimismus ebenfalls wahr und er ist angebracht. Wenn wir eine zweite Präsidentschaft Trumps erleben, wird sie anders verlaufen als die erste. Die erste war von erratischer Politik und von spontanen Entscheidungen geprägt – aber eingebettet in eine Regierung, an der Menschen beteiligt waren, die noch eine Stimme der Vernunft waren. Aber Trump hat aus diesen vier Jahren im Weißen Haus gelernt. Er spricht jetzt von Rache und Vergeltung. Die Vernünftigen im Raum wird es nicht mehr geben. Er verlangt von allen Menschen in seinem Umfeld absolute Loyalität. Wenn er sich für die NATO und für europäische Sicherheitspolitik nicht mehr interessiert, weil das aus seiner Sicht nicht im amerikanischen Interesse ist, dann wird er so handeln. Und darauf sind wir aktuell nicht gut vorbereitet. Zu lange haben wir gehofft, dass Donald Trump nicht wiederkommt.

Deutschlands Engagement für die NATO stand immer wieder in der Kritik. Doch gab es seit 2022 eine tiefgreifende Wende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wird das in den USA wahrgenommen?

Rathke Expert:innen, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befassen, wissen um die Wende in der deutschen Sicherheitspolitik und auch, dass Deutschland im Moment beispielsweise mehr Unterstützung an die Ukraine leistet als die USA. Dass sich das in der allgemeinen Wahrnehmung niedergeschlagen hat, bezweifele ich. Die Aussagen vieler Abgeordneter im Kongress sind immer noch aus einer alten Zeit: Die USA kümmern sich um alles und Europa muss endlich nachziehen. Und da sieht man den Nachteil der „Umarmungspolitik“ Deutschlands gegenüber der Biden-Regierung. Deutschland hat sich stark mit den USA identifiziert. Aber ohne die USA oder auch mit einer anderen amerikanischen Haltung gegenüber der europäischen Sicherheit steht Deutschland ziemlich blank da. Und da sieht man den großen Nachholbedarf.

Wie viel Raum werden sicherheitspolitische Themen im US-Präsidentschaftswahlkampf einnehmen?

Havertz Sie werden eine größere Rolle spielen als zuvor. Denn innen- und außenpolitische Themen sind eng miteinander verknüpft. Im Nahostkonflikt ist Biden aus außenpolitischer Perspektive bestrebt, eine Lösung zu finden – aber es ist auch innenpolitisch für ihn wichtig. Viele muslimische Amerikaner:innen und linke Demokrat:innen sind unzufrieden damit, wie Biden auf Israels aktuelles Vorgehen im Gazastreifen reagiert. Er hat bei aller Solidarität seinen Ton gegenüber der israelischen Regierung in den vergangenen Wochen verändert. Und auch die Ukraine wird Thema im Wahlkampf bleiben. Oft hört man in den USA: Wieso geben wir eigentlich unser ganzes Geld für die Ukraine aus, wenn wir es doch an unserer Grenze brauchen? Das ist Populismus aus dem Trump-Lager, ohne größere Zusammenhänge zu erklären, der aber verfängt.

Sowohl Republikaner:innen als auch Demokrat:innen muss man vorhalten, dass die Bereitschaft gesunken ist, mit der anderen Seite ins Gespräch zu kommen.

Rathke Biden merkt, dass es ein Vermittlungsproblem gibt, wenn er 60 Milliarden US-Dollar für die Ukraine bereitstellen will, obwohl es andere Herausforderungen zu Hause gibt. Deswegen versucht er, deutlich zu machen, dass die Ukrainehilfe sowohl der globalen als auch der US-Sicherheit dient. Ich bemerke auch den neuen Ton der Regierung. Biden hat in der Rede vor dem Kongress in den Mittelpunkt gestellt, er werde sich keinem Diktator beugen – kurz nachdem Trump bei einem Wahlkampfauftritt gesagt hat, Wladimir Putin könne mit Europa machen, was er wolle. Damit versucht er dieses Thema von der Haushaltsfrage in eine ideologische Frage der Selbstbehauptung der USA gegenüber Russland zu verwandeln.

Inwieweit hat sich in diesem zunehmend polarisierten Umfeld zwischen den beiden großen politischen Blöcken der Journalismus in den letzten Jahren in den USA verändert?

Havertz Die traditionellen Medien verlieren zunehmend an Bedeutung. Viele jüngere Leute gehen nicht mehr auf Webseiten, sondern beziehen ihre Inhalte über Social Media. Darin liegt auch Risiko: Menschen informieren sich nicht mehr unbedingt darüber, ob das, was sie lesen, verifiziert oder Teil einer Desinformationskampagne ist. Im Vorfeld der Vorwahlen gab es eine durch künstliche Intelligenz generierte Nachricht, in der Joe Biden zur Wahl aufrief – allerdings mit einem falschen Datum. Die Frage, wie mit Desinformation versucht wird, Politik zu machen, ist eine große Herausforderung für beide Seiten. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich glaube, in den USA gibt es nur noch wenige Menschen, die versuchen, sich so zu informieren, dass sie beide Seiten mitbekommen. Viele bleiben in ihren Informationsblasen, die hermetisch abgeriegelt sind. Sowohl Republikaner:innen als auch Demokrat:innen muss man vorhalten, dass die Bereitschaft gesunken ist, mit der anderen Seite ins Gespräch zu kommen. Für Gesellschaften ist das nie gut.

Joe Biden ist Jahrgang 1942, Donald Trump 1946. Wie wirkt sich das hohe Alter beider Kandidaten auf die Wählerschaft aus?

Havertz Joe Biden hatte zuletzt sehr mit dem Thema zu kämpfen, weil der Bericht über bei ihm gefundene Geheimdokumente veröffentlicht wurde. Sonderermittler Robert Hur bezeichnete Biden darin als wohlmeinenden älteren Herren mit schlechtem Gedächtnis. Deswegen wird er dieser Debatte nicht entkommen. Eine Stärke von Biden ist es, direkt mit den Wählern in Kontakt zu kommen. Gleichzeitig erhöht es das Risiko, dass er mal stolpert oder sich verspricht – und das wird dann überall in Dauerschleife gezeigt. Bei Trump ist es ähnlich, was die Rhetorik betrifft. Doch wirkt er physisch robuster im Auftritt. Das Thema wird nicht wahlentscheidend sein, aber es wird eine erhebliche Rolle spielen.

Es stehen viele Entscheidungen in diesem Jahr an. Was stimmt Sie beide zuversichtlich?

Rathke Mich stimmt zuversichtlich, dass wir viel offener über Herausforderungen und grundsätzliche Fragen sprechen. Wie verhält man sich in Amerika gegenüber Sicherheitsverpflichtungen in Europa? Was bedeutet ein militärisches Bündnis für die politische Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA? Was ist die amerikanische Vorstellung von Demokratie? Es ist eine gute Sache, dass wir diese Debatten mit Leidenschaft führen. Dadurch erinnern wir uns, wofür wir stehen. Diejenigen, die Mut und Zuversicht haben sowie unsere Werte verfolgen, werden am Ende hoffentlich gewinnen.

Havertz Was mich zuversichtlich stimmt, ist, dass wir auf beiden Seiten des Atlantiks in Gesellschaften leben, in denen wir eine Wahl haben. Sehr viele Menschen wollen Haltung zeigen: Sei es, dass Menschen in den USA für den Erhalt von demokratischen Ideen oder von Frauenrechten auf die Straße gehen oder – wie in Deutschland – gegen Rechtsextremismus. Menschen sind bereit, für etwas zu kämpfen und dafür einzustehen.

Rieke Havertz studierte Diplom-Journalistik und Amerikanistik an der Universität Leipzig und der Ohio University. Sie war Ressortleiterin von „taz.de“ bevor sie 2016 zu ZEIT ONLINE wechselte. Nach Stationen als Redaktionsleiterin und Chefin vom Dienst sowie als US-Korrespondentin für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT berichtet sie mittlerweile als internationale Korrespondentin mit dem Schwerpunkt USA und deutsche Außenpolitik. Havertz ist außerdem Co-Gastgeberin des Podcasts „OK, America?“.

Jeff Rathke ist Präsident des American German Institute (AGI) an der Johns Hopkins Universität in Washington, D.C., und ehemaliger US-Diplomat und NATO-Beamter. Während seiner 24-jährigen Karriere im Auswärtigen Dienst der USA beschäftigte sich Rathke vor allem mit den transatlantischen Beziehungen. In dieser Zeit war er u. a. in Berlin als Ministerialrat für politische Angelegenheiten, als stellvertretender Stabschef des NATO-Generalsekretärs in Brüssel sowie als Leiter der Pressestelle des Außenministeriums tätig.

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