In diesem Jahr wird mit Thüringen, Sachsen und Brandenburg in drei ostdeutschen Bundesländern gewählt. Vor diesem Hintergrund haben wir mit der Journalistin und Moderatorin Melanie Stein über die Verantwortung der Medien, den Zustand und die Zukunft Ostdeutschlands gesprochen.

Sie schreiben über sich selbst, dass es Ihnen gefällt, die Welt konstruktiv zu gestalten. Was bedeutet das für Sie?

Als Psychologin weiß ich: Wenn wir hauptsächlich Probleme beschreiben, manifestieren wir sie auch. Unser Gehirn kann nicht zwischen akuten und möglichen zukünftigen Gefahren unterscheiden. Dies führt dazu, dass viele Menschen gar keine oder weniger Nachrichten konsumieren. Wir brauchen aber eine aufgeklärte Gesellschaft, die kluge und verantwortungsvolle Wahlentscheidungen trifft. Deswegen fand ich es schon früh wichtig, über Lösungsansätze zu berichten und verschiedene Perspektiven in die Berichterstattung einfließen zu lassen. Und neben Pro und Kontra auch Gemeinsamkeiten im Blick zu haben.

Was hat zur Entscheidung geführt, „Wir sind der Osten“ zu gründen?

Für mich waren die Ergebnisse der Europawahl 2019 ausschlaggebend. Politische Veränderungen wurden sichtbar. Damit einher ging eine sehr zugespitzte Berichterstattung. Ich habe es für eine wehrhafte Demokratie als problematisch empfunden, dass in der Berichterstattung häufig Ostdeutsche mit Wählern einer in weiten Teilen rechtsextremen Partei gleichgesetzt wurden. So ist die Idee zur Initiative entstanden, um Menschen und Geschichten sichtbar zu machen, die oft im Diskurs nicht vorkommen. „Wir sind der Osten“ ist also auch ein konstruktives Projekt. Der Name „Wir sind der Osten“ ist dabei augenzwinkernd gemeint, denn „den Osten“ gibt es nicht. Wir zeigen, wie vielfältig Region und Menschen sind.

Inwiefern fehlt Ihnen da etwas in der Berichterstattung oder Diskussion?

Mittlerweile gibt es in allen großen Medienhäusern Redaktionen, die sich mit konstruktivem Journalismus befassen. Das war lange Zeit anders. Auch wenn sich Medien oft als Korrektiv verstanden haben, wurde häufig einseitig berichtet, wenn es um das Thema Ostdeutschland geht. Das Westdeutsche wurde als Norm, das Ostdeutsche als erklärungsbedürftiger Teil beschrieben. Sichtbar wurde das zum Beispiel, wenn der westdeutsche Chefredakteur nur zu Wahlen in ein ostdeutsches Bundesland gefahren ist, um zu schauen, was die da machen. Da ist es kaum verwunderlich, dass sich viele Ostdeutsche in der Berichterstattung nicht wiedergefunden haben. Damit ist Vertrauen in Medien verloren gegangen und das ist auch ein Problem für die Demokratie. Es ist wichtig, dass wir genau hinschauen und mit vielfältigen Perspektiven Menschen eine Stimme geben, anstatt Vorurteile zu replizieren.

Ich sehe mich vor allem als Mecklenburgerin, als Norddeutsche, als Europäerin.

Gibt es für Sie einen Start- oder Wendepunkt, an dem sich in der Wahrnehmung der Ostdeutschen etwas verändert hat?

Ich freue mich eher über die vielen kleinen positiven Beispiele und Veränderungen. Gleichzeitig gibt es noch Hemmungen, Vorurteile, die viele in sich tragen, zu hinterfragen. Viele Menschen, die westdeutsch sozialisiert sind, sagen: „Können wir jetzt nicht mal aufhören, darüber zu reden? Irgendwann muss auch mal Schluss sein.“ Dabei ignorieren sie die historisch gewachsenen strukturellen Unterschiede, die eine Ursache für viele aktuelle Herausforderungen sind. Viele haben das Bild im Kopf, sie hätten die Ostdeutschen befreit, ihnen den Soli gegeben und jetzt würden diese nur jammern und rechtsextrem wählen. Sie erkennen nicht, dass es sich um fest verankerte Vorurteile handelt, die historischen Fakten zum Teil widersprechen. Westdeutsche haben ebenso von der Wiedervereinigung profitiert wie Ostdeutsche. So ist der DDR-Staatsbesitz zu 95 Prozent an westdeutsche oder ausländische Investoren gegangen. Um qualifizierte Arbeit zu finden, haben viele gut ausgebildete Menschen seit der Wiedervereinigung die ostdeutsche Region verlassen.

Welche Entwicklungen und Trends z. B. in der Besetzung von Schlüsselpositionen durch Ostdeutsche nehmen Sie wahr?

Nach wie vor sind Ostdeutsche in Führungspositionen mit zehn Prozent unterrepräsentiert bei einem Bevölkerungsanteil von rund 20 Prozent. Spitzenpositionen wurden nach der Wiedervereinigung aus guten Gründen neu besetzt. Allerdings hat man nicht daran gedacht, dass sich Eliten aus Eliten rekrutieren. Hier hätte es beispielsweise die Möglichkeit der Doppelspitzen gegeben. Heute können wir über eine Diversitätsquote nachdenken, die verschiedene marginalisierte Gruppen berücksichtigt. Diversität bedeutet auch, Ostdeutsche einzubeziehen, was oft vergessen wird.

Mit dem Wissen von heute: Welche Entscheidungen hätte man in der Wende- und Nachwendezeit besser nicht oder anders getroffen?

Bürgerrechtler haben sich damals überlegt, dass wir eine Treuhandgesellschaft brauchen, die darauf achtet, dass DDR- Bürger am Staatseigentum beteiligt werden. Im entsprechenden Gesetz gab es die Treuhandgesellschaft, aber die Beteiligung der DDR-Bürger wurde nicht mitgedacht. Bei der Vermögensungleichheit erkennt man noch heute den Ost-West-Unterschied. Zur Behebung gibt es Instrumente wie eine Vermögenssteuer oder ein Grunderbe. Außerdem wurden Menschen ihre Lebensleistungen abgesprochen. Alles, was aus der DDR kam, wurde angezweifelt. Polikliniken wurden abgeschafft und später als Ärztehäuser wieder aufgebaut. Man hätte auch mit Blick auf die Kinderbetreuung oder Frauenrechte voneinander lernen können. Ich glaube, wenn aus der ersten Reihe der Politik Eingeständnisse kommen würden, was schiefgelaufen ist oder anders hätte gelöst werden können, würden viele Menschen überhaupt erst über ihre Vorurteile nachdenken. Das hätte eine große Strahlkraft.

Es ist das Jahr 34 der deutschen Wiedervereinigung. Wie fühlen Sie sich: europäisch, ostdeutsch, deutsch oder gar nichts davon?

Ich sehe mich vor allem als Mecklenburgerin, als Norddeutsche, als Europäerin. Für mich persönlich war die Unterscheidung in Ost und West lange kein Thema. Das geht vielen jüngeren Generationen so. Trotzdem sind es noch überraschend viele junge Menschen, die sich – obwohl sie nach der Wiedervereinigung geboren wurden – als ostdeutsch bezeichnen. Wenn wir aktuelle Herausforderungen stärker als gesamtdeutsche Herausforderungen begreifen, kann sich das ändern.

Ostdeutsche haben wegen ihrer Transformationserfahrung großes Potenzial, die aktuellen Veränderungen mitzugestalten.

Wie blicken Sie auf das Erstarken rechtspopulistischer, teilweise sogar rechtsextremer Parteien wie der AfD in Ostdeutschland und Ihrer alten Heimat?

Es gibt aktuell einen großen Wunsch nach schnellen Lösungen, aber eine Kampagne oder Aktion kann nicht das wettmachen, was 34 Jahre lang ignoriert wurde. Weltweit erstarken rechtsextreme Parteien. Damit sie in Ostdeutschland nicht zu einem echten Problem werden, müssen wir strukturelle Benachteiligung verstehen und Lösungen implementieren, die diesen langfristig entgegenwirken. Außerdem ist es wichtig, die Potenziale der ostdeutschen Region sichtbar zu machen. Große Tech- und Zukunftsunternehmen siedeln sich an. Ökonomen erwarten hohe Wachstumsraten. Wenn das auch medial häufiger abgebildet wird, werden mehr Menschen Ostdeutschland als Chancenregion verstehen und weniger populistischen Lügen auf den Leim gehen.

Beruht das Erstarken der AfD allein auf der Hinwendung zum Konservativen oder steckt eine echte Überzeugung dahinter?

Rund acht Prozent haben laut der Mitte-Studien ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild. Wenn aktuell rund 36 Prozent der Menschen in Thüringen sagen, sie würden die AfD in den Landtag wählen, dann sollte man sich die Frage stellen, woran das liegt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele zeigen sich unzufrieden mit der Politik der Regierung. In Ostdeutschland zeigt sich vielleicht auch verstärkt die weltweite Krise des Mannes, der eine Art von Zerrissenheit erlebt. Wenn wir auf Deutschland schauen, dann müssen wir anerkennen, dass es eher ostdeutsche Männer sind, denen ein negativeres Bild anhaftet und die im Vergleich zu Frauen in Sachen Führungspositionen und Löhne größere Hürden haben. Es ist wichtig, dass wir Männern diese Form der Benachteiligung nicht absprechen, sondern Räume für Austausch und Lösungen schaffen. Wenn aber nur misogyne Ratgeber oder rechtsextreme Parteien das Auffangen, ist das ein Problem.

Wie schauen Sie auf die aktuell stattfindenden Demokratiebewegungen?

Es ist großartig zu sehen, wie viele Menschen sich aktuell für die Demokratie stark machen. Denn natürlich ist es etwas anderes, in Bautzen auf die Straße zu gehen als in Berlin. In bestimmten Regionen ist es durchaus gefährlich, sich zivilgesellschaftlich zu organisieren. Umso wichtiger, dass die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland stärker wird und sichere Räume für Austausch geschaffen werden. Immer mehr Menschen verstehen, dass man sich engagieren muss, um zu verändern und zu gestalten. Das geht in Vereinen, aber auch in Parteien oder mit Social-Media-Kanälen. Ich würde mir wünschen, dass diese positive Entwicklung mehr erkannt und finanziell unterstützt wird. Denn im Vergleich zu westdeutschen Akteuren fehlt es vielen Organisationen vor Ort an Geld.

Was ist Ihre Vision für Ostdeutschland?

Es gibt in Ostdeutschland bereits gelebte Potenziale, beispiels- weise viele Unternehmen, die sich engagieren, oder Freiräume für Künstler*innen. Zudem sehe ich Ostdeutschland in einer besonderen Rolle bei der Bewältigung von Zukunftsthemen. Ostdeutsche haben wegen ihrer Transformationserfahrung großes Potenzial, die aktuellen Veränderungen mitzugestalten. Wenn mehr Menschen in Führungspositionen dieses Potenzial erkennen, profitieren wir alle. Mit Blick auf die Energiewende oder Zukunftsunternehmen ist Ostdeutschland bereits gut aufgestellt. Wir müssen mehr über diese Potenziale sprechen, damit Menschen sie auch wahrnehmen. Zugleich auch Vorurteile reflektieren, um besser gemeinsam an Lösungen arbeiten zu können.

Melanie Stein ist Journalistin, Moderatorin und Host für TV-, Online-, Radio- und Podcast-Formate. Geboren in Brandenburg und aufgewachsen in Mecklenburg, studierte Melanie Stein Psychologie und befasst sich seit ihrem Volontariat beim NDR mit konstruktivem Journalismus. Sie ist Gründerin der Initiative „Wir sind der Osten“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen in und aus Ostdeutschland sichtbar zu machen. Die Initiative wurde unter anderem mit dem Einheitspreis der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet.

Bildnachweis © Laurin Schmid