Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat alles verändert, auch für Ljudmyla Melnyk und Moritz Gathmann. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Europäische Politik und der Chefreporter des Cicero erzählen, wie die Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 ihr persönliches und professionelles Leben beeinflusst haben. Es geht um Journalismus und Social Media im Krieg, sicherheitspolitische Analysen und die bewundernswerte Fähigkeit vieler Menschen in der Ukraine, im Jetzt zu leben.

Welcher Moment aus der Zeit seit dem 24. Februar 2022 wird Ihnen am meisten in Erinnerung bleiben?

Ljudmyla Melnyk: Der einzige Moment, der bleibt, ist der 24. Februar. Alles, was danach kommt, ist eher abstrakt. Ganz früh am Morgen bekam ich eine SMS von einem Arbeitskollegen, dass Russland den Krieg begonnen hat. Ich werde dieses Gefühl nicht vergessen, als ich die SMS las. Du liest jedes Wort, jeden Buchstaben und verstehst, dass die Nachricht irgendwann endet und du dann in der neuen Realität landest. Und ich hatte das Gefühl, ich habe noch nie in meinem Leben eine Nachricht so langsam gelesen, um das Ende von mir wegzuschieben. In der Ukraine sagt man mit Blick auf den Krieg: почалося (pochalosya) – es ist losgegangen. Und dann kam das nächste Gefühl: Der Krieg ist nicht mehr zu stoppen. Die Komplexität dieses Konfliktes, der die ganze Weltordnung ändern wird, hat mich überwältigt. 

Moritz Gathmann: Auch bei mir ist es der 24. Februar 2022. Ich war in Kramatorsk im Osten der Ukraine. Am Vorabend gab es noch eine Demonstration, die ukrainischen Bürger wollten untermauern, dass diese Stadt der Ukraine gehört. Wir saßen mit Kollegen zusammen und hatten mögliche Szenarien diskutiert. Niemand konnte sich vorstellen, dass es wirklich zu einem groß angelegten Angriff auf die Ukraine kommen würde. Um fünf Uhr morgens habe ich einen Einschlag gehört und dachte, dass ich geträumt habe. Dann kam direkt ein zweiter hinterher. Das waren Raketen, die einen Militärflugplatz bei Kramatorsk getroffen hatten. In diesem Moment hat eine Zeitenwende stattgefunden. Ab da habe ich nüchterner auf die gesamte Welt- und Außenpolitik geblickt. In Deutschland ging man lange davon aus, dass es zu keinem Krieg kommt. Aber Putin hat ihn trotzdem begonnen. 

Seit dieser Zeit in Kramatorsk waren Sie viele weitere Male in der Ukraine. Was hat das mit Ihnen persönlich gemacht?

Gathmann: Auf persönlicher Ebene war es gut, dass ich vieles bereits im Jahr 2014 mitbekommen hatte. Ich habe die Proteste auf dem Maidan hautnah erlebt, die Schießereien, die Toten und schließlich den Krieg im Donbass in der Ostukraine. Damals hatte ich große Probleme, die beiden Lebenswelten – meine deutsche und die ukrainische – zusammenzubringen. Es gibt eine Geschichte, die mir immer im Kopf bleiben wird: Im Februar 2014 war ich im Hotel Ukraina, direkt am Maidan. Als ich gerade aus dem Fenster auf den Platz schaute, schlug die Kugel eines Scharfschützen über mir ein. Um Schutz zu suchen, warf ich mich auf den Boden meines Hotelzimmers. Keine zehn Minuten später klingelte mein Telefon und es war ein Vater aus der Kita meiner Kinder dran. Er sagte, dass nächste Woche Fasching sei und er mit mir über die Dekoration sprechen wolle. Das war ein Moment, in dem diese beiden Welten in ihrer Unmöglichkeit aufeinanderprallten.

Wie blicken Sie persönlich als Ukrainerin auf diesen Krieg? 

Melnyk: Ich bin fest davon ausgegangen, dass keiner die Unabhängigkeit der Ukraine in Frage stellen würde und es ein abgeschlossener Prozess ist. Mir war nicht klar, dass meine Generation im 21. Jahrhundert wieder für einen unabhängigen Staat würde kämpfen müssen. Wir sind jetzt eine Kriegsgeneration und werden wohl auch zu einer Aufbaugeneration. Das wird unser Leben prägen. Ich würde mir manchmal wünschen, dass wir uns nur mit innenpolitischen Debatten in der Ukraine auseinandersetzen müssten. Aber das ist nicht mehr die Realität. Was ich persönlich merke: Ich kann mein Leben nicht so planen, wie ich es früher gemacht habe. Wenn man dies mit der Pandemie vergleicht, dann wusste jeder, dass diese in absehbarer Zeit vorbei sein wird. Hier weiß man nicht, wann der Krieg zu Ende gehen wird. Man hat mir und allen Ukrainer:innen das Recht genommen, das Leben so zu planen, wie wir es uns wünschen. Ganz zu schweigen davon, dass der russische Krieg viel Leid mit sich gebracht hat.

Sie sagen, dass Sie sich jetzt erst bewusst sind, dass für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft werden muss. Was ist der Unterschied – verglichen mit 2014? 

Melnyk: 2014 war das nicht so stark ausgeprägt. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass Wladimir Putin es sich zum Ziel setzen wird, den ganzen Staat zu zerstören. Aber jetzt ist es anders. Eine Kollegin hat das gut zum Ausdruck gebracht, indem sie sagte: „Am 24. Februar hatte ich das Gefühl, ich bin zum Ziel geworden.“ 

Durch die sozialen Medien sind wir dem Krieg in der Ukraine so nah wie nie. Welche Rolle spielen soziale Medien bei Ihrer Arbeit und wie unterscheiden Sie Wahres von Falschem?

Gathmann: Um Informationen von vor Ort zu bekommen, nutze ich vor allem Telegram. Sowohl die Ukraine als Russland setzen soziale Medien gezielt ein. Wenn dort Erfolgsmeldungen geteilt werden, muss man mindestens 24 Stunden warten, um ein ausgereiftes Bild der Gesamtsituation zu bekommen. Denn es werden vor allem Erfolgsmeldungen der ukrainischen oder russischen Seite verbreitet. Man hat das Gefühl, in Echtzeit dabei zu sein, allerdings bekommt man kein Echtzeitbild der Lage. Was ich vorher noch nie so erlebt habe, ist, dass in den sozialen Medien Bilder und Videos aus den Kämpfen geteilt werden. Dafür tragen Soldaten GoPro-Kameras an den Helmen oder es kommen Drohnen zum Einsatz. Blogger produzieren und schneiden die kurzen Videos sehr aufwendig. Man sieht dann zum Beispiel, wie eine ukrainische Einheit den Schützengraben der Russen stürmt, das Ganze mit Musik untermalt. Ich kann mich nicht erinnern, dass es sowas vorher schon gab. Das hat eine emotionalisierende Wirkung, der nachrichtliche Wert ist jedoch gering. Davon muss man sich als Journalist distanzieren.

Hat sich der Journalismus durch den Krieg verändert? 

Gathmann: Die Journalisten, die ich kenne und die aus der Ukraine berichten, sind meist Historiker und Politikwissenschaftler. Einzelne waren bei der Bundeswehr. Aber für den Großteil waren die Themen Verteidigung und Militäreinsätze neu. Neben der inhaltlichen Expertise gibt es einen weiteren Aspekt: Die deutschen Journalisten stehen auf Seiten der Ukraine. Die Situation ist klar: Russland hat die Ukraine angegriffen. Viele haben den Beginn des Krieges dort erlebt und haben das Leid gesehen. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Wir brauchen eine gewisse Distanz zum Objekt, über das wir berichten. Wenn Dinge passieren, die eher negativ für die Ukraine sind, beispielsweise Tötungen russischer Kriegsgefangener durch Ukrainer, dann steht man vor einem Problem. Wenn ich darüber berichte, kann es der ukrainischen Seite schaden. Prorussische Blogger greifen das Thema auf und nutzen es für ihre Propaganda. Aber als Journalist muss man so etwas veröffentlichen. Am Ende kommt es trotzdem ans Licht und dann ist es vielleicht noch problematischer. Deswegen ist es unsere Aufgabe, die Lage seriös einzuordnen.

Melnyk: Der große Unterschied zu 2014 ist, dass es keine Grautöne mehr gibt. Damals war man in Deutschland lange nicht in der Lage, zu sagen, wer der Aggressor ist. Ist das ein innenpolitischer Konflikt? Oder einer, der von außen initiiert wurde? Seit dem 24. Februar 2022 gibt es diese Grautöne nicht mehr – und das hilft bei der Einordnung. Bei den von Moritz Gathmann angesprochenen Tötungen russischer Kriegsgefangener muss man sich fragen: Ist das eine systematische Herangehensweise oder sind es Einzelfälle? Und das ist ein großer Unterschied. Ich glaube, dass Journalisten genau diese Einordnung leisten müssen. Es ist allerdings zu bedenken, dass den meisten deutschen Journalisten in der Ukraine die regionale Expertise fehlt. Die ARD macht nun ihr Büro in Kyjiw auf und wird nicht mehr, wie das früher bei großen deutschen Sendern der Fall war, aus Moskau oder Warschau über die Ukraine berichten. Das ist ein immenser Schritt nach vorne. 

Gathmann: Das stimmt. Ich war vor 2014 ein paar Mal in der Ukraine. Die meisten Journalisten kamen aus Moskau und hatten die russische und damit die kolonialistische Perspektive auf die Ukraine. Die Ukraine, der kleine Bruder Russlands. 2014 war aber die Situation unklarer als heute.
Man hat keine russischen Soldaten gesehen, die auf Panzern eingerückt sind und das Land eingenommen haben. Es war eine unübersichtliche Situation.

Sie haben gesagt, die regionale Expertise war 2014 in der sicherheitspolitischen Debatte nicht da. Hat sich das geändert?

Melnyk: Ja. Sicherheitspolitische Analysen kommen nicht mehr ohne regionale Erkenntnisse aus. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, die Machtverhältnisse zwischen einflussreichen Staaten zu analysieren, sondern zu verstehen, wie sich die Entwicklungen vor Ort auf die sicherheitspolitische Lage in der ganzen Welt auswirken. Das wird zunehmend Teil der Debatte. Doch man muss bei einer Sache aufpassen: Russland versucht, die Existenz der Ukraine zu vernichten. Wenn man sagt, Russland führt Krieg gegen den Westen, dann marginalisiert man die Ukraine und die Menschen, die dort leben, nimmt ihnen ihre Souveränität als Akteur weg. Man muss sich bei sicherheitspolitischen Analysen immer fragen, wie die Gesellschaft vor Ort denkt. 

Der Bundeskanzler hat der Ukraine am 27. Februar 2022 seine volle Solidarität bekundet. Wie bewerten Sie die Rolle Deutschlands in dieser Zeit?

Gathmann: Ich fand das sehr beeindruckend von Olaf Scholz. Die Rede war richtig. Leider hatte man danach über Monate das Gefühl, dass die Bundesregierung bei militärischen Hilfen zögerlich war. Sie verwies darauf, dass man sich mit den Partnern abstimme. Ich hätte erwartet, dass Deutschland einen Schritt vorangeht und nicht abwartet. Und das ist auch in der Ukraine so angekommen. Nach einigen Monaten hat es sich verändert. Auch wenn Deutschland keine Führungsrolle übernommen hat, hat die Bundesregierung zumindest bei den militärischen Hilfen weniger Zurückhaltung an den Tag gelegt. Die Gepard-Lieferung war sehr wichtig für den konkreten Schutz ukrainischer Städte vor russischen Raketen. Das war auch für die Stimmung in der Ukraine ein Wendepunkt. Die Ukrainer konnten mit den Deutschen ihren Frieden schließen.

Melnyk: Ich glaube, Deutschland erlebt in seiner Außenpolitik eine Zeitenwende. Die Außenpolitik soll nicht nur wirtschaftlichen Interessen dienen oder Entwicklungspolitik betreiben, sondern auch die militärische Dimension und die Wahrnehmung eigener geopolitischer Verantwortung werden ein integraler Bestandteil – auch wenn sich Deutschland damit schwertut.

Stichwort Solidarität: Wie bewerten Sie die Manifeste, die zu Frieden und Verzicht auf Waffenlieferungen aufrufen? 

Melnyk: Für mich sind diese Manifeste Ausdruck der Arroganz und mangelnder Ukraine- bzw. Osteuropaexpertise. Damit spricht man Ländern wie der Ukraine das Recht ab, unabhängig über ihre Zukunft zu entscheiden. Die Menschen, die diese Manifeste initiieren, glauben, dass der Krieg zwischen Russland und dem Westen ausgetragen wird. Aber das Kräftemessen findet zwischen der Ukraine und Russland statt. Der Ausgang dieses Konfliktes wird die Zukunft der beiden Länder und der internationalen Ordnung bestimmen. 

Gathmann: Der Osten Europas ist für die meisten Deutschen noch immer Terra incognita. Und das ist ein Grund dafür, weshalb sich viele Deutsche nicht so richtig ins Thema reindenken können.

Auch wenn es mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine schwerfällt: Was gibt Ihnen in der heutigen Zeit Zuversicht? 

Melnyk: Das ist an erster Stelle die Resilienz der ukrainischen Gesellschaft. Außerdem erheben heute – anders als 2014 – viele Menschen ihre Stimme, darunter auch in Deutschland, und prägen die Diskussionen. Es geht um die Deutungshoheit und wir dürfen nicht schweigen. Gleichzeitig bin ich mir auch bewusst, dass die Unterstützung seitens der EU und der USA für die Ukraine immens wichtig ist. Ohne sie wird es für die Ukraine schwierig sein, auf Dauer diesen Widerstand zu leisten.

Gathmann: Ich erinnere ich mich an den September 2022 in Saporischschja. Dort ist die Front 30 Kilometer entfernt. Jeden Morgen schlugen Raketen ein. Gleichzeitig war goldener Herbst. Die Menschen waren in Restaurants und haben ihr Leben weitergelebt. Ganz nach dem Motto: Carpe diem. Die Ukrainer investieren jetzt nicht in eine neue Küche oder eine neue Wohnung. Sie wissen, dass das innerhalb einer Sekunde weg sein kann. Sie leben im Jetzt. Das fand ich sehr beeindruckend. Trotz aller Probleme versuchen sie, das Land am Leben zu halten – und Putin die Stirn zu bieten.

Das Gespräch führten Marian Bracht und Antonia Meyer.

Ljudmyla Melnyk wurde 1985 in Shostka in der Nordost-Ukraine geboren – unweit der Grenzen zu Russland und Belarus – und wuchs im Nordwesten der Ukraine auf. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Ukraineexpertin am Institut für Europäische Politik in Berlin. Melnyk leitet dort u. a. das „German-Ukrainian Researchers Network“ (GURN) und „ReLoaD – Research on Local Governance and Decentralisation“. Darüber hinaus ist sie Moderatorin des Podcasts „UkraineMEMO“.

Moritz Gathmann ist Chefreporter beim Magazin Cicero in Berlin. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs war er in der Ukraine und berichtet seitdem regelmäßig von vor Ort. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und ist heute gefragter Experte für Russland, die Ukraine und den Kaukasus. Vor seiner Zeit beim Cicero war Gathmann von 2008 bis 2013 als freier Journalist in Russland und berichtete dort u. a. für die FAZ. 2014/2015 berichtete er u. a. für den SPIEGEL aus der Ukraine. 

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