Wir treffen Stefan Kapferer in der Unternehmenszentrale von 50Hertz. Im Interview sprechen wir mit ihm über den Netzausbau, die Energiewende und die Frage, warum kein Wärmepumpenbesitzer Angst haben muss, im Kalten zu sitzen.

Seit Jahren hangeln sich Politik, Gesellschaft und Wirtschaft von Krise zu Krise. Die Energiekrise trifft Ihre Branche stärker als die vorherigen Krisen. Wie schaffen Sie es, zuversichtlich zu bleiben? 

Ich glaube, wir sollten die berühmte „German Angst“ nicht vor uns hertragen, sondern auf die Fakten schauen. Wenn man auf die letzten zwölf Monate blickt, sieht man, dass Deutschland Gewaltiges geschafft hat: Wir kommen ohne russisches Gas klar, wir haben in Rekordzeit LNG-Terminals an der Nord- und Ostseeküste gebaut und der Anteil an erneuerbaren Energien ist weiter gestiegen. Das spricht eher für Zuversicht als für Angst.

Deutschland gilt als das Land der Ingenieure, als Hort der Rationalität. Wenn die Fakten gar nicht so schlecht aussehen, warum setzt sich eine optimistischere Haltung so wenig in der Öffentlichkeit durch? 

Ich glaube nicht, dass man gesellschaftliche und politische Diskussionen nur mit Fakten gewinnen kann, da viele Themen emotionsgetrieben sind. Am Ende muss man mutig voranschreiten, Dinge vorantreiben und eine Entscheidung treffen. Das sehe ich gerade auch bei der aktuellen Bundesregierung, wenn es um den Umbau eines gesamten Landes hin zu Klimaneutralität geht. 

Sind wir am Ende zu sehr Perfektionisten und zu wenig Inkrementalisten? 

Deutsche sind traditionell eher Perfektionisten. Ich würde mir wünschen, dass wir die kommenden Entwicklungen im Energiebereich als einen evolutionären Prozess betrachten. Im Moment habe ich das Gefühl, dass manche meinen, sie wüssten heute schon bis ins kleinste Detail, wie wir bis 2045 klimaneutral sein können. Daran glaube ich nicht. In den kommenden 22 Jahren werden noch einige Innovationen hinzukommen. Wir können nicht alles final durchplanen, sondern wir brauchen Technologieoffenheit und eine schrittweise Umsetzung, die immer die Möglichkeit zulässt, auf neue Pfade abzubiegen. Falsch wäre es, jetzt schon Pfade zu verbauen, weil wir glauben, wir könnten die Zukunft vorhersagen. 

Inwiefern beeinflusst der neue Modus Operandi der Bundesregierung, also das Zurückstellen von langfristigen Zielen wegen dringender Krisenbewältigung, Ihre Arbeit? 

Der Netzausbau hat durch die operative Bewältigung der akuten Krise nicht gelitten. Im Gegenteil: Es wurde noch einmal mehr deutlich, wie wichtig der rasche Ausbau der Netze und der erneuerbaren Energien für eine resiliente Energieversorgung ist. Für uns als Unternehmen ist dabei klar: Auch wir müssen liefern. Mit dem Ausbauziel kennen wir die Bedarfe, die nötig sind, um die Ziele zu erreichen. Jetzt müssen wir mit der Regierung über die Mittel sprechen. Wie bekommen wir die notwendigen Materialien und Fachkräfte? Stimmt der Finanzierungsrahmen, damit wir diese Investitionen tätigen können? 

Den Winter 2022/2023 hat die Bundesrepublik ohne größere Engpässe in der Energieversorgung überstanden – trotz ausbleibender russischer Erdgaslieferungen. Was braucht es seitens Politik und Wirtschaft, um eine Mangellage im kommenden Winter abzuwenden?

Aus der jetzigen Perspektive lässt sich sagen: Wir gehen in den kommenden Winter deutlich besser als in den letzten: Die Gasspeicher sind Anfang März dieses Jahres besser gefüllt als im Vorjahr, es gibt LNG-Terminals, wir haben neue Lieferketten aufgebaut und eine höhere Auslastung des Stromnetzes ermöglicht. Jetzt müssen wir alles tun, um noch mehr Erneuerbare ins Netz einzuspeisen. 50Hertz hat zum Jahresbeginn einen weiteren Windpark in der Ostsee angeschlossen, der im nächsten Winter voraussichtlich solide zusätzliche Strommengen einspeisen wird. Es gibt also vieles, was mich für den kommenden Winter zuversichtlich stimmt. Dazu gehört auch die pragmatische Herangehensweise der Bundesregierung bei der Beschleunigung des Netzausbaus. 

Stichwort Ausbau der erneuerbaren Energien: Er verläuft in Deutschland noch immer recht schleppend, Ausbauziele wurden verfehlt. Hat die Krise Deutschlands den Weg zur CO2-neutralen Wirtschaft ausgebremst?

Für das letzte Jahr haben Sie Recht: Wir haben eine Versorgungskrise zu Lasten einer Preis- und Klimakrise abgewendet. Aber unbestritten ist gleichzeitig der Ausbau der Erneuerbaren weitergegangen, wenn auch nicht in der Geschwindigkeit, die wir uns wünschen würden. Ich glaube, mittel- und langfristig werden wir durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Notwendigkeit, sich von russischen Energieträgern unabhängig zu machen, das Thema Klimaneutralität eher beschleunigen als verlangsamen. 

Für den Ausbau erneuerbarer Energie ist der Netzausbau unabdingbar. In der öffentlichen Diskussion findet das Thema aber kaum Platz. Woran liegt das?

Ich denke, dass die Bürger:innen zunächst mehr Sympathien für den Ausbau von Erneuerbaren haben als für den Netzausbau. Mein Eindruck ist aber, dass der Krieg in der Ukraine auch an dieser Stelle zu einem Umdenken geführt hat. Menschen, die dem Netzausbau noch vor zwei, drei Jahren kritisch gegenüberstanden, sind heute eher für solche Investitionsmaßnahmen. Weil sie erkannt haben, dass Energiesouveränität nur mit besseren Netzen funktionieren kann. 

Die Bundesregierung arbeitet gerade an einem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzt, denn qualifizierte Arbeitnehmer:innen fehlen an allen Ecken und Enden – auch in der Energiebranche. Wie attraktiv ist die Branche für die junge Generation? 

Wir sind eine attraktive Branche. Das liegt auch daran, dass wir den richtigen Purpose haben. Wir machen die Energiewende konkret. Wer bei uns arbeitet, hilft dabei, Deutschland klimaneutral zu machen. Das spricht viele junge Menschen an. Das Durchschnittsalter der Mitarbeiterschaft von 50Hertz sinkt jedes Jahr. Berlin ist zudem ein attraktiver Unternehmensstandort. Wir können auf eine ordentliche Tarifbindung und ebensolche Sozialleistungen verweisen. Dennoch brauchen wir aufgrund der Energiewende jedes Jahr rund 250 neue Kolleginnen und Kollegen. Und die müssen wir erst einmal finden. Der Fachkräftemangel ist also definitiv auch für uns eine Herausforderung.

Auch die Bürger:innen partizipieren an der Energiewende, sie verbauen Solaranlagen auf den Dächern, Wärmepumpen in Kellern und Ladesäulen für Elektroautos in der Garage. Im Januar gab es einen Aufschrei, als der Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Müller vor Drosselungen bei der Stromversorgung warnte, sollten die lokalen Verteilernetze überlastet sein. Schuld sei der rasante Ausbau dieser Technologien. Wie können angesichts solcher Warnungen Bürger:innen noch mit Zuversicht in Zukunftstechnologien investieren?

Wenn der Eindruck entstanden ist, man müsse damit rechnen, als Besitzer einer Wärmepumpe im Kalten zu sitzen oder man könne sein Auto nicht nutzen, weil es nicht geladen ist, dann läuft etwas schief in der Diskussion. Der Vorschlag zielte schließlich darauf ab, in bestimmten Situationen bzw. zu bestimmten Tageszeiten die Stromversorgung zu drosseln. Das halte ich in einer Übergangsphase für richtig. Zur Wahrheit gehört aber auch: Am Ende brauchen wir ein digitalisiertes Netz mit entsprechenden Preissignalen. Wir brauchen Flexibilitätspotenziale im System.

Wenn Sie zehn Jahre in die Zukunft denken: Wie würde die optimale Stromversorgung aussehen, wenn Deutschland klimaneutral ist? 

In zehn Jahren wird Deutschland noch nicht klimaneutral sein. Aber wir bei 50Hertz haben dann hoffentlich geschafft, was wir uns vorgenommen haben: nämlich 100 Prozent Erneuerbare zur Lastabdeckung in unserem Netzgebiet im Jahr 2032. Wir werden in zehn Jahren einen enormen Zubau nicht nur bei den Erneuerbaren sehen, sondern auch bei den Elektrolyseuren, und einen großen Fortschritt beim grünen Wasserstoff. Den brauchen wir auch, denn es gibt Sektoren in der Industrie, die ohne grünen Wasserstoff nicht klimaneutral werden können. Auch bei der Mobilität werden wir einen Riesenfortschritt sehen. Die eigentliche Herausforderung für die Klimaneutralität liegt meiner Meinung nach im Gebäudesektor, denn hier geht es um Millionen von Einheiten, die wir jeweils einzeln betrachten und umrüsten müssen. 

Das Gespräch führten Josephine Schäfer und Dr. Daniel Wixforth.

Stefan Kapferer ist seit 2019 CEO von 50Hertz. Zuvor leitete er den Bundesverband der Deutschen Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Kapferer hatte auch verschiedene politische Ämter inne, vom FDP-Landes- und -Bundesverband bis hin zu Posten als Staatssekretär in unterschiedlichen Ressorts auf Landes- und Bundesebene.

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