Familie Urfa floh 2015 aus Syrien. Über die Balkanroute kam sie nach Deutschland – vier Brüder, der jüngste damals 12 Jahre alt, ihre Mutter und zwei Cousins. Der Vater blieb in Damaskus und konnte seine Familie erst vier Jahre später wiedersehen. „Unsere Geschichte ist nur eine von über elf Millionen“, sagen die Urfas. Doch sie steht beispielhaft für all die Schicksale der Syrerinnen und Syrer, die ihre Heimat verlassen mussten. Hier erzählen sie ihre Geschichte entlang der fundamentalen Entscheidungen, die sie gemeinsam treffen mussten. Ein Protokoll aus Sicht der Familie und vor allem des ältesten Sohnes Khaled, damals 25 Jahre alt.

Die Entscheidung in Syrien

Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 haben wir dort in ständiger Angst gelebt. Wir haben uns mit dem Aufstand gegen das Regime solidarisiert – im Bewusstsein über die Konsequenzen und die lebensgefährliche Situation, in die wir uns brachten. Es war immer eine Herausforderung, sich in Damaskus von einem Ort zum anderen zu bewegen, jeder Schritt war potenziell gefährlich. Wir haben damals am Stadtrand gewohnt. Wenn wir ins Zentrum gingen, hatten wir ständig Angst vor Bomben und Raketen. Wir haben immer unsere Mutter angerufen und Bescheid gegeben, wenn wir in der Schule oder Universität angekommen sind. Sie war stets voller Sorge, wenn wir das Haus verließen, Angst unser ständiger Begleiter. Uns drohten willkürliche Verhaftungen, physische und emotionale Misshandlungen, Folter und im besten Fall ein schneller Tod. Doch obwohl zum Zeitpunkt unserer Flucht der Bürgerkrieg seit vier Jahren wütete, fiel uns die Entscheidung, unsere Heimat zu verlassen, ungeheuer schwer.

Der Entscheidungsprozess zog sich monatelang hin. Wir spielten am Abendbrottisch immer wieder verschiedene Fluchtszenarien durch. In den Nachrichten sahen wir gleichzeitig die Bilder von Geflüchteten in Schlauchbooten im Mittelmeer. Die finale Entscheidung fiel schließlich eines Nachts per Abstimmung. Sie – und auch alle nachfolgenden Entscheidungen – waren vom Traum eines gleichberechtigten Lebens geleitet. Und von unserer Überzeugung als Familie, dass Offenheit und Respekt die Schlüsselaspekte für eine freie, demokratische Gemeinschaft sind.

An einem Mittwochmorgen, dem 23. September 2015, am ersten Tag des muslimischen Opferfests, brachen wir auf. Unseren Vater ließen wir zurück mit unserem Hab und Gut, den Dokumenten. Sollte jemandem von uns auf dem Weg über das Mittelmeer etwas zustoßen, hätten wir noch einen Anker in Syrien. Wir hatten den Plan, unseren Vater nachzuholen, sobald wir an einem sicheren Zufluchtsort angekommen sein sollten. Als wir uns in aller Eile von ihm verabschiedeten, war unvorstellbar, dass wir ihn erst vier Jahre später wiedersehen würden.

Die Entscheidung zur Flucht – und auch alle nachfolgenden Entscheidungen – waren vom Traum eines gleichberechtigten Lebens geleitet.

Entscheidungen in Etappen

Zunächst flogen wir nach Istanbul. Dort nahmen wir Kontakt zu Schleppern auf, die uns schließlich nachts gemeinsam mit anderen Menschen in einen Bus Richtung Izmir drängten. Im Bus war es stockdunkel, die Fahrt ging über versteckte, holprige Wege über Land. Wir dachten in dieser Nacht mehrfach, dass wir sterben müssen. Vor allem unsere Mutter zweifelte daran, dass der Entschluss zur Flucht richtig gewesen war.

Von Izmir setzten wir mit einem Schlauchboot nach Griechenland über. Die Fahrt übers Meer dauerte ungefähr zwei Stunden.

Als ich vor dem Boot stand, zweifelte auch ich an unserer Entscheidung. Das unendliche Mittelmeer vor Augen, die Nachrichten gekenterter Boote im Hinterkopf. Ich bereute unsere Entscheidung in diesem Moment. Doch es gab kein Zurück. Die Schlepper waren bewaffnet und drängten uns auf das Boot. Denjenigen, die nicht gehorchen wollten, drohten sie mit Erschießung. Im Boot wurden wir getrennt, saßen alle an unterschiedlichen Stellen. Ich saß vorn, ein Bein im Boot und eines im Wasser. Osama, mein jüngster Bruder, war damals noch ganz klein und saß in der Mitte des Bootes mit unserer Mutter. Mohammed und mein anderer Bruder Bilal saßen hinten. Das Boot war so überfüllt, dass wir uns gegenseitig nicht sehen konnten, auf dem Boden sammelte sich Wasser. Wir versuchten, ruhig zu bleiben. Hier waren viele Familien wie unsere. Ich erinnere mich an eine hochschwangere Frau, die mit einer Tasse versuchte, das Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Irgendwann sahen wir Delfine und hielten sie für Haie. Panik brach aus. Mein Cousin Mohammed sorgte für Ruhe auf dem Boot. Eine Massenpanik hätte uns alle noch mehr in Gefahr gebracht. Nach etwa einer Stunde sahen wir Licht am Horizont. Die Schlepper an der Küste hatten uns vor der Überfahrt die Richtung gezeigt, die wir nehmen sollten, eine der griechischen Inseln im Mittelmeer. Bevor wir an Land gingen, sahen wir auf dem Wasser Rettungswesten und Kleidungsstücke schwimmen. Am Tag zuvor war ein Boot gekentert.

Bevor wir an Land gingen, sahen wir auf dem Wasser Rettungswesten und Kleidungsstücke schwimmen. Am Tag zuvor war ein Boot gekentert.

Wir halfen uns gegenseitig aus dem Boot. Die Küste war menschenleer, in der Nähe ein steiler Berg, darauf eine Kirche. Auf dem Gipfel angekommen, sahen wir auf der anderen Seite Touristen, die am Strand lagen und sich sonnten. Mitarbeitende von Hilfsorganisationen nahmen uns in Empfang. Sie gaben uns Essen und Wasser. Die Überfahrt lag hinter uns, wir waren am Leben. Doch das Wissen, dass es andere so kurz vor uns nicht geschafft hatten, wird mich immer begleiten.

Jeder Mensch, der sich zur Flucht entscheidet, setzt sein Leben aufs Spiel. Wir standen dieser Gefahr als Familie und auch einzeln jeden Tag gegenüber. Und sie stellte uns vor unmögliche Entscheidungen: Kaufen wir die teuren Schwimmwesten für 90 Dollar oder sparen wir mit den günstigen für 60 Dollar für die weiteren Etappen? Wen sollte mein Bruder Bilal retten, falls wir untergehen? Er konnte als Einziger von uns schwimmen. Ich bat ihn, uns zurück- zulassen und unsere Mutter und sich selbst zu retten.

In Griechenland machte man uns schnell klar, dass es keine Perspektive für uns gibt. Auch in der Türkei hätten wir uns erst einmal niederlassen können, dort leben viele syrische Geflüchtete. Aber wir wussten, wie schlecht sie dort behandelt wurden. Die Entscheidung für Deutschland? Sie stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Wir haben immer in Etappen gedacht.

Für uns ging es dann weiter mit dem Bus nach Bulgarien, Nordmazedonien und schließlich Serbien. Mein Bruder Mohammed und ich waren die Einzigen aus der Gruppe, die Englisch sprachen. Des- wegen fühlten wir uns für die Gruppe verantwortlich und wurden immer vorgeschickt, wenn es um Gespräche ging. Wir wechselten die Verkehrsmittel: Mal fuhren wir mit dem Bus, dann mit dem Zug bis zur nächsten Grenze, die wir dann zu Fuß überquerten. Die Busse und Züge waren überfüllt. Mein jüngerer Bruder Mohammed saß auf der Etappe durch Nordmazedonien an der Treppe am Türeingang. Beim Einnicken ist er fast aus dem Zug gekippt, beinahe wäre er ums Leben gekommen. Nur die Geistesgegenwart unseres Cousins bewahrte ihn vorm Fallen.

An der serbischen Grenze empfingen uns schwer bewaffnete und maskierte Grenzpolizisten. Sie ließen uns in einem Bus über eine Stunde ausharren. Es war mucksmäuschenstill. Sie wollten uns wohl zeigen, dass wir in Serbien nicht willkommen waren. Wir mussten alle aussteigen und uns komplett entblößen. Die Polizisten waren grob. Sie fragten nach Waffen und wollten wissen, ob wir Terroristen seien und was wir in Europa machen würden. Aus Syrien kommend haben wir keine guten Erfahrungen mit Sicherheitskräften. Menschen in Uniform assoziieren wir vor allem mit Willkür, Machtmissbrauch und Schmerzen. All das kam in dem Moment wieder hoch.

Mit dem Bus ging es weiter über Kroatien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Damals gab es diese Bilder von Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof. Auch wir waren darunter. „Keine Sorge, ihr seid hier in Sicherheit.“ An diesen Satz eines deutschen Polizisten erinnere ich mich noch ganz genau. Und an das Gefühl: Er verstand, was wir durchgemacht hatten.

Entscheidung in Deutschland

Als wir geflüchtet sind, hatten wir weder Deutschland noch Berlin als Ziel vor Augen. Uns ging es in erster Linie um Sicherheit und Frieden. Erst im zweiten Schritt ging es uns um eine Perspektive, also einen Ort, an dem wir mit unserem syrischen Studium bzw. unserer Ausbildung etwas anfangen können.

In München angekommen stand also schon wieder eine Entscheidung an: bleiben oder weiterfahren? Wir hatten Verwandte, die nach Dänemark, Belgien und in die Niederlande geflüchtet waren. Weil wir Englisch sprechen, kam auch Großbritannien in Frage. Doch am Ende war vor allem eines entscheidend: Nach zehn Tagen Flucht waren wir einfach müde und wollten und konnten nicht mehr weiter. Das war unsere Entscheidung für Deutschland. Nach einer Nacht am Münchner Hauptbahnhof stiegen wir am nächsten Morgen in einen Zug nach Hamburg und von dort ging es weiter in die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete nach Schwerin. Wir kamen in ein Camp und konnten zum ersten Mal seit Beginn unserer Flucht duschen und in einem Bett schlafen. Nach elf Tagen fühlten wir uns wieder wie Menschen.

Eine Entscheidung gegen den Plan

Danach wollten wir vor allem unsere Familie schnell wieder zusammenbringen. Konkret: unseren Vater aus Damaskus zu uns holen. Um den Familiennachzug zu beantragen, gingen wir nach Berlin, wo wir eine Nachricht erhielten, die alles veränderte: Unsere Mutter bekam lediglich einen subsidiären Schutz, was damals bedeutete, dass sie ihren Mann, unseren Vater, nicht nach Deutschland holen konnte. Ein Tiefschlag. Wir in Sicherheit, er allein in Damaskus und weiter in Gefahr. Dass unser Vater ebenfalls fliehen würde – allein –, stand für uns außer Frage. Wir hatten Angst um ihn.

Es blieb nichts anderes übrig als zu hoffen und zu warten. Es dauerte vier Jahre, bis wir ihn über eine Zufallsbegegnung auf Facebook und die Bürgschaft eines deutschen Paares zu uns holen konnten. In dieser Zeit verzweifelten wir oft am System, das unsere Familie trennte und unsere Integration so erschwerte. Erst der außergewöhnliche individuelle Einsatz des deutschen Paares brachte unsere Familie wieder zusammen. Der Prozess der Bürgschaft dauerte sowohl in der Ausländerbehörde in Deutschland als auch in der deutschen Botschaft in Beirut neun Monate. Aber schließlich konnten wir unseren Vater dankbar und glücklich endlich wieder in die Arme schließen.

Mitentscheiden

Wenn man uns heute fragt, ob wir alles nochmal so entscheiden würden, würde ich wohl nein sagen. War es richtig, so viel Leid und so viele Gefahren in Kauf zu nehmen? Aber was war die Alternative? Wir sind dankbar, dass wir jetzt vereint sind und in Sicherheit leben. Und doch erleben wir täglich, was es bedeutet, geflüchtet zu sein. Da ist ein Stigma. Immer wieder steht der Vorwurf im Raum, dass wir wegen bestimmter (Geld-)Leistungen gekommen sind. Dabei gab es nur einen einzigen Grund für unsere Flucht: Krieg.

Wir glauben an das Konzept einer deutschen Community und sind ein Teil davon – auch wenn wir hier nicht geboren sind.

Mittlerweile sind wir in Deutschland angekommen, gehen alle unse- ren Jobs und unseren Leben nach: Ich, Khaled, bin verheiratet, habe eine kleine Tochter und arbeite als Finance Manager bei „Project Together“. Bilal ist Sportlehrer und Übungsleiter für Kinder, Moham- med studiert BWL und will sich selbstständig machen. Mein jüngster Bruder Osama absolviert ein duales Studium als Fachinformatiker. Jeder von uns musste auf seinem Weg viele weitere Hürden bewäl- tigen. Und das alles wäre ohne den Einsatz unserer Mutter Hieam niemals möglich gewesen. Sie hat ihre eigenen Pläne und Wünsche zurückgestellt, uns Brüdern ein Zuhause in der Fremde geschaffen und uns gleichzeitig immer wieder motiviert, aktive Mitglieder der Gemeinschaft zu sein.

Wir glauben an das Konzept einer deutschen Community und sind ein Teil davon – auch wenn wir hier nicht geboren sind. Nur durch Vielfalt und gelegentliche Reibung kann Neues entstehen. Und nur durch Neues sind wir bereit für die Zukunft. Davon wollen wir ein Teil sein. Und dabei wollen wir mitentscheiden. Es wird und wurde viel mit Geflüchteten und über Geflüchtete gesprochen, aber wir sind noch immer kein so fester Teil der Community, dass wir mitentscheiden können, dass wir einen Platz am Tisch bekommen. Diesen Platz wünschen wir uns.

Familie Urfa floh 2015 aus Syrien. Über die Balkanroute kam sie nach Deutschland – vier Brüder, der jüngste damals 12 Jahre alt, ihre Mutter und zwei Cousins. Der Vater blieb in Damaskus und konnte seine Familie erst vier Jahre später wiedersehen. „Unsere Geschichte ist nur eine von über elf Millionen“, sagen die Urfas. Doch sie steht beispielhaft für all die Schicksale der Syrerinnen und Syrer, die ihre Heimat verlassen mussten. Hier erzählen sie ihre Geschichte entlang der fundamentalen Entscheidungen, die sie gemeinsam treffen mussten. Ein Protokoll aus Sicht der Familie und vor allem des ältesten Sohnes Khaled, damals 25 Jahre alt.

Bildnachweis © Bernd Brundert