Heute schreibe ich Ihnen einen Brief, weil ich mir ernsthafte Sorgen mache. Um Sie, um mich, um die Art und Weise, wie unsere Lebensgrundlagen akut gefährdet sind. Durch uns. Sie kennen mich vielleicht als Arzt, der mit Humor die Dinge vermittelt. Die Aufgabe der Medizin ist es, auf Gesundheitsgefahren hinzuweisen, im besten Falle Prävention zu betreiben und manchmal auch schlechte Nachrichten zu übermitteln. In einem Satz: Wir müssen nicht „das Klima“ retten – sondern uns. Wir haben eine Jahrhundertaufgabe vor der Nase, für die wir nicht mal mehr ein Jahrzehnt Zeit haben. Und Sie und ich sollten alles dafür tun, damit wir diese historische Chance ergreifen. Sonst waren wir die letzte Generation, die es gut auf diesem Planeten hatte. Wenn Sie Grundschulkinder haben, kurze Erinnerung: Bevor sie die Schule verlassen haben werden, ist der Drops bereits gelutscht, sind entweder die Transformationsprozesse richtig in Schwung oder Kipppunkte überschritten. Und das geht schnell. Deshalb ist es auch fahrlässig, ständig die Verantwortung an die nächste Generation abzuschieben und zu denken, „die Jungen werden es halt mal besser machen als wir“. Nein. Es ist Zeit, dass sich die Erwachsenen erwachsener verhalten als die Jugendlichen von Fridays for Future. Erst alles kaputt machen und dann beim Aufräumen nicht helfen – das haben wir doch im Kindergarten bereits anders gelernt, oder?

Menschen verändern sich durch authentische Begegnung. Bei mir war das die Begegnung mit Jane Goodall, der Schimpansenforscherin. Mitten im Interview drehte sie die Rollen um, schaute mich an aus diesen weisen, alten und etwas melancholischen Augen und stellte mir diese Frage: „Wenn wir Menschen ständig betonen, wir sind die intelligenteste Spezies auf diesem Planeten – warum zerstören wir dann unser eigenes Zuhause?“

Da habe ich geschwiegen, geschluckt und verstanden: Das ist die zentrale Frage, der wir uns alle stellen müssen. Das ist die Überlebensfrage im 21. Jahrhundert. Wenn wir so fucking schlau sind, warum machen wir so einen Scheiß?

Wir können uns schwer „Irreversibilität“ vorstellen, deshalb eine einfache Analogie. Jedes analoge Fieberthermometer endet bei 42 Grad. Kein Zufall. Jemand, der 6 Grad über der normalen Körpertemperatur liegt, ist nicht doppelt so krank wie jemand mit 3 Grad drüber. Er ist doppelt so tot. Es gibt einen Qualitätssprung – den über die Klinge. Woran liegt das? Eiweiß stockt. Legen Sie ein Ei in Wasser mit über 40 Grad, es wird hart. Und auch, wenn das Wasser abkühlt, nicht mehr weich. Es hat für immer – also irreversibel – seine Form verändert und seine Funktion. Aus einem gekochten Ei wird nie mehr ein Küken. Ein hartes Ei hat für immer die Chance auf Leben verloren. Das ist hart. Woraus besteht ein Ei? Aus Wasser, Fetten und aus Proteinen. Woraus besteht ein Mensch und insbesondere ein menschliches Gehirn? Aus Wasser, Fett und Proteinen. Wir sind aus den gleichen Bausteinen. Wir können uns aus unserer Biologie nicht freikaufen. Naturgesetze sind nicht verhandelbar. Physik gilt auch weiter, selbst wenn wir es in der Oberstufe abgewählt haben. Ich habe mit 17 Jahren in „politischer Weltkunde“ ein Referat über die Gefahren des Waldsterbens und die Vorteile des Tempolimits gehalten. Und heute, fast 40 Jahre später, verwechseln wir Freiheit immer noch mit egoistischer Raserei und müssen uns anhören, wir müssten mehr Autobahnen bauen, um CO2 zu sparen. Und dem Wald geht es nach drei Dürrejahren so dreckig wie noch nie. Vier von fünf Bäumen sind krank oder tot. 

„Research shows that showing people research does not work.” Viel Wissenschaft und viel Politikberatung läuft immer noch nach dem „knowledge deficit model“ – wenn man nur mehr forscht und schlaue Gedanken von A nach B vermittelt, wird die Welt schon irgendwann vernünftig. Wäre schön, wenn es so wäre. Is aber nich. Wir wissen genug. Wer ihn noch nicht gesehen hat, der Film „Don’t look up“ bringt es wunderbar auf den Punkt. Oder Neil Postman bereits 1985 mit „Wir amüsieren uns zu Tode“.

Die Themen werden nicht auf dem Papier gelöst, sondern in der Wirklichkeit. Nur weil wir in Paris 2015 einen völkerrechtlichen Vertrag für das 1,5-Grad-Ziel unterschrieben haben, ist ja noch kein CO2-Molekül tief beeindruckt wieder aus der Atmosphäre in die Grube nach Garzweiler zurückgekehrt. In der Politik ist man froh, wenn sich hinter den Kulissen alle auf eine Abschlusserklärung verständigt haben. Aber eine Abschlusserklärung ist eben kein Abschluss, sondern der Anfang! Der Start, um vom Erklären ins Handeln zu kommen. Der Atmosphäre ist es egal, wann wir sagen, dass wir klimaneutral sind. Die guckt ja nicht auf die Uhr – sondern nur nach den Fakten. Und Fakt ist, dass wir seit 2015 nicht weniger Dreck in die Luft gejagt haben, sondern mehr. 

Zeit für einen Witz. Drei Männer wollen durch die Wüste, jeder soll was Praktisches mitbringen. Der Erste bringt was zu trinken, der Zweite was zu essen, der Dritte schleppt eine Autotür an. Die beiden anderen fragen, was die ihnen denn helfen soll: „Wenn es heiß wird, können wir das Fenster runterkurbeln!“

Daran muss ich immer denken, wenn ich „Technologieoffenheit“ höre. Wir haben wunderbare Techniken wie die erneuerbaren Energien, die bereits heute helfen, wenn man sie ausbaut. Klar müssen wir auch CO2 aus der Atmosphäre ziehen, aber die größte Anlage dafür in Island, auf die alle immer hinweisen, schafft 4.000 Tonnen im Jahr. Das ist weniger als ein Tausendstel eines Millionstels von unseren Emissionen weltweit. Also ungefähr so gut wie Fenster runtermachen. Ein Tempolimit in Deutschland würde 6,5 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das ist 1.625-mal so viel wie die gepriesene Anlage. Die Technologie dafür müssten wir allerdings noch entwickeln – Verkehrsschilder. Und die „nature-based solutions“ mit allen Mooren, Mangroven, Meeren und Wäldern sind unser größter Verbündeter, wenn wir sie lassen. Als Elon Musk einmal twitterte: „100 Millionen für eine Erfindung, die CO2 binden kann“, schrieb jemand zurück: „Dürfen sich auch Bäume bewerben?“ Das ist mein Humor. 

Was bislang in der Debatte fehlte: das Wozu. Das positive Narrativ. Die Lust auf Zukunft. Und genau dafür setze ich mich ein. Mit dem Buch „Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben!“, mit meiner Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen und mit einem rasant wachsenden Netzwerk voller ungewöhnlicher Allianzen. Denn was wollen alle? Gesundheit! Quer durch Parteien, Altersgruppen, Hintergründe, quer durch Ministerien, NGOs und Einkommensklassen. Dieses Ziel eint uns und berührt uns mehr als abstrakte „Reduktionsziele“. Gesundheit ist so viel mehr als Pillen, OPs und Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit beginnt mit Wasser zum Trinken, sauberer Luft, leckeren essbaren Pflanzen, erträglichen Temperaturen und einem guten Miteinander zwischen Mensch, Tier und Natur. 

Dieser Gedanke nennt sich „one health“ oder planetare Gesundheit. Steht sogar erstmals im Koalitionsvertrag. Wäre schön, wenn man vor lauter Krisen mal dazu käme, sich der größten unter ihnen mit oberster Prio zu widmen. Was werden uns die Schüler, wenn sie erwachsen sind, weniger verzeihen? Temporär gestiegene Spritpreise oder für immer gestiegene Meeresspiegel?

Das Teuerste, was wir jetzt tun können, ist nichts zu tun. Die „cost of inaction“ steigt mit jedem weiteren Zögern. In einer aktuellen Studie haben Wissenschaftler die finanziellen Folgen des Klimawandels in Deutschland berechnet: bis zu 900 Milliarden Euro. Durch Ertragsausfälle in der Landwirtschaft, durch Schäden an Gebäuden und Infrastruktur infolge von Starkregen, Überschwemmungen und Flut oder durch internationale Lieferengpässe bei Zwischenprodukten und Rohstoffen. 

Und auch durch zunehmende gesundheitliche Beeinträchtigungen, Todesfälle durch Hitze und Überflutungen, die Belastung von Ökosystemen, den Verlust von Artenvielfalt sowie die Minderung von Lebensqualität. Das ist alles nicht mehr „Hysterie“ sondern Fakt. Fuck! 

Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Das Wichtigste, was ein Einzelner heute machen kann, ist, nicht allein zu bleiben. Ja, es kommt auf jeden von Ihnen, jeden von euch an, es geht um jedes Zehntel Grad. Es geht um jede Tonne CO2. Und darum, dass die Kinder einmal stolz auf uns sein können, weil wir alles gegeben haben, in einem historischen Moment. Bist DU Teil des Problems oder Teil der Lösung? Wen kennst du, der mehr bewegen kann als du? Dann beweg ihn! Oder sie. 

Wir können es schöner haben als jetzt. Und gesünder. 

Dr. Eckart v. Hirschhausen ist Arzt, Wissenschaftsjournalist und Gründer der Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“. Er arbeitet als Sachbuchautor (Mensch, Erde!), Fernsehmoderator in der ARD (Quiz des Menschen, Wissen vor 8) und Keynote-Speaker. Hirschhausen wurde in den Nachhaltigkeitsbeirat des Landes NRW berufen, ist Honorarprofessor in Marburg und Ehrenmitglied der Fakultät der Charité. Er berät und unterstützt Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen und Stiftungen zu den Themen Nachhaltigkeit und Kommunikation. Die Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“ verankert Klimaschutz als Gesundheitsschutz in Politik, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit.

Weitere Informationen: www.stiftung-gegm.de

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