Vom 6. bis 9. Juni 2024 wählen in Europa rund 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger das neue Europäische Parlament. Wir haben führende Kandidat:innen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), von Bündnis 90/Die Grünen, der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP), der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU) nach den entscheidenden Themen des Wahlkampfes gefragt. Lesen Sie hier die Antworten von Terry Reintke, Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen und der europäischen Grünen zur Europawahl.
Die zunehmend eskalierenden geopolitischen Konflikte werfen grundsätzliche Fragen zur Rolle der EU in der Welt auf. Wie sehen Sie diese Rolle und Ihre eigenen Möglichkeiten, sich für Frieden und Verständigung einzusetzen?
Die EU ist seit über 70 Jahren Garantin für Frieden. Hält die EU zusammen, agiert sie gemeinsam, dann entwickelt sie auch international eine starke Wirkkraft. Gerade in Fragen von Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltiger Entwicklung hat sie ihre Handlungsfähigkeit in der Vergangenheit immer wieder bewiesen. Es war die EU, die nach der Ausweitung der russischen Invasion vor zwei Jahren binnen weniger Tage signifikante Unterstützung für die Ukraine im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität mobilisiert hat – und das, obwohl diese noch nie zuvor so genutzt wurde.
Es ist unsere Aufgabe als Europapolitikerinnen und -politiker, diesen Zusammenhalt in der EU zu erneuern und zu stärken. Denn wir haben ein stärkeres Gewicht auf der internationalen Bühne, wenn wir uns europäisch koordinieren. Gerade in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kann eine selbstbewusste EU sich gegen Krieg und Unfreiheit behaupten, für unsere Interessen und Werte einstehen und damit auch ein dringend benötigtes Gegenangebot zum Einfluss von China und Russland machen.
Damit die EU diese Rolle auch angesichts neuer Herausforderungen erfüllen kann, müssen wir ihre Handlungsfähigkeiten erweitern. Beispielsweise wollen wir Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ausweiten, die europäische Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich stärken, unsere Abhängigkeiten von Autokratien reduzieren und unsere Handelsbeziehungen fair und nachhaltig ausrichten.
Die Europäische Union will bis 2050 klimaneutral werden. Die letzte Legislaturperiode brachte viele Vorhaben mit sich, um die EU auf den Pfad der Klimaneutralität zu bringen. Mittler- weile regt sich aber der Widerstand gegen den immer höheren bürokratischen Aufwand. Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit die europäische Klimaagenda auch weiterhin von der breiten Bevölkerung mitgetragen wird?
Klimaschutz ist vorausschauende Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik und Energiepolitik. Denn Klimaschutz ist das Instrument, um die guten Jobs, die Wertschöpfung und den günstigen und sauberen Strom der Zukunft bei uns in der Europäischen Union zu sichern. Die USA und China machen es uns gerade vor: Sie investieren in ihre Industrien, in Technologien und in die Infrastruktur, um im Wettbewerb hin zur klimaneutralen Wirtschaft vorne dabei zu sein.
Unsere Aufgabe ist es, die Menschen in den EU-Mitgliedsstaaten von diesen Vorteilen des Green Deal auch gegen Widerstände konservativer und rechter Kräfte zu überzeugen. Dafür müssen wir Klimaschutzmaßnahmen sozial abfedern. Denn Klimaschutz gelingt nur, wenn soziale Gerechtigkeit mitgedacht wird. Gleichzeitig gilt, dass gerade die Menschen mit wenig Geld von den wirtschaftlichen Folgen der Klimakrise als Erste betroffen sind. Ich bin davon überzeugt, dass Investitionen in unser wirtschaftliches Fundament und unsere soziale Infrastruktur Familien, den Mittelstand und die Breite der Bevölkerung stärken.
Können Sie sich an vergangene politische Entscheidungen erinnern, die Sie heute nicht mehr so treffen würden? Wenn ja, welche und warum?
Rückblickend hätten wir mehr auf die Warnungen unserer östlichen Nachbarn hören müssen. Sie haben uns spätestens nach der Krim-Annexion 2014 immer dringender aufgefordert, die von Russland ausgehenden Bedrohungen ernst zu nehmen. Heute ist klar: Die Sicherheit Mittel- und Osteuropas ist auch unsere Sicherheit in Deutschland. Mehr noch: Der russische Krieg ist ein Angriff auf unsere europäische Friedensordnung. Deshalb ist es jetzt unsere deutsche Verantwortung, gemeinsam mit den europäischen Partnern die Ukraine in allen Bereichen zu unterstützen: diplomatisch, finanziell, humanitär, beim Wiederaufbau und aktuell akut mit mehr Waffen und Munition. Das beinhaltet auch, der Ukraine weitreichende Waffensysteme zu liefern. Die Folgen für Millionen Menschen in der Ukraine, aber auch für Europa und die Welt, wären verheerend, sollte sich Putin durchsetzen.
Entscheidungen auf EU-Ebene betreffen Millionen von Bürger:innen. Wovon lassen Sie sich bei Fragen leiten, die große Auswirkungen haben (z. B. innerer Kompass, Bauchgefühl, Orientierung an Werten)?
Jede neue Regelung hat Auswirkungen für die, die sie umsetzen müssen. Deshalb wäge ich jede Entscheidung vorher ab: Wie viele Menschen profitieren von der neuen Regelung, wie groß ist der Nutzen für das Allgemeinwohl, und wie groß ist der Aufwand für diejenigen, die etwas umstellen müssen? Nehmen wir die europäische Richtlinie zur Lohntransparenz, die systematische Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen in gleichen Positionen oder vergleichbaren Tätigkeiten offenlegen soll: Sie bringt zusätzliche Berichtspflichten für Unternehmen mit sich, deshalb haben wir kleinen und mittleren Unternehmen mehr Spielraum gelassen. Die Gesellschaft als Ganzes aber profitiert enorm von einer Aufwertung sogenannter „weiblicher“ Positionen und Berufe, denn wenn Frauen für gleiche oder gleichwertige Arbeit den gleichen Lohn bekommen wie Männer, reduziert sich das Armutsrisiko etwa für Alleinerziehende oder Rentnerinnen. Es schafft Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, und es führt hoffentlich dazu, dass Mütter und Väter nicht mehr bei Beförderungen übersprungen werden, wenn sie Elternzeit nehmen wollen.
Terry Reintke ist Spitzenkandidatin sowohl der deutschen wie auch der euro- päischen Grünen für die Europawahl 2024. Sie ist außerdem Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europaparlament seit 2022.
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