Es herrscht viel Betrieb in den Hallen der Berliner Tafel, als wir deren Gründerin Sabine Werth treffen. Im Gespräch mit uns blickt sie auf die sozialpolitischen Herausforderungen in der Entstehungszeit und heute, erläutert den Stellenwert weiblichen Engagements für den Erfolg der Initiative und weshalb sie sich eine neue politische Fehlerkultur wünscht.

Frau Werth, die Berliner Tafel feiert dieses Jahr ihr dreißigjähriges Bestehen. Spüren Sie in ihrem Umfeld momentan besonders viel Zuspruch und Zuversicht?

In jeder Krise steckt immer auch eine Chance, insofern machen wir seit 30 Jahren nichts anderes, als Krisen zu bewältigen. Die letzten Jahre, beginnend mit Corona, aber speziell mit der Inflation und dem russischen Angriffskrieg, waren eine extreme Herausforderung. Wir haben die Gelegenheit genutzt, uns weiter zu professionalisieren. Wir sind mächtig stolz, nicht nur die älteste Tafel Deutschlands zu sein, sondern auch mit allen Krisen souverän umgehen zu können.

Welche Krise haben Sie in der Gründungszeit gesehen und welche Werte und Überzeugungen haben Sie damals motiviert?

Ich war damals Mitglied der Initiativgruppe Berliner Frauen und wir haben Charity-Aktionen organisiert. Ende 1992 wurden in allen großen deutschen Städten die Obdachlosen aus den Innenstädten an den Stadtrand vertrieben, damit sie nicht die Optik stören. Wir hatten von City Harvest New York gehört. Dort räumten die Ehrenamtlichen abends nach Empfängen die Buffets ab, um sie den Obdachlosen auf die Straße zu bringen. Wir dachten, das können wir auch. Bei der Namensgebung war die erste Idee „Tischlein deck dich“. Ich war dagegen, denn im gleichnamigen Märchen heißt es auch „Knüppel aus dem Sack“. Das machte die Polizei damals mit den Obdachlosen – sie vertrieb sie gegebenenfalls mit Gewalt. Am Ende einigten wir uns auf den Namen „Berliner Tafel“. Wir wollten denen eine Tafel decken, die es sich sonst nicht leisten können. 

Sie sprechen viel von den Frauen, die sich damals engagierten. War das ein Erfolgsmerkmal der Initiative?

Eine Männergruppe aus Süddeutschland kontaktierte mich einmal: Sie hätten seit fünf Jahren geplant, eine Tafel zu gründen. Daraufhin habe ich gesagt, wenn sie fünf Jahre darüber nachgedacht haben, wird das nichts. Unsere Berliner Frauengruppe hat ehrenamtlich angefangen, Fehler gemacht und daraus gelernt. Wir sind einfach sehr viel pragmatischer losgegangen. 

Wurzelt Ihre Motivation auch in der Bedürftigkeit oder Hilflosigkeit, die Ihnen als Sozialarbeiterin täglich begegnet? 

Ich bin in einem absoluten Sozialkiez aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend, mein Vater ist gestorben, als ich drei war. Ich weiß, was es heißt, kein Geld zu haben. Ich weiß, was Armut bedeutet. Ich weiß aber auch, dass es möglich ist, damit umzugehen. Ich habe kaum Berührungsängste, ich war mit 14 Jahren jüngste Schulsprecherin Berlins und habe mich schon immer für die Gemeinschaft eingesetzt. Lustigerweise habe ich aber schon während meines Sozialarbeitsstudiums gesagt: Ich möchte nie mit Obdachlosen arbeiten. Das war der einzige Bereich, den ich aussparen wollte – und dann habe ich ausgerechnet eine der größten Obdachloseninitiativen gestartet.

Die Tafeln füllen eine sozialpolitische Lücke, die dem Aufgabenbereich der Politik zuzuschreiben ist. Wie ist Ihr Verhältnis zur Politik?

Als wir angefangen haben, war Helmut Kohl Bundeskanzler und es hieß, es gäbe keine Armut in Deutschland, weil alles durch den Sozialstaat abgefedert werde. Heute würde das in der Politik niemand mehr sagen. Armut ist inzwischen eine akzeptierte Situation in unserer Gesellschaft. Es gibt sie, aber wir wollen das nicht hinnehmen. Wenn es darum geht, wie wir Armut staatlicherseits umfassend begegnen können, heißt es immer wieder: „Das ist nicht finanzierbar.“ Wenn wir aber die Pandemie oder den Krieg in der Ukraine nehmen, sehen wir, was finanziell alles möglich ist. Wir brauchen ressortübergreifende Gespräche, weil wir Armut gesamtgesellschaftlich betrachten müssen. Und weil das so ist, verzichten wir als Berliner Tafel ganz bewusst auf staatliche Gelder, weil wir uns unsere Unabhängigkeit bewahren wollen. Gleichzeitig möchten wir anderen sozialen Einrichtungen, die staatliche Gelder beziehen, die Unterstützung nicht streitig machen. 

Zeigt die Arbeit der Tafeln soziale Missstände auf und wie man sie bekämpft bzw. bewältigt?

In Bezug auf die Wahrnehmung von Armut haben wir politisch viel erreicht. Wir haben inzwischen 965 Tafeln in Deutschland mit 60.000 Ehrenamtlichen und vor jeder Tafel stehen zeitweise lange Warteschlangen. Es gibt ein großes Medieninteresse. Wenn Armut immer sichtbarer wird, dann kann auch die Politik nicht mehr an dem Thema vorbei. Unsere Arbeit besteht nicht nur darin, bedürftige Menschen mit Lebensmitteln zu unterstützen. Es geht zwangsläufig auch darum, den Fokus auf die Verschwendung von Lebensmitteln zu lenken und die Politik immer wieder anzutreiben. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, wenn die Tafel ruhig ist, haben wir alle Probleme gelöst. Deshalb bin ich gerne weiterhin laut.

Wie hat sich die Ankunft ukrainischer Geflüchteter auf die Arbeit der Tafel ausgewirkt?

Wir haben den großen Vorteil, dass sowohl wir als auch der Berliner Senat die Flüchtlingszahlen von 2016/17 gemeistert haben und auf dieser Erfahrung aufbauen konnten. Gleichzeitig hat die Bevölkerung die Flüchtlinge aus der Ukraine viel bereitwilliger aufgenommen als damals die Menschen aus Syrien und Afghanistan. Insofern war es auch für uns leichter. Wir hatten vor Ausbruch des Krieges etwa 40.000 Bedürftige in den Ausgabestellen. Innerhalb von einem halben Jahr waren es doppelt so viele. Gleichzeitig sind die Lebensmittelspenden zurückgegangen. Wir waren intensiv mit der Spendenakquise beschäftigt, speziell mit haltbaren Konserven und Hygieneartikeln.

Sie haben gesagt, Ihre Organisation wird stärker, weil sie aus Fehlern lernt. Inwiefern wäre dieses Leitmotiv übertragbar auf die Politik?

Ich finde es immer toll, wenn Politiker:innen Fehler zugeben – auch auf die Gefahr hin, dass sie dafür abgestraft werden. Ich möchte nicht mit ihnen tauschen, aber ich fände es wirklich schön, wenn sich eine neue politische Kultur entwickelt. Eine Kultur, die beinhaltet, dass man Fehler zugibt mit der gleichzeitigen Perspektive auf Veränderung. Es geht darum zu sagen: Ich habe einen Fehler gemacht und daraus lerne ich und ich werde euch beweisen, dass es auch anders geht. Das wäre eine schöne Haltung. Im Laufe meines Lebens habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Frauen die politisch Konsequenteren sind – sie treten gegebenenfalls auch zurück. Männer bleiben eher in ihrer Position, lernen aber oft aus ihren Fehlern wenig.

Was machen Sie in zehn Jahren?

Für mich persönlich habe ich gesagt: Wenn ich 90 bin, gehe ich auf halbtags.

Dann haben wir noch 30 Jahre!

Ich bin gerade 66 geworden, insofern reicht es nicht ganz. Ich glaube nicht, dass die Tafel in den nächsten zehn Jahren überflüssig wird. Aber wir reagieren immer auf die Gegebenheiten, da sind wir sehr schnell. Wir müssen auf die tagesaktuelle Politik achten und uns an der gesellschaftlichen Realität orientieren. Sollte es keine Lebensmittelverschwendung mehr geben, weil wir dagegen so effektiv vorgegangen sind, dann müssen wir sowieso umdenken. Sollte es einmal keine Lebensmittelspenden mehr geben, hoffe ich, dass damit auch die Armut verschwunden ist. Eins steht jedenfalls fest: Die Tafel macht weiter und ich persönlich mache gerne auch zukünftig gegen und für die Politik den Mund auf.

Das Gespräch führten Tobias Jerzewski und Cornelius Winter.

Sabine Werth ist Sozialpädagogin und selbstständige Unternehmerin in der Familienpflege. 1993 gründete sie die Berliner Tafel und legte den Grundstein
für die deutschlandweite Tafelbewegung, die bis heute eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Bedürftigen mit Lebensmitteln spielt. Werth erhielt für ihr breites soziales Engagement u. a. das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Berlin.

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