Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt blickt mit uns auf die Veränderung politischer Entscheidungsfindung in Krisenzeiten und den demokratischen Grundkonsens im Bundestag. Außerdem erläutert sie, was ihr mit Blick auf die komplexen Mehrheitsverhältnisse bei den anstehenden Landtagswahlen in ihrer Heimat Thüringen Zuversicht gibt.

Frau Göring-Eckardt, unser Magazin hat den Schwerpunkt „Entscheiden“ – wann und weshalb ist Ihnen zuletzt eine politische Entscheidung besonders schwergefallen?

Am schwersten fällt mir gerade, Dinge nicht entscheiden zu können. Ich denke dabei an die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen und die dafür erforderliche soziale Akzeptanz. Dabei gilt ja: Was wir jetzt fürs Klima auf den Weg bringen, kommt eigentlich zu spät, die Notwendigkeit des Gegensteuerns wird zwangsläufig immer radikaler werden – gerade für die mit wenig Geld und wenig Ausweichmöglichkeiten wird das Aufschieben zur echten Belastung. Deswegen hätte ich zum Beispiel gern schon längst über ein Klimageld entschieden, das einen Teil der Einnahmen aus dem CO2-Preis zurückgibt und so Erleichterung schafft.

Wie hat sich im Laufe Ihrer politischen Karriere die Entscheidungsfindung – ob aus Regierungs- oder Oppositionsperspektive – verändert? An welchen Variablen machen Sie das besonders fest?

Die Zeit, in der wir im Bundestag ein Problem bearbeiten konnten und dann das nächste, die ist vorbei. Wir leben in einer Zeit von Dauermehrfachkrisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Und sie kommen in immer kürzeren Abständen. Das verändert den Modus des Entscheidens, den Modus von Politik überhaupt. Das ist, glaube ich, spätestens im ersten Regierungsjahr der Ampelkoalition sehr deutlich geworden. Und das ist nicht nur eine Frage für Politik. Wir müssen als Gesellschaft eine neue Form von Widerstandskraft entwickeln, um darüber nicht aus der Puste zu kommen. Die zweite, ganz wesentliche Veränderung kommt durch politische Kräfte zustande, die die demokratische Entscheidungsfindung mit Populismus und Hass hintertreiben. Die Entscheidungen hinauszögern oder die Sachdebatte gezielt mit Falschinformationen unterwandern oder legitime Auskunftsrechte missbrauchen, um die Funktionsfähigkeit von Verwaltungen bewusst und mutwillig infrage zu stellen. Ganz rechts außen im Parlament hat das System.

Ein häufiger Vorwurf an die Ampelkoalition ist, dass sie ihre Entscheidungen unzureichend kommuniziert. Fehlt es der Konstellation an einer gemeinsamen Vision oder warum schafft sie es in zahlreichen Fällen nicht, einen Konsens zu finden?

Ich finde, die Ampelregierung schafft es häufiger, als man denkt, einen Konsens zu finden und auch durchzusetzen. Die Halbzeitbilanz der Bertelsmann-Stiftung fiel positiv aus: 38 Prozent der Vorhaben des Koalitionsvertrages waren demnach bereits erfüllt und weitere 26 Prozent sind in Arbeit. Das wird aber zu oft überdeckt von den Fällen, bei denen es hakt. Tatsächlich ist es ein Problem, wenn ein einmal gefundener Kompromiss immer wieder infrage gestellt oder aufgeschnürt wird. Das nervt. Und zwar nicht nur die Bürgerinnen und Bürger. Da können wir an der Performance noch arbeiten. Und ja, die Partner in der Koalition sind halt auch sehr unterschiedlich. Das macht es oft schon bei der Analyse nicht einfach.

Sie sind Thüringerin, haben Ihren Wahlkreis zwischen Erfurt und Weimar. In diesem Jahr finden in Thüringen, Brandenburg und Sachsen Landtagswahlen statt – wie blicken Sie auf diese Wahlen vor dem Hintergrund schwieriger Mehrheitsverhältnisse?

Unverzagt. Zunächst mit Blick auf die Demokratie: Wir sind in Ost- wie in Westdeutschland eine demokratische Mehrheit, die sich Freiheit, Demokratie und die offene Gesellschaft nicht streitig machen lässt. Die Mehrheit ist stark. Man sieht sie auf den Straßen, auch in ganz kleinen Orten: Das ist großartig. Unverzagt aber auch mit Blick auf meine Partei. Bündnisgrüne haben Programme und Personen, die Lösungen für Thüringen, für Brandenburg und für Sachsen bieten. Ich erlebe dafür gerade vermehrt Zuspruch, viele treten sogar in die Partei ein, weil sie mithelfen wollen, die Demokratie stark zu machen. Gerade in meiner Heimat Thüringen ist es entscheidend, dass Bündnisgrüne mit einem möglichst starken Ergebnis im Landtag vertreten sind. Das verhindert, dass der Faschist Höcke Macht bekommen könnte.

Wir sehen laut Umfragen in Teilen unserer Gesellschaft ein schwindendes Vertrauen in demokratische Entscheidungsfindung. Häufig wird dies mit einer mangelnden demokratischen Selbstwirksamkeitserfahrung begründet. Wie kann Politik und jede:r Einzelne hier entgegenwirken und das Vertrauen in Demokratie stärken?

Ich fürchte, dass es sich vielfach um ein Missverständnis von demokratischer Selbstwirksamkeit handelt, das lautet: Demokratie ist, wenn alles so läuft, wie ich es will. So funktioniert Demokratie aber nicht. Ich denke, das müssen wir thematisieren. Demokratie bedeutet Meinungsstreit, gemeinsames Ringen um beste Lösungen, möglichst viele Einzelinteressen einzubinden, bedeutet aber am Ende auch: mit Mehrheit entscheiden. Daran muss Politik, daran kann aber auch jede und jeder Einzelne erinnern und um Zustimmung dafür werben.

Was wünschen Sie sich von anderen handelnden Akteuren außerhalb der Politik bei der Verteidigung unserer demokratischen Grundwerte? Sie sagten zuletzt selbst: „Es stimmt, die Regierung muss liefern. Aber Kritik an der Bundesregierung kann keine Ausrede sein, eine Partei zu wählen, die unser freies Zusammenleben attackiert und sich nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen kümmert.“ Was fordern Sie konkret auch von der Wirtschaft?

Auch die Wirtschaft kann offensiv sagen, dass sie zur demokratischen Mehrheit gehört. In Thüringen gibt es beispielsweise die Initiative „Weltoffenes Thüringen“, in der sich Unternehmen, Organisationen und Einzelpersonen vernetzen, um für ein weltoffenes und vielfältiges Land einzustehen. Die machen deutlich: Wir brauchen eine vielfältige Belegschaft, einfach, um als Betrieb am Markt zu überleben. Abschottung und Rassismus sind ein Standortnachteil. Oder die sächsische Uhrenmanufaktur Nomos Glashütte, die ich vergangenen Sommer besucht habe: Die machen Demokratie- Workshops mit ihren Mitarbeitenden. Von solchen Ideen kann es nach meinem Geschmack gerne noch mehr geben.

Sie sind gerade in Ihrer dritten Periode Vizepräsidentin des Bundestags. In Ihrer Amtszeit von 2005 bis 2013 setzte sich der Bundestag aus vier bzw. fünf Fraktionen zusammen, heute sind acht Fraktionen und Gruppen vertreten. Inwiefern hat sich dadurch der Parlamentsalltag und damit auch Ihre Rolle verändert?

Die Anzahl der Fraktionen macht natürlich einen Unterschied. Je weniger Fraktionen, desto leichter ist meist die Mehrheitsbildung. Vielfältiger aber ist es, wenn es mehr Fraktionen gibt. Viel wichtiger als die Anzahl ist aber, ob die Fraktionen demokratisch konstruktiv arbeiten oder nicht. Wenn demokratisch gewählte Abgeordnete versuchen, demokratische Strukturen zu hintertreiben und auszuhebeln, dann verändert das die parlamentarische Arbeit fundamental. Dann muss der demokratische Grundkonsens mitten im Parlament verteidigt werden, und zwar in jeder Sitzung. Das ist auch mein Job als Vizepräsidentin. Die Zwischenrufe sind derber geworden, sie gehen häufiger unter die Gürtellinie. Und die Zahl der Ordnungsrufe und Ordnungsgelder, die wir im Präsidium verhängen mussten, spricht für sich: Nie waren es so viele, seitdem die AfD im Bundestag sitzt.

Und zum Abschluss noch eine eher private Frage an die gläubige Protestantin: Glaube war in der Vergangenheit häufig auch der Kitt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Welche Entscheidungen müsste die Kirche in Deutschland treffen, um weiterhin ein relevanter gesellschaftlicher Teil zu sein und zu bleiben? Wie wirkt sie auch dem Vertrauens- und Glaubensverlust entgegen?

Aktuell müssen die evangelischen Kirchen sich um eine glaubwürdige Aufarbeitung von sexueller Gewalt in ihrer Mitte mühen. Sie müssen vergangenes Unrecht aufarbeiten und vor allem Strukturen schaffen, die neues Unrecht möglichst verhindern. Da ist erschütternd viel versäumt worden. Das ist anspruchsvoll. Aber es ist den Schweiß der Frommen wert. Und dabei muss Kirche sich auf genau diese Stärke besinnen, die Sie gerade „Kitt der Gesellschaft“ genannt haben: Kirche kann Raum für Gemeinschaft sein. Wir brauchen doch aktuell wieder eher mehr als weniger solcher Orte, die Raum für Miteinander bieten, ohne Konsumzwang, ohne Erklärzwang. Und wenn das gelingt, dann hat es gesellschaftliche Relevanz. Denn es wirkt gegen Vereinzelung, gegen den Rückzug in die eigene Blase, gegen Einsamkeit. Vor allem aber hat sie etwas Wunderbares, das sie weitergeben kann, nämlich Trost. Und der ist in den aufreibenden Zeiten und für aufgeriebene Seelen Anker und Kraftquelle.

Katrin Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. 1998 zog sie als ostdeutsche Abgeordnete in das Parlament ein. Für Bündnis 90/Die Grünen war sie bereits Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende. Die gebürtige Thüringerin war 1989 Teil der friedlichen Revolution in der DDR. Geprägt von dieser Erfahrung setzt sie sich heute für Demokratie und Freiheit und ein besseres Verständnis zwischen Ost und West ein. Sie ist in der Evangelischen Kirche aktiv, lebt in einer Patchworkfamilie und ist Großmutter

Bildnachweis © Laurence-Chaperon