Auch zehn Jahre nach seinem Outing setzt sich Thomas Hitzlsperger nimmermüde für die Enttabuisierung von Homosexualität im Profisport ein. Wir sprechen mit ihm über Diversitätsbekenntnisse im Fußball, Sportswashing und das komplexe Verhältnis von Fans und Vereinen in der Bundesliga.

Seit Ihrem Outing sind zehn Jahre vergangen. Dennoch gab es seitdem kaum Outings von aktiven Spielern – in Deutschland keines. Wieso hinkt der Profisport hinterher?

Oft klingt ein Vorwurf mit, dass die Vereine nicht genug machen würden. Aber die Clubs sind schon sehr weit. Sie bekennen sich zu Vielfalt. Sie positionieren sich klar, wenn es darum geht, gegen Diskriminierung zu sein. Nur kann man niemanden zwingen, sich zu outen. Obwohl sich so viel zum Positiven geändert hat, ist dieser persönliche Schritt noch zu groß für die Betroffenen. Auch die Vielzahl von ehemaligen Fußballprofis traut sich nicht. Das finde ich bemerkenswert, denn die Zahl der homosexuellen Ex-Fußballer ist viel größer als die der Aktiven. Da denke ich mir nur, die Angst muss schon echt groß sein – und das vor allen Dingen lebenslang.

Wieso ist das beim Frauenfußball anders? Was kann der Männerfußball hier lernen?

Das Schöne beim Frauenfußball ist, dass man sich mit solchen Debatten nicht herumschlagen muss. Aber Frauenfußball und Männerfußball zu vergleichen, ist nicht immer hilfreich und auch nicht zielführend. Ich kann nur getrennt voneinander berichten: Frauenfußball hat mit sexueller Orientierung kein Problem. Das ist wunderbar! Beim Männerfußball sieht es historisch bedingt anders aus. Aber ich sehe einzelne Bereiche, wo es besser wird: in der Berichterstattung darüber, in der Positionierung der Vereine und Verbände, Stadien werden in Regenbogenfarben beleuchtet, Spieler laufen mit Kapitänsbinden in Regenbogenfarben auf. Die Symbolik hat enorm zugenommen, aber der letzte Schritt, auf den viele warten, nämlich auf das Coming-out von einem oder mehreren Bundesligaspielern, der ist bisher ausgeblieben.

Denken Sie, dass heterosexuelle Fußballer dazu beitragen können, das Eis zu brechen, indem sie zeigen, dass es nicht immer um Stärke und Härte gehen muss?

Wenn es keine sichtbaren schwulen Fußballer gibt, dann glauben manche Menschen auch, dass Homosexualität und Profifußball nicht zusammenpassen. Also muss man ein Gesicht dazu haben, noch besser mehrere Gesichter und Geschichten. Es gibt einige Spieler, wie zum Beispiel Fabian Reese von Hertha BSC, die das vermitteln: Ich möchte ein super Fußballer sein, aber ich kann auch Vorurteile abbauen. Ich kann ein Schubladendenken verändern, denn ich habe andere Interessen als die, die man Fußballern zuschreibt. Aus diesem Schema auszubrechen, hilft, um das Bild von Fußballern in der öffentlichen Wahrnehmung zu verändern. Ich bin froh um jeden, der hilft, diese Vorurteile abzubauen.

Auf das schwere Thema Menschenrechte und Sportswashing haben viele dann nicht mehr so Lust.

Im Profifußball besteht enormer Erfolgsdruck. Inwiefern spielt das eine Rolle dabei, dass dieser letzte Schritt zum Outing als so hohe Hürde wahrgenommen wird?

Zuerst einmal: Alle Spieler, die es bis an die Spitze der Bundesliga, zweiten Liga oder anderer Top-Ligen schaffen, sind in der Lage, mit Druck besser umzugehen als die meisten anderen. Es gibt Spieler, die ziehen daraus brutale Kraft. Selbstverständlich gibt es auch Spieler, die damit Schwierigkeiten haben. Ich kann das nachempfinden, denn ich stand auch an diesem Punkt. Schlecht zu spielen, verletzt zu sein, ausgewechselt zu werden, das ist schmerzhaft. Natürlich erzeugt ein Coming-out kurzfristig Aufmerksamkeit. Wenn man durch seine sexuelle Orientierung heraussticht, ist das noch ein zusätzliches Element. Davon muss man dann versuchen, sich zu lösen, und sich sagen: Ich bin ein Fußballer wie alle anderen auch und fokussiere mich auf meine Leistung.

Blicken wir einmal auf die gesellschaftliche Sprengkraft des Fußballs. In Deutschland haben Fans in vielen Stadien wochenlang gegen die Entscheidung der Deutschen Fußball Liga protestiert, Anteile an Investoren zu verkaufen – mit Erfolg. Welche Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen Fans, Vereinen und der Fußball-Liga nehmen Sie mit?

Ich kann nicht erklären, warum mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Einerseits gibt es heftige Proteste und Spielunterbrechungen wegen eines Investors bei der DFL, andererseits werden die Ausnahmen bei Clubs wie Hoffenheim, Wolfsburg und Leverkusen geduldet. In Deutschland geht es uns grundsätzlich sehr gut, wir verteidigen die Demokratie. Die Fans werden gehört und wenn nicht, dann können sie das durch Protest zum Ausdruck bringen. Für einen Verein in so einer Struktur die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist jedoch schwierig. Weil die Bundesliga nicht mehr mit gleichen Bedingungen spielt. Die Clubs, die dort teilnehmen, haben alle unterschiedliche Voraussetzungen. Das ist meines Erachtens unfair und deswegen ist es kein Vergnügen, mit dieser Ungleichheit zu leben und trotzdem Erfolg versprechen zu wollen. Denn die Fans wollen Erfolg, sie wollen aber auch soziale Verantwortung, sie wollen Diversität, sie wollen soziale Nachhaltigkeit. Solange der Erfolg da ist, geraten andere Themen in den Hintergrund. Aber bleibt der Erfolg aus, dann kommen diese Debatten wieder an die Oberfläche.

Kurz vor dem Start der vergangenen WM 2022 in Qatar haben Sie in einem Interview gesagt: „Ich habe eine kritische Haltung zur FIFA, ich habe eine kritische Haltung zum Gastgeberland. Ich lasse es aber nicht zu, dass Qatar und die FIFA meine Fußball-Leidenschaft abtöten.“ Nun stehen wir mit der voraussichtlichen Vergabe der WM 2034 an Saudi-Arabien vor ähnlichen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Was muss sich ändern, damit Sie in zwölf Jahren nicht mit derselben Aussage zitiert werden?

Die FIFA hat das schon gut hinbekommen, den Sport global so zu vermarkten, dass wirklich in den letzten Ecken dieser Welt Fußball gespielt wird. Auch für Staaten ist es relevant geworden, dieses Beliebtheitsimage für sich zu nutzen. Insgesamt ist es brutal, dass der Kapitalismus sich in den Fußball hineingefräst hat und entscheidend ist, wer das meiste Geld bezahlt. Und die Leute strömen in Massen dorthin, weil sie Fußball cool finden. Der Begriff dafür nennt sich Sportswashing. Ich persönlich erlebe das auch: Immer dann, wenn ich im Fußballkontext öffentlich präsent bin, wollen die Leute unterhalten werden. Auf das schwere Thema Menschenrechte und Sportswashing haben viele dann nicht mehr so große Lust. Mit diesen Widersprüchlichkeiten müssen die Verbände, die Ausrichter, die teilnehmenden Länder leben. Das ist tragisch und ich hadere damit: Wenn ich im Jahr 2034 die Weltmeisterschaft vor Ort schauen will, ist das vielleicht sogar gefährlich für mich. Aber dieses Hadern darf ich nicht zu oft öffentlich vor mir hertragen, sonst kommt das Positive im Sport zu kurz. Es ist kompliziert. Am Ende muss sich jeder die Frage stellen, wie viel Widersprüchlichkeit erträglich ist.

Vor zehn Jahren wusste ich noch nicht, wie es dann weitergehen wird und was alles passiert. Heute und jetzt geht es mir wirklich gut damit.

Eine Frage zum Abschluss im Hinblick auf persönliche Entscheidungen: Wie fühlen Sie sich zehn Jahre nach Ihrem Coming-out damit, dass Sie bei diesem Thema weiterhin so stark im Rampenlicht stehen? Und was wünschen Sie sich für die nächsten zehn Jahre?

Vor zehn Jahren wusste ich noch nicht, wie es dann weitergehen wird und was alles passiert. Heute und jetzt geht es mir wirklich gut damit. Mir ist so viel Schönes widerfahren: Leute, die mir begegnet sind und mir gedankt haben dafür, dass ich mich einsetze. Was in zehn Jahren ist, weiß ich nicht. Das gesamte gesellschaftliche Klima ist aktuell schon bedrückend. Wie wir reden, wie wir miteinander umgehen – da wird es immer lauter und aggressiver. Ich möchte mit gutem Beispiel vorangehen und nicht ausschließlich über meine sexuelle Orientierung reden. Wenn ich an dem Punkt bin, an dem ich meine Geschichte auserzählt habe, bin ich froh über neue Gesichter, die ihre Geschichte erzählen. Hoffentlich passiert das. Ich werde damit umgehen und dann meinen Weg gehen.

Thomas Hitzlsperger war als Fußballprofi in England, Deutschland und Italien aktiv. Er gewann 2007 die Deutsche Meisterschaft, erreichte mit der Nationalmannschaft bei der WM 2006 den dritten Platz und wurde 2008 Vizeeuropameister. Von Oktober 2019 bis März 2022 war Thomas Hitzlsperger Vorstandsvorsitzender des VfB Stuttgart, bei dem er vormals Sportvorstand, Direktor des Nachwuchsleistungszentrums sowie Mitglied des Präsidiums war – seit 2017 engagiert sich der 52-malige Nationalspieler als DFB-Botschafter für Vielfalt.

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