Emilia Roig trifft uns zum digitalen Interview und es geht um Macht, Intersektionalität und Ungleichheit. Dass die Politologin, Autorin und Aktivistin grundlegend gesellschaftliche Muster verändern möchte, zeigt auch ihr neues Buch „Das Ende der Ehe“.

Sie sind unter anderem Expertin für Antidiskriminierung, Inklusion und Intersektionalität. Können Sie uns den Begriff Intersektionalität kurz erklären?

Intersektionalität beschreibt die Überschneidung und die Verschränkung von unterschiedlichen Diskriminierungsformen. Das heißt, wenn eine Frau Schwarz und behindert ist und noch dazu lesbisch, dann wird sie aufgrund ihrer Identität als Frau, als Lesbe, als behinderte Person und als Schwarze Person diskriminiert. Die unterschiedlichen Facetten ihrer Identität sind untrennbar. Intersektionalität zeigt uns, dass die unterschiedlichen Diskriminierungsformen nicht unabhängig voneinander agieren. Sexismus, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und Homophobie sind alle miteinander verbunden. Intersektionalität ist der Begriff, der uns erlaubt, eben diese Verbindungen und die Komplexität der Diskriminierung besser zu begreifen und sie auch besser zu bekämpfen.

An welcher Stelle in unserem Zusammenleben können wir am besten Verständnis für Intersektionalität schaffen und damit auch einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel ermöglichen? 

Auf allen Ebenen – das passiert sowohl in der Intimsphäre als auch bei der Arbeit, sogar im Umgang mit Freunden oder auf der Straße. Ich würde sagen, dass es nicht den einen Ort gibt, an dem Intersektionalität am besten zum Ausdruck kommt oder am besten bekämpft werden kann. Natürlich ist die Wirkung eines intersektionalen Ansatzes in den Sphären der Macht, zum Beispiel in der Regierung oder in den Managementboards, größer. 

2017 haben Sie das Center for Intersectional Justice (CIJ) gegründet. Gab es ein konkretes Ereignis oder Erlebnis, das Sie dazu bewogen hat?

Ich habe das CIJ gegründet, weil ich etwas bewirken wollte. Viele andere Stellen, an denen ich gearbeitet habe, haben großen Impact versprochen und ich hatte die Hoffnung, wirklich etwas verändern zu können. Aber ich habe gemerkt, dass es nicht funktioniert. Und dann habe ich gedacht: „Dann gründe ich meine eigene Organisation.“

Mit Blick auf Veränderung ist Einfluss ein wichtiges Thema. Sie sind 2022 als einflussreichste Frau des Jahres im Rahmen des „Impact of Diversity Prize“ ausgezeichnet worden. Wie wichtig sind Einfluss und Macht für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft?

Wir müssen uns von diesen Werten und Normen wegbewegen: Wer ist machtvoll, was ist Macht? Heute ist mächtig, wer viel Geld hat und wer politische Entscheidungen treffen kann, und beide Aspekte gehen miteinander einher. Wir müssen uns von der Individualisierung von Veränderungen verabschieden. Sie wird zum Beispiel immer sehr gerne mit bestimmten Persönlichkeiten verknüpft, weil das hohe mediale Wirksamkeit erzeugt. Aber in Wahrheit sind es nicht nur einzelne Menschen, die die Veränderung vorantreiben, sondern Veränderungen werden kollektiv vorangetrieben. Es sind ganze Bewegungen. Diesen Prozess sollten wir auch gesellschaftlich neu denken. Es können nicht alle Menschen versuchen, „nach oben“ zu streben. Dorthin, wo jetzt vorrangig weiße Männer stehen. Sondern die Macht muss auf allen Ebenen verteilt werden.

Ihre Diversity-Trainings für die Hirschen Group haben uns die Möglichkeit gegeben, viel über Diskriminierungsformen zu lernen. Gibt es ein Konzept aus Ihrer Arbeit, das zu wenige Menschen kennen, das aber viel Potenzial für Selbsterkenntnis bietet? 

Es wird generell viel zu wenig Wert auf die historischen Hintergründe der Unterdrückung gelegt. Wir nehmen Unterdrückung als gesellschaftliches Phänomen hin, das einfach da ist und bekämpft werden muss, ohne über die Ursprünge zu reden. Das fehlt meiner Meinung nach und hindert uns daran, das Problem an der Wurzel zu packen. Deshalb versuche ich in meinen Workshops zu erklären, woher zum Beispiel Sexismus kommt. Diese Herleitung ist historisch betrachtet sehr, sehr wichtig und deswegen sollten wir sie nicht ausblenden. Wir nehmen die Unterdrückung und diese Kategorien oft als naturgegeben hin, dabei sind es Konstrukte.

Welche politische Maßnahme wäre besonders wirksam, um Ungleichheit in Deutschland abzubauen?

Die sofortige Abschaffung des Ehegatten-Splittings. Wir können so lange über die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern in Unternehmen sprechen, wie wir wollen. Aber solange es das Ehegatten-Splitting gibt, wird es Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen geben. Deshalb wäre das der erste Schritt. 

Das ist eine gute Überleitung zur nächsten Frage: Der Titel Ihres neuen Buches „Das Ende der Ehe“ klingt nach einer politischen Forderung. Worum geht es?

Wie der Titel schon sagt, geht es um die Ehe, um die Institution Ehe und um ihre Abschaffung. Wenn man das hört, dann denkt man sofort „Oh Gott, also dann dürfen wir nicht mehr heiraten oder müssen uns jetzt scheiden lassen?“ Nein, darum geht es nicht. Das Buch versucht zu erklären, inwiefern die Ehe als Institution historisch, aber auch heute noch, der Ungerechtigkeit der Geschlechter zugrunde liegt und was genau an der Ehe Ungerechtigkeit reproduziert und verschärft. Aber am Ende lässt es uns auch auf eine bessere Gesellschaft ohne Ehe hoffen und was daraus entstehen könnte. Zum Beispiel stärkere Gemeinschaften und eine Gesellschaft, die die Care-Arbeit und die Kindererziehung würdigt und sichtbar macht. Die mehr Zeit und Energie in diese Bereiche investiert und sie nicht nur als eine Last betrachtet.

Der Untertitel des Buchs lautet „Für eine Revolution der Liebe“ und lässt radikale Forderungen vermuten. Welche Chancen für unsere Gesellschaft ergeben sich aus radikalen Ideen? 

Jeder soziale Fortschritt ist aus radikalen Ideen entstanden. Irgendwann war es einmal sehr radikal, dass Frauen wählen dürfen. Es war auch sehr radikal, die Sklaverei abzuschaffen. Noch radikaler war, dass zwei Frauen heiraten und Kinder bekommen können. Deshalb ist Radikalität notwendig. Und nicht nur das. Die Spannung oder der Widerstand, die sich daraus ergeben, sind nötig. Ich würde das nicht vermeiden wollen, denn sonst verharren wir im Status quo. Radikale Ideen zeigen uns andere Wege auf. Wir hätten sonst keine Möglichkeit, diese Vorstellungskraft zu entfalten: kollektiv und individuell.

Status quo ist ein gutes Stichwort, gerade wenn es um das Patriarchat geht. In einem Interview haben Sie einmal gesagt, dass die mit dem Patriarchat verbundene Ungerechtigkeit erst dann verschwinden wird, wenn wir uns vom Konzept „Gender“ verabschieden. Weil sich Männer erst dann von toxischen Rollenbildern lösen können. Wie lässt sich etwas neu lernen, das so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist?

Darüber gibt es zwei ganze Kapitel in meinem nächsten Buch und es geht dabei nicht nur um Männer, sondern auch um Frauen. Es ist ein Wechselspiel. Wenn Männer ihre Männlichkeit neu erfinden müssen, dann müssen auch Frauen ihre Identität neu erfinden. Und wir müssen dieser Binarität entkommen. Was gibt es über diese beiden sozialen Geschlechter hinaus? Wir müssen uns bewusst werden, was diese Sozialisation mit uns gemacht hat, wie sie uns beeinflusst und auch eingesperrt hat – sowohl Frauen als auch Männer und noch mehr natürlich Menschen, die sich als nichtbinär definieren. Wie sind wir in diesen Rollen gefangen? Wenn wir das merken, ist der Befreiungsdruck viel höher. Dann haben wir eine Motivation, daraus zu entkommen. Wir müssen die kollektive Befreiung als unsere Motivation sehen.

Das Gespräch führten Adrian Betsch und Klara Zietlow.

Dr. Emilia Roig ist Geschäftsführerin des Center for Intersectional Justice (CIJ), einer gemeinnützigen Organisation, die sich für Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und ein Leben frei von systemischer Unterdrückung für alle einsetzt. Ihre Erfahrung, in einer algerisch-jüdisch-karibischen Familie in Frankreich aufzuwachsen, prägte ihr Engagement und ihre Leidenschaft für intersektionale soziale Gerechtigkeit. Sie ist die Autorin des Bestsellers „WHY WE MATTER. Das Ende der Unterdrückung“.

Bildnachweis © Mohamed Badarne