Wann waren Sie das letzte Mal in einem Restaurant, ohne vorher zu prüfen, wie viele Google-Sterne es hat? Wie viele Bewertungen lesen Sie, bevor Sie ein Produkt bestellen? Wo haben Sie zuletzt einen Partner oder eine Partnerin kennengelernt, zum Beispiel an der Theke einer Bar, oder wurde Ihnen ein Match vorgeschlagen, der zu 97 Prozent zu Ihnen passt?
Zufall, Ungewissheit und Schicksal haben in unserer modernen, vernetzten Gegenwart immer weniger Platz. Das verändert auch unsere Art, zu entscheiden. Wir versuchen Risiken zu minimieren und vertrauen einem Algorithmus eher als unserem Bauchgefühl. 97 Prozent, das klingt ja schon fast wie eine sichere Bank. „Manche Entscheidungen kann man auf Grundlage einer Analyse treffen. Das ist die beste Art von Entscheidungen! Sie basiert auf Fakten. Unglücklicherweise gibt es auch diese ganzen anderen Entscheidungen, die sich letztlich nicht in eine Matheaufgabe verwandeln lassen.“ Dieses Zitat von Jeff Bezos, Gründer von Amazon, las ich neulich in einem Artikel. Während sich die erste Kategorie von Entscheidungen, die Bezos beschreibt, mit Hilfe von Frameworks und Algorithmen treffen lassen, sorgen mehr Daten bei der anderen Art oft dafür, dass wir unschärfer sehen. „Man kann zwar immer noch weitere Informationen sammeln und abwägen, aber eine Absicherung in alle Richtungen führt mitunter nur zu langsameren und nicht zu besseren Entscheidungen“, sagt auch Topmanagerin Sigrid Nikutta, CEO von DB Cargo, in dieser Ausgabe.
Das Problem: Optimieren und präzise vorhersagen lässt sich nur, was wir berechnen und vergleichen können. Wenn Sie zum Beispiel beim Roulette auf eine Zahl setzen, liegt die Chance, zu gewinnen, exakt bei 2,7 Prozent. Aber wie wollen Sie jemals wissen, ob Sie den besten Partner oder die beste Partnerin gefunden haben, wenn Sie nicht jeden anderen Menschen auf der Welt treffen?
Nicht nur die Liebe, fast alle relevanten Probleme und Entscheidungen bringen einen Grad von Ungewissheit mit sich. Wen soll ich einstellen? Welche Karriere strebe ich an? Wie soll ich meine Kinder erziehen? Darauf gibt es gute Antworten, aber keine optimale Eben weil wir niemals wissen können, welche Stärken eine andere Bewerberin für den Job mitgebracht hätte – und ob wir diese noch besser fänden. Wir wissen nicht, wie unser Leben mit drei Kindern verlaufen wäre – oder als Single. Das macht diese Entscheidungen schwierig.
Gut ist gut genug
In einem Interview gab mir Gerd Gigerenzer, einer der bekanntesten Entscheidungsforscher weltweit, einen klugen Rat. Nach 76 Lebensjahren und jahrzehntelanger Forschung entscheide er heute schneller als früher und nach dem Motto: Gut ist gut genug. Gigerenzer hat insbesondere zu Heuristiken geforscht, das sind einfache Faust- und Entscheidungsregeln, die in vielen Situationen Orientierung bieten und effektiv wirken. Im Restaurant klappe er die Karte gar nicht erst auf, sondern frage die Servicemitarbeitenden: „Was würden Sie heute Abend hier essen?“ Jack Welch, der ehemalige CEO von General Electric, arbeitete nach der 20-70-10-Regel. 20 Prozent der Mitarbeitenden wurden mit Boni belohnt, die 70 Prozent in der Mitte bestmöglich gefordert und gefördert, die schwächsten Fall die perfekte Lösung, aber eine ziemlich gute Richtschnur. Eine andere Heuristik ist der bekannte Wurf einer Münze. „Während sich das Geldstück in der Luft dreht, werden Sie wahrscheinlich spüren, was nicht aufkommen darf“, sagt Gigerenzer. „Dann brauchen Sie auch gar nicht mehr hinzuschauen. Sie haben Ihre innere Stimme gehört.“ (Anm. d. Red.: Das Interview mit Gerd Gigerenzer können Sie in Götschs Podcast „Wegen guter Führung“ nachhören.)
Nichts ist sicher
Auf seine innere Stimme zu hören und seinem inneren Kompass zu folgen, erfordert allerdings Mut. Es ist verführerisch, einfache Denkschablonen zu suchen (wie Düzen Tekkal ab Seite 44 beschreibt) oder die Last der Entscheidung abzutreten an eine höhere Institution – seien es ein Gott, ein Dating-Algorithmus oder ein Gesundheitsminister, der präzise vorhersagen soll, wie sich ein bisher unbekanntes Virus verhalten wird. Aber nichts ist sicher in dieser Welt – auch wenn uns die technischen Möglichkeiten und die verfügbare Fülle an Informationen ständig vorgaukeln, wir könnten alles berechnen, zähmen und unter Kontrolle bringen. Keine Impfung, keine Ehe, kein Job, kein politisches System ist sicher. Das ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Denn wir alle hoffen auf ein planbares Leben voller Erfolge und Glück – und haben andererseits längst Unwägbarkeiten, Rückschläge und Kummer erlebt.
Wenn wir akzeptieren, dass wir auf unsicherem Boden stehen, können wir erwachsene, eigenverantwortliche Entscheidungen fällen. Wir können vorbeugen (in der Pandemie zum Beispiel durch Masken) und persönliche Risiken abwägen. Geleitet von Neugier entscheiden wir zudem meist für etwas, anstatt uns nur dagegenzustemmen – und das sind eigentlich immer die besseren Entscheidungen, weil sie gestalten wollen.
Verantwortung zu übernehmen, bedeutet in diesem Sinne, die Initiative zu ergreifen und zur Lösung beizutragen. Selbst wenn wir mit unserer Entscheidung ein Risiko eingehen. So wie Thomas Hitzlsperger, der vor zehn Jahren als erster deutscher Profi-Fußballer öffentlich machte, dass er Männer liebt. Damit setzte er Werbeverträge und Karriereoptionen aufs Spiel. Trotzdem würde er diese Entscheidung nicht rückg.ngig machen (ab Seite 48), weil er Werten folgte, die ihm wichtiger waren als ein Werbevertrag.
Am Ende ist jede größere Entscheidung eine Wegkreuzung, die uns näher zu uns selbst bringen oder uns von uns selbst entfremden kann. Das gilt jeden Tag aufs Neue. „Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet“, hat der Wiener Vordenker Viktor Frankl einmal geschrieben. „Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblickcsein wird.“
Antonia Götsch ist Chefredakteurin des Harvard Business manager, der monatlich über Führung, Strategie und Management berichtet.
Bildnachweis © Alexander Hagmann, Harvard Business manager