Norbert Lammert wirft mit uns einen Blick auf die Veränderungen, aber auch die Beständigkeiten der politischen Debattenkultur, auf die Herausforderungen bei der Vermittlung von Fakten und die Bedeutung von Widerspruch für die Akzeptanz von Entscheidungen.

Herr Lammert, bei Ihrem Start als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) sagten Sie, dass Sie Grundsatzfragen und langfristige Entwicklungen noch mehr interessieren als tagesaktuelle Fragen. Welchen langfristigen Entwicklungen müssen wir uns aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren widmen?

Was die großen Themen sind oder waren, weiß man leider ganz verlässlich erst mit einigem zeitlichen Abstand, weil wir ja gerade auch in der jüngeren Vergangenheit die ernüchternde Erfahrung gemacht haben, dass über alle Agenden hinaus Entwicklungen eintreten können, die in niemandes Programmplanung vorgesehen waren. Absehbar ist, dass uns die Transformation der Industriegesellschaft in Europa und Deutschland weiter beschäftigen wird, unter dem besonderen Gesichtspunkt eines inzwischen begriffenen, aber keineswegs bewältigten Klimawandels, den damit verbundenen fundamentalen Veränderungen unserer Energieversorgung sowie den sich daraus wiederum ergebenden Verteilungsproblemen, was die finanzielle Belastbarkeit von Unternehmen, Personen und Haushalten angeht. Wir befinden uns mitten im größten Veränderungsprozess der Kommunikation, den es vermutlich seit der Erfindung des Buchdrucks gegeben hat, wo die durch digitalisierten Datenaustausch ermöglichten neuen Beteiligungsoptionen durch die allerjüngste Entwicklung von Künstlicher Intelligenz gekennzeichnet sind. Darüber hinaus werden wir vermutlich noch auf Jahre hinaus, wenn nicht dauerhaft, mit Migration zu tun haben, bei der sich längst nicht mehr nur die Frage stellt, ob sie stattfindet, sondern wie sie bewältigt werden kann. Und das sind nur die offensichtlichen Entwicklungen.

Wir befinden uns mitten im größten Veränderungsprozess der Kommunikation, den es vermutlich seit der Erfindung des Buchdrucks gegeben hat.

Wie kann es uns gelingen, in dieser komplexen Situation und bei der Unvorhersehbarkeit von Entwicklungen ein Zukunftsbild oder gar eine Vision für Deutschland zu entwickeln, auf die wir uns gemeinsam trotz zahlreicher unterschiedlicher politischer Positionen einigen können?

Mit der Erwartung von Visionen bin ich in der Politik ähnlich zurückhaltend wie Helmut Schmidt, der bei Visionen einen Arztbesuch empfahl. Aber richtig ist, dass die Steuerung und die Bewältigung von Veränderungen eine Vorstellung brauchen, wohin man will. Damit meine ich einen möglichst breiten Konsens über die Richtung unvermeidlicher, notwendiger oder freiwillig eingeschlagener Veränderungen. Die Erwartung an ein allgemein verbindliches Zukunftsbild wäre jedoch wirklichkeitsfremd. Es gehört zum Selbstverständnis einer demokratisch verfassten liberalen Gesellschaft, dass Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern mindestens dem Grunde nach erwünscht ist. Auch wenn er dann, wenn er stattfindet, meistens auf begrenzte Begeisterung stößt.

Die Erwartung an ein allgemein verbindliches Zukunftsbild wäre wirklichkeitsfremd.

Wir beobachten derzeit eine gewisse Veränderungsmüdigkeit und zunehmende polarisierende Effekte in der Gesellschaft. Die Konsensfindung scheint in Verruf zu geraten. Wie kann unter diesen Bedingungen Akzeptanz für die anstehenden politischen Entscheidungen hergestellt werden?

Mit Blick auf staatliche Entscheidungen ist das Akzeptanzkriterium unmissverständlich formuliert, nämlich die Mehrheitsfähigkeit. Das macht im Übrigen eine zusätzliche Herausforderung von Veränderungen aus: Es reicht nicht, eine Veränderung zu wollen, es reicht auch nicht, sie plausibel zu finden. Sie muss mehrheitsfähig sein, wenn sie als politische Gestaltungsabsicht Realität werden soll. Ob sich für die eben genannten Themen in Verbindung zu formalen Mehrheiten nicht nur eine gefühlte Tolerierung einer getroffenen Entscheidung, wie sich das für Demokraten gehört, sondern auch eine Akzeptierung, einschließlich der Bereitschaft, das mitzutragen und zu helfen, das mitumzusetzen, ergibt, das ist sicher nicht abschließend zu beantworten. Nehmen wir die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft oder die Westintegration: Beide Entscheidungen blieben über einen beachtlichen Zeitraum hochumstritten. Zu beidem hat sich erst im Laufe der Zeit ein Konsens herausgebildet, der dann am Ende allerdings so stark war, dass das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Westintegration gewissermaßen zum Lackmustest der Regierungsfähigkeit von konkurrierenden Parteien in der politischen Mitte geworden ist.

Wir sprechen oft davon, Veränderungen angehen zu müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Das klingt nach Last und Herausforderung. Die Risiken stehen im Vordergrund. Wie können wir die Lust auf Veränderungen fördern, und zwar für die Chancen, die damit verbunden sind?

Jedenfalls ist es ganz offensichtlich schwieriger, eine Gesellschaft für Veränderungen zu motivieren, die ein beispielloses Maß an Wohlstand, an sozialer Sicherheit, an politischer Stabilität erreicht hat, den es so für keine Generation vorher in einem vergleichbaren Umfang gegeben hat. Der spontane Reflex ist hier eher die Bewahrung des Status quo. Am plausibelsten finde ich die Veränderungsskepsis in den ostdeutschen Ländern, denn für diese Menschen haben sich innerhalb einer Generation massive Veränderungen in ihren Arbeits- und Lebensverhältnissen ergeben. Hier ist die Neigung verständlicherweise sehr zurückhaltend, sich weiteren Veränderungen ohne Not auszusetzen. Im Ergebnis bleibt es zudem richtig, dass es keine wirklich bedeutsame Veränderung gibt, die nicht beide Effekte im Angebot hat: Sie ist immer mit neuen Möglichkeiten und regelmäßig auch mit neuen Problemen und Risiken verbunden. Ein verantwortungsvoller Umgang der Politik muss in der Balance der Aufklärung über beides bestehen. Jedenfalls sind Zweifel erlaubt und Widerspruch allemal. Das erhöht im Übrigen die Chance, dass am Ende Entscheidungen zustande kommen, die die Chancen maximieren und die Risiken minimieren.

Kommen rationale Aufklärung und konstruktive Debatte in Zeiten des Populismus, der Fakten infrage stellt und Emotionen in den Vordergrund rückt, nicht an ihre Grenzen? Muss sich beispielsweise die politische Bildungsarbeit hier auf neue Gegebenheiten einstellen?

Zweifellos, gerade weil die Analyse und Aufklärung über relevante Entwicklungen ja geradezu zum Kerngeschäft politischer Stiftungen wie der Konrad-Adenauer-Stiftung gehört. Wir müssen methodisch heute ganz anders mit der Vermittlung unserer eigenen Einschätzungen umgehen. Natürlich haben hier die sogenannten sozialen Medien eine überragende Bedeutung. Wobei wir vor einem doppelten Problem stehen, das auf einen ebenso plausiblen wie ärgerlichen Wettbewerbsvorteil von Populisten hinweist: Die sozialen Medien begünstigen in der Logik ihrer eigenen Präsentation jede kurze, knappe, laute, einfache, gerne überspitzte, gegebenenfalls auch beleidigende oder beschwörende, jedenfalls emotionale Botschaft, während unser Geschäft eigentlich gerade darin besteht, nicht laut, sondern sorgfältig, nicht zugespitzt, sondern differenziert, nicht emotional, sondern rational zu argumentieren. Die Herausforderung besteht also darin, unsere Botschaften in einer Weise zu präsentieren, die in diesen Medien überhaupt transportfähig ist – und gleichzeitig nicht unter unseren eigenen Ansprüchen zu bleiben.

Welche Rolle können und sollten andere Akteure, jenseits der Politik oder politischer Stiftungen, für den Erhalt einer konstruktiven Debattenkultur und der Demokratie in Deutschland spielen? Jüngst haben sich beispielsweise zahlreiche Unternehmen mit Bekenntnissen hierzu zu Wort gemeldet, auch angesichts der besorgniserregenden Stärke der AfD.

Leider wird oftmals erst in krisenhaften Zuspitzungen die Verantwortung wahrgenommen, die man zur Vermeidung krisenhafter Zuspitzungen kontinuierlich wahrnehmen sollte. Ich wünsche mir, dass möglichst viele, idealerweise alle, sich nicht nur als Journalisten, Komponisten, Filmschauspieler, Fußballspieler, Ingenieure, Bergleute und was auch immer es an Professionen gibt verstehen, sondern gleichzeitig auch als Staatsbürgerin oder Staatsbürger. Es ist eigentlich unverständlich, warum man vom Königsrecht eines Staatsbürgers in einer vitalen Demokratie keinen Gebrauch macht, also selbst darauf Einfluss nimmt, von wem man regiert werden will. Ob es eine ernsthafte Gefährdung unserer Verfassungsordnung gibt, wird am Ende weder auf Marktplätzen entschieden noch in Gerichtssälen, sondern in Wahlkabinen.

Es reicht nicht, eine Veränderung zu wollen, es reicht auch nicht, sie plausibel zu finden. Sie muss mehrheitsfähig sein, wenn sie als politische Gestaltungsabsicht Realität werden soll.

Es wäre zudem hilfreich, wenn der erschreckende Rückgang an Parteimitgliedschaften, der in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat, nicht nur gestoppt, sondern möglichst auch korrigiert werden könnte und von den vielen, die tatsächlich politisch engagiert sind, aber immer häufiger eher punktuell als kontinuierlich, ein größerer Teil sich entschließen könnte, das Herbeiführen politischer Entscheidungen nicht ganz wenigen zu überlassen, sondern selbst daran mitzuwirken. Mit Blick auf die deutsche Wirtschaft gefällt mir, dass es inzwischen eine erkennbare Sensibilität gibt, sich jenseits der Anmeldung von Erwartungen an politische Entscheidungen und der Abwägung von Zweckmäßigkeiten auch gemeinsam gegenüber den Herausforderungen der Demokratie zu positionieren. Die Anzeigenkampagnen finde ich sehr ermutigend, weil sie eine Sensibilisierung erkennen lassen, die es vielleicht früher zu wenig gab und von der ich mir wünsche, dass sie erhalten bleibt.

Prof. Dr. Norbert Lammert ist seit Januar 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zwölf Jahre war er Präsident des Deutschen Bundestages, dem er von 1980 bis 2017 angehörte. In den Regierungen von Helmut Kohl amtierte er als parlamentarischer Staatssekretär in den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft, für Wirtschaft und schließlich für Verkehr sowie als Koordinator der Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt. 2003 erhielt Lammert einen Lehrauftrag für Politikwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

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