Wir erreichen Igor Levit für das digitale Interview in New York. Aus einem Café schaltet er sich zu. Wir sprechen über Unrecht und Vergebung, Mitmenschlichkeit, die Kraft der Musik und flüchtiges Twitter-Glück.

Herr Levit, wann haben Sie sich das letzte Mal zuversichtlich gefühlt?

Darüber muss ich wirklich nachdenken. Mein Lebensoptimismus steht und fällt mit Menschen und mit Begegnungen, nicht mit Nachrichten. Um Zuversicht zu empfinden, brauche ich das Gefühl, dass es da draußen und in meinem Leben gute Menschen gibt, die gute Dinge tun. Das zu beobachten und mitzuerleben – das gibt mir Zuversicht.

Gab es in der letzten Zeit Begegnungen mit guten Menschen, die herausstechen?

Ich habe in den Vereinigten Staaten mal eine politische Kabarettsendung gesehen, in der der Moderator einen Satz gesagt hat, der mir sehr zu denken gegeben hat: humans are not good people. Ich würde das modifizieren und sagen: humans are very often not good people. Wenn ich Menschen erlebe, die eine ganz bewusste Entscheidung treffen, Gutes zu tun, bin ich immer bewegt und berührt. Mir hat zum Beispiel eine Freundin erzählt, dass sie einen Geflüchteten bei sich aufgenommen hat. Dann denke ich: Okay, some humans are really good people. Solche Momente geben mir Zuversicht – ansonsten würde ich eingehen. So etwas wie Pessimismus kenne ich nicht. Das kann ich mir nicht leisten, dafür habe ich keine Zeit.

Was kann uns Menschen in einer Zeit multipler Krisen zuversichtlicher machen?

Für mich gibt es da einen simplen Gedanken. Ja, es gibt unglaublich viele Krisen um uns herum. Das Leben ist aber nicht nur Krise. Welche andere Möglichkeit hast du, als morgens aufzustehen und immer einen Schritt vorwärts zu machen? Wir können nicht rückwärts gehen. Solange wir leben, haben wir nicht nur die Verpflichtung, sondern auch die Chance und die Möglichkeit, zu gestalten. Das ist der Kern von Zuversicht und mein zentraler Zuversichtsgedanke.

Was sind Sie die größten Krisen und Gefahren, die Sie momentan sehen?

Klima und Krieg. Doch schon das überfordert mich. Diese nicht überschaubare Klimakrise und dieser ungeheuer schmerzende Krieg jeden Tag. Was mich beschäftigt, wenn ich morgens aufwache und nachts ins Bett gehe, ist ehrlich gesagt der Krieg.

Ist Musik etwas, das Ihnen im Leben Zuversicht schenkt?

Ja, denn es ist die wichtigste Beziehung meines Lebens, die für mich über allem steht. Und natürlich ist Musik allein deswegen eine Quelle der Zuversicht, weil sie Räume der Begegnung schafft. Musik ist meine Quelle der Lebensinspiration. Menschen und Musik. Menschen an erster Stelle und Musik an der anderen ersten Stelle.

Welche Rolle sollten Kunst und Kultur in unserer Gesellschaft einnehmen?

Sie müssen die wichtigste Rolle überhaupt spielen. Kultur ist für mich ein Café, ein Stadion oder eine Bar. Kultur sind Orte der Begegnung, des Gemeinsamen. Kunst ist ein anderes Feld, und insofern tue ich mich ein bisschen schwer mit der Gleichung „Kunst und Kultur“. Aber Kultur hat den wichtigsten Stellenwert. Wenn diese Räume des Gemeinsamen verschwinden, dann können wir einpacken. Und Kunst ist etwas, das uns vergegenwärtigt, wie wunderschön chaotisch das Leben ist. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Es ist Risiko, es ist Komplikation, es ist Empfindung. Kunst triggert so viele Emotionen, die uns Menschen daran erinnern, wie wir sein, fühlen, leben oder uns fürchten können. Sie greift das ganz Tiefe und Innere an, was Worte häufig nicht können. Ihr Stellenwert könnte gar nicht höher sein.

Sie sind politisch sehr engagiert. Was motiviert Sie dazu und woher nehmen Sie die Energie und Kraft, das zu tun?

Was mich motiviert, ist ganz einfach: Menschen zu helfen. Ich bin Teil dieser Welt. Ich kann doch nicht sagen, dass diese Welt mir egal ist. Ich habe in der Schule gelernt, dass es so etwas wie Staatsbürgerpflichten gibt. Diesen versuche ich, so gut ich kann, nachzukommen. Wenn mir Unrecht begegnet, schreite ich ein. Was für ein Mensch wäre ich, wenn ich das nicht tun würde? Da stellt sich auch nicht die Frage, woher ich die Energie nehme. Ich sehe keine Alternative, das ist meine individuelle Verantwortung.

Sie haben Twitter bewusst den Rücken gekehrt. Was waren die Gründe und wie fühlt es sich in der Rückschau für Sie an, nicht mehr mit dabei zu sein?

Es beschäftigt mich nicht mehr. Ich brauche Twitter nicht, um mich aktiv einzubringen. Der Höhepunkt meines Twitter-Glücks waren die Hauskonzerte zu Beginn von Corona. Das war enorm wertvoll für mich, es hat mich gerettet. Danach fühlte sich alles andere nicht mehr so toll an wie vorher. Dazu kommt dieser unbedingte Zerstörungswille von so vielen. Diese Pseudo-Debattenkultur, die in Wirklichkeit keine Debattenkultur ist. Ich kann das nicht mehr sehen und das sage ich auch selbstkritisch. Man spricht auf Twitter nicht miteinander, sondern übereinander. Also habe ich nach elf Jahren gesagt: Es reicht. Ich bereue es keine Sekunde.

Ihr Exit von Twitter war eine Strategie, mit Hate Speech umzugehen. Haben Sie weitere Strategien?

In puncto Hate Speech gibt es ganz andere Fälle. Claudia Roth zum Beispiel, die erlebt zehnmal so viel am Tag – verglichen mit dem, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt habe. Ich brauche keine Strategien dafür. Wenn mir jemand droht, ärgert mich das maximal, aber es macht mir keine Angst. Emotional tangiert es mich nur, wenn ich mich um meine nächsten Menschen sorgen muss.

Wenn Sie auf dieses Jahr blicken: Wo würden Sie sich ganz konkret mehr Haltung von unserer Gesellschaft wünschen?

Ich glaube, uns allen wäre geholfen, wenn wir uns als Individuen immer und immer wieder vergeben und uns immer wieder daran erinnern würden, bei Unrecht zu helfen. Mir würde es schon reichen, wenn wir als Menschen unsere Menschlichkeit nicht vergessen. Nimm deine Liebsten in den Arm. Frag eher häufiger als seltener, wie es deinen Mitmenschen geht. Es muss nicht immer die große Geste sein, nicht alle können es sich leisten, einen Geflüchteten zu sich nach Hause einzuladen. Ich komme leichter durch den Tag, wenn ich mich immer wieder daran erinnere, was es heißt, ein guter Freund, ein guter Mensch, ein guter Partner, ein guter Sohn und ein guter Lehrer zu sein. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen diesen Grundgedanken immer wieder vor Augen führen. Daraus entsteht dann sehr viel Gutes.

Wie politisch ist für Sie der Beruf des Musikers?

Grundsätzlich fehlt mir die Fantasie dafür, ein unpolitischer Mensch zu sein. Wie kann ich als Teil dieser Welt desinteressiert an ebendieser sein? Das gilt für mich auch als Pianist. Musik alleine wird die Welt nicht retten. Aber Musik bringt Menschen zusammen. Welche Konsequenzen Menschen aus diesem Zusammenkommen ziehen, liegt an ihnen. Dass Musik den Raum des Zusammenbringens, der Begegnung und auch der Selbstbegegnung schafft, ist eine Gabe, die mit Worten nicht zu beschreiben ist. Und darin liegt die Chance und das Geschenk, das uns Musik gibt.

Was sind Ihre Wünsche für dieses Jahr?

Ich möchte weiterhin Musik machen und gleichzeitig wünsche ich mir, dass dieser furchtbare Krieg endet, und das nicht mit dem politischen Gewinn eines im Imperialismus versinkenden Diktators. Dieser Krieg ist ein Trauma. Und wenn ich das schon sage, wie muss es dann erst für die Menschen in der Ukraine sein? Daran zu denken, zerreißt mir das Herz, und ich wünsche mir so sehr, dass dieser Krieg für die Menschen in der Ukraine zu ihren Gunsten – und nur zu ihren Gunsten – endet.

Das Gespräch führten Annkathrin Paulus und Charlotte Sievers.

Igor Levit ist ein hochdekorierter Pianist und Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Neben seiner musikalischen Exzellenz zeichnet er sich durch seine klare politische Haltung in der Öffentlichkeit aus. So positioniert er sich u. a. klar gegen Antisemitismus, Hass im Netz und zum Klimawandel. Für die hoffnungspendenden Hauskonzerte in den Corona-Lockdowns sowie für sein Engagement gegen Antisemitismus wurde ihm der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

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