Der Autor Ofer Waldman spricht mit uns über die Bedeutung gemeinsamer Trauer und Menschlichkeit, den schwierigen Diskurs über Israel und Palästina in Deutschland und Möglichkeiten sowie Notwendigkeiten, neue Diskursräume zum Nahostkonflikt zu öffnen.

Es gibt Ereignisse, die das Leben von Menschen in ein Davor und ein Danach teilen. Der 7. Oktober 2023 war für viele Menschen so ein Tag. Was hat sich für Sie persönlich seitdem verändert?

Die Zeit. Das Fließen der Zeit. Das ist eine der Sachen, die sich grundlegend verändert haben. Der Angriff der Hamas, die Schreckensbilder, dieses Zerbrechen der Welt, haben viele Jüdinnen und Juden weltweit in der Zeit zurückgeworfen. Es sind Bilder, die wir aus anderen jüdischen Erinnerungs- und Erfahrungsräumen kennen. Was geschehen ist, hat alle Gewissheiten und alle Sicherheiten, den Boden, auf dem wir stehen, grundlegend erschüttert, zersplittert, ja zerbrochen. Die Zeit verläuft seitdem nicht mehr linear, sondern zirkulär. Wie Natan Sznaider schreibt: „Wir gehen ins Bett am 7. Oktober. Wir wachen auf am 7. Oktober.“ Wir wachen auf in einer Welt voller Schrecken. Wir wachen auf in einer Welt, wo die Geiseln noch im Gazastreifen sind. Wir wachen auf in einer Welt, in der wir von Hunger im Gazastreifen sprechen. Wir wachen auf in einer Welt, in der die Ausweitung des Kriegs in den Norden eine reelle Möglichkeit ist. Und es endet nicht. Dieser Tag vergeht nicht.

Was bedeutet das für Ihren Blick auf die Zukunft?

Was mir geholfen hat, um wieder ein Gefühl von Zeit zu bekommen, war das Schreiben der Briefe mit Sasha Marianna Salzmann, die zuerst in unserem Blog und nun als Buch „Gleichzeit“ erschienen sind. Ich wusste, jede Woche muss ein Brief da sein. Dieses „du musst schreiben, du musst handeln, du musst tätig sein“, das war mein Horizont. Größere Horizonte, Zukunft, Hoffnung: Ich weiß es nicht. Ich sehe es an den Briefen, dass da eine Entwicklung stattfindet, eine Dramaturgie des Aufstehens. Aber ich bin noch mittendrin. Ich schaue in die Zukunft und die Zukunft ist ein Spiegel.

Wie haben Sie getrauert? Wie verarbeiten Sie die Ereignisse?

Am 7. Oktober ist die Welt für mich zerbrochen, alles Sichere, alles Vorhersehbare, alles Gewisse war erst mal weg. Man stelle sich ganz viele Glassplitter vor. Auf jedem Splitter steht ein Mensch, der erst mal überhaupt keine Gewissheit über das hat, was gerade geschehen ist, und sich sehr allein fühlt. Damals schrieb mir Sasha Marianna Salzmann eine Nachricht: „Wie geht’s Dir?“ Da kommt also jemand vom anderen Glassplitter und reicht dir die Hand und sagt: „Komm, wir fangen an, die Welt ein bisschen zusammenzuflicken.“ Das ist ein Anfang. Ein anderes Beispiel ist „Standing Together“, eine Grassroots-Bewegung, deren Ziel es ist, arabisch-israelische und jüdisch-israelische Gemeinschaften zusammenzubringen. Ich hatte ein großes Bedürfnis, gemeinsam zu trauern, außerhalb des unmittelbaren Kreises der Familie. Mit „Standing Together“ ist das gelungen. Wir haben uns in einer Moschee getroffen, ausgerechnet. Die war bis zum Rande gefüllt mit Menschen. Wir haben alle geweint, gemeinsam. Wir haben uns umarmt. Wir haben erst mal gesagt: „Ich sehe dich, ich nehme deine Trauer wahr, dein Leid.“

Das erinnert sehr an die Botschaft von Margot Friedländer: „Seid Menschen“.

Das ist der einzig mögliche Startpunkt für alles andere. Es ist der Kopfstein jedes humanen, politischen, gesellschaftlichen Zustands. Wir sind so daran gewöhnt, die großen Gespräche zu führen. Dabei vergessen wir, den Einzelnen erst mal als Menschen zu sehen, jenseits des Kollektivs, jenseits der Gruppenzugehörigkeit. Ob es ein palästinensischer Junge ist, ob es ein jüdisch-israelisches Mädchen ist, das sollte nicht im Vordergrund stehen. In den Texten, die das Fundament dieser Bundesrepublik bilden, steht es geschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Diese Weisheit wurde mit unvorstellbarem Leid erkämpft. Margot Friedländer kommt aus diesem Abgrund. Deshalb sollten wir ihr gut zuhören.

Würden Sie sagen, das fehlt gerade?

Ja! Wie können wir in den Debatten in Deutschland und auch in Israel und Palästina damit leben, dass 134 israelische Geiseln in den Tunneln der Hamas verrecken. Für viele ist es absolut in Ordnung, sie einfach nicht zu erwähnen, weil es nicht in ihre politischen Schemata passt. Genauso wenig, dass jetzt in Rafah im südlichen Gazastreifen, in einer Stadt, in der normalerweise um die 300 000 Menschen leben, über 1,5 Millionen Menschen sind. Viele hausen unter unmöglichen Verhältnissen, sie hungern. 150 Kilometer von meinem Haus entfernt hungern Kinder! Und irgendjemand bildet sich ein, dass das in Ordnung ist, weil es in seine Erzählung passt. In „Gleichzeit“ steht: „Es gibt Menschen, die haben eine Zeichnung von der Welt, und in dem Moment, wo die Welt mit der Zeichnung nicht übereinstimmt, zerreißen sie lieber die Welt als ihre Zeichnung.“

Warum ist der Diskurs über Israel und Palästina gerade in Deutschland so schwierig zu führen?

Zwei Lesarten der deutschen Geschichte treffen sich in Israel: Es gibt die Menschen, die sagen, das deutsch-jüdische Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust, der Shoa verpflichtet uns zur Sicherheit Israels als Staatsräson, und deswegen soll man Israel sehr vorsichtig kritisieren und unsere Sympathien mit Israel zur Schau stellen. Die anderen sagen, die Lehre aus dieser Zeit ist eine Verpflichtung den universell geltenden Menschenrechten gegenüber. Und wo ist der beste Ort, um diese zu beweisen? Gerade durch Kritik an Israel. Daran erkennen Sie schon den grundsätzlichen Konflikt. Israel und Deutschland sind miteinander verwandt, im Moment ihrer Geburt sozusagen miteinander an der Nabelschnur verbunden. Wenn in Deutschland über Israel geredet wird, wird eigentlich eher über Deutschland geredet. Ein Selbstgespräch. Ein Beispiel: Wenn über den 7. Oktober geredet wird, dann oft eher über das, was sich auf deutschen Straßen an und seit diesem Tag zugetragen hat, und zwar als Vorlage zur Debatte über die deutsche Migrationspolitik. Das kennen wir aber auch aus den Jahren der sogenannten Flüchtlingskrise. Da haben einige rechte bis rechtsextreme Stimmen in Deutschland gesagt: Wir können jetzt keine Menschen, denen wir einfach mal pauschal eine antisemitische Haltung unterstellen, ins Land lassen. Aber das ist eine Instrumentalisierung, ein Missbrauch, um den eigenen Rassismus zu legitimieren. Diese Debatte hat ja mit Israel nichts zu tun. In Teilen des sogenannten progressiven Lagers wiederum ist das Gespräch über Israel deshalb zum Synonym für einen migrationsfeindlichen Diskurs geworden. Pro Israel bedeutet dort antimigrantisch, migrationskritisch oder vielfaltskritisch. Es ist ein Gespräch, das die Ereignisse des 7. Oktober relativiert und den Schrecken ignoriert, den eben jene Jubelszenen in Berlin und anderswo bei Jüd:innen und Israelis ausgelöst haben. Durch diese Mechanismen verflacht die Debatte absolut. Man will sich mit den Komplexitäten, den Realitäten in Israel oder Palästina, mit der Geschichte, die wirklich höchst komplex ist, überhaupt nicht auseinandersetzen.

Ist das auch der Grund dafür, dass sich einige wichtige Stimmen der deutschen Debatte teilweise aus dem Diskurs zurückzuziehen? Richard C. Schneider spricht beispielsweise von innerer Emigration.

Es ist einfach grundlegend frustrierend. Ein Beispiel aus meinen Vorträgen in der letzten Woche: Du kommst aus einem Kriegsgebiet und fährst quer durch die Bundesrepublik, um etwas aus deiner unmittelbaren Realität zu erzählen. Und da sitzen immer wieder Menschen im Publikum, die verschwenden keine Zeit damit, dir zuzuhören. Die wissen ganz genau, was sie dir sagen wollen. Das kriegst du alles an den Kopf geschmissen. Das passiert auch im politischen Betrieb. Es gibt die vorgefertigten Meinungen bezüglich Israel, Palästina, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und so weiter und so fort, weil sie bestimmten politischen Zielen dienen, diese legitimieren oder andere delegitimieren.

Aber macht es ein Rückzug aus dem Diskurs nicht noch schlimmer?

Ich würde anders ansetzen. Jahrelang war es für eine palästinensische Stimme kaum möglich, sich an der öffentlichen Debatte über Israel, Palästina und Antisemitismus zu beteiligen. Es war nicht möglich, weil wir bestimmte Komplexitäten nicht wahrnehmen wollten. Es gibt viele Bezüge in der deutschen Geschichte, die in der heutigen Gesellschaft nicht mehr nachvollzogen werden können. Das legitimiert natürlich nicht die antisemitische Gewalt einiger Menschen, gleichzeitig ist das Scheitern eines inklusiven Gesprächs über die deutsch-jüdische Vergangenheit, eines inklusiven Gesprächs über „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in einer vielfältigen migrantisch geprägten Gesellschaft Deutschlands, fatal. Wir müssen einen Weg finden, mit allen gesellschaftlichen Gruppierungen in Deutschland über die deutsch-jüdische Vergangenheit demokratisch, respektvoll und mit der größtmöglichen Offenheit zu sprechen, frei von Antisemitismus und Rassismus und dafür mit einem gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein.

Kurz nach dem 7. Oktober haben mehr als 100 namhafte Unternehmen unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ den Terrorangriff der Hamas auf Israel verurteilt und sich gegen jede Form von Hass und Antisemitismus positioniert. Welche Wirkung haben solche Aufrufe?

Der spürbare starke Beistand aus Deutschland, aus der politischen Klasse, aber eben auch von Unternehmen bis hin zu vielen Clubs der Bundesliga, war sehr wichtig. Durch diesen Beistand haben viele Israelis mehr denn je die Gewissheit, dass die Bundesrepublik wirklich an der Seite Israels steht, wenn es hart auf hart kommt. Sagen wir so, diese Staatsräson ist sichtbar geworden. Aber neben den öffentlichen Bekenntnissen hat das Gespräch innerhalb der Unternehmen einen nicht minder wichtigen Impact gehabt. Daniel Lörcher, der ehemalige Fanbeauftragte von Borussia Dortmund und nun Co-Gründer der NGO „What Matters“, hat für viele verschiedene Unternehmen aus der deutschen Wirtschaft, auch für verschiedene Bundesligaklubs, Gespräche mit Familienmitgliedern der Geiseln und Vertreter:innen der örtlichen jüdischen Community organisiert. Die Veranstaltungen waren nicht für die Öffentlichkeit, nicht für die Medien, sondern für die Mitarbeitenden. Sie durften Fragen stellen. Keine Frage war zu blöd. Diesen einfachen Zugang zum Thema zu schaffen, ist wichtig und unabdingbar.

Wir beschäftigen uns in Deutschland in diesem und im kommenden Jahr mit zahlreichen Wahlen: Europawahl, Landtagswahlen, Bundestagswahl. Sie haben mit Ihrem neuen Buch das schöne Wort „Singularkollektiv“ etabliert. Viele Menschen treffen in der Wahlkabine eine singuläre Entscheidung, die zu einer kollektiven Entscheidung, zu einer Mehrheit werden kann. Was wünschen Sie sich mit Blick auf eine bewusste Entscheidungsfindung bei diesen Wahlen?

Ich würde mir wünschen, dass jede:r, die/der in der Wahlkabine steht, bevor er oder sie ein Kreuz auf dem Zettel macht, kurz die Augen schließt und sich fragt: Wie sah es hier in diesem Wahllokal, in dieser Stadt, 1945 aus? Wie sah es das letzte Mal aus, als man politische Entscheidungen getroffen hat, die in eine nationalistische, fremdenfeindliche, unhumanistische Richtung gezeigt haben? Wenn ich mein Kreuz bei der AfD mache, nehme ich diese Vergangenheit als meine Zukunft in Kauf. Ich glaube, da könnte es sein, dass man sich vielleicht doch für dieses humanistische Erbe entscheidet, das mit so viel Blut erstritten wurde, für den Dialog in der Politik, für ein Miteinander.

Dr. Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war einer der ersten Musiker im West-Eastern Divan Orchestra. Er promovierte an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie an der FU Berlin in deutscher Geschichte und Literatur. Er ist als freier Autor tätig, hauptsächlich für deutsche Rundfunkanstalten, und berichtet über historische, politische, gesellschaftliche und kulturelle Fragen aus Deutschland und Israel. Jüngst veröffentlichte er die Bücher „Singularkollektiv“, über das Innenleben eines Orchesters, und – zusammen mit Sasha Marianna Salzmann – „Gleichzeit“, Briefe zwischen Israel und Europa nach dem 7. Oktober.

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