Die Zukunftsforscherin und Sicherheitsexpertin Florence Gaub über den Krieg in der Ukraine, Deutschlands Weg, seine strategische Identität zu definieren, und die Bedeutung von positiven Visionen für unseren Blick auf die Zukunft.

 

Frau Gaub, sehr viel wird dieser Tage über die Brisanz der Lage in der Ukraine gesprochen. Mal jenseits der tagtäglichen Meldungen: Welche Entscheidungen brauchen wir in Europa und welche vermissen Sie, um den oft beschworenen Leitsatz „We’ll do whatever it takes“, mit Leben zu füllen?

Also die Formulierung „nicht mit Leben gefüllt“ suggeriert ja, dass nichts passiert. Ich würde sagen, dass schon sehr viel passiert, insbesondere wenn man bedenkt, mit welcher Haltung Wladimir Putin 2022 in die Ukraine einmarschiert ist. Natürlich ist die Frage, die sich jetzt stellt: Wie geht es weiter nach November? Alle Beteiligten sehen die Wahlen in den USA als Wendepunkt, als sogenannten watershed moment. Deswegen versuchen beide Seiten, bis dahin bestimmte Fakten zu schaffen – in der Annahme, dass Trump diesen Konflikt entscheidend beeinflussen wird. Was man unter „Whatever it takes“ nicht verstehen darf, ist die Erwartung, dass die Ukraine bis November jeden Zentimeter ihres Landes befreit hat. Darum geht es auch gar nicht. Das ist eine zu simple, fast holzschnittartige Interpretation von Krieg. Am Ende wird jeder Konflikt am Verhandlungstisch aufgelöst. „Whatever it takes“ muss bedeuten, dass man alles dafür tut, dass die Ukraine entweder den Krieg gewinnt oder so an den Verhandlungstisch kommen kann, dass sie mental und strategisch aus der Stärke heraus verhandeln kann.

Sie haben gerade schon die USA angesprochen. Lassen Sie uns nochmal auf Deutschland und Europa blicken: Es wird viel Kritik geübt an der Fähigkeit der EU, die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Ist diese Kritik aus Ihrer Sicht berechtigt und sehen Sie uns vor dem Hintergrund einer geopolitisch enorm angespannten Weltlage hier auf dem richtigen Weg?

Man muss sehr ehrlich sein und sagen, dass Europa ohne die USA nicht verteidigungsfähig wäre. Natürlich könnten wir bei einem Angriff Russlands auf europäisches Territorium und ohne Unterstützung der USA mit einer starken, geeinten Front viel erreichen. Aber schon dieser Punkt ist nicht gegeben. Man kann leider nicht davon ausgehen, dass jedes EU-Mitgliedsland dann am gleichen Strang zieht. Zwar gibt es auf EU-Ebene den Artikel 42 Absatz 7 EUV (Anm. d. Red.: Vertrag über die Europäische Union), der sich mit dem Artikel 5 des NATO-Vertrags vergleichen lässt und einen Bündnisfall auslöst. Gleichzeitig ist jedoch klar, dass die EU ohne die integrierte Kommandostruktur der NATO, die sie seit dem Berlinabkommen mitnutzen darf, gar nicht in der Lage wäre, sich in einer solchen Situation zu verteidigen. Daher geht es nicht nur um den Punkt Verteidigungsausgaben, der immer moniert wird. Es geht darum, ob man überhaupt die Strukturen, die Mechanismen, das Prozedere und die Geisteshaltung hat, um auf diesen Fall vorbereitet zu sein. Das alles besitzt Europa als EU-Kollektiv derzeit nicht. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber die Dinge müssen noch viel schneller passieren als sie es derzeit tun.

Sprechen wir über die bevorstehenden Wahlen in den USA. Sie erwähnten bereits das mögliche Szenario einer Wiederwahl Donald Trumps und das Ende der Friedensdividende. Müssten wir uns nicht viel häufiger darüber streiten, was es bedeuten würde, dauerhaft mehr Geld in unsere eigene Sicherheit zu investieren – auch wenn dies zulasten anderer politischer Prioritäten passieren soll?

Dieser Streit ist schon mindestens zehn Jahre alt. Seit der Besatzung der Krim betonen die US-amerikanischen Präsidenten, dass wir nicht genug für unsere eigene Sicherheit tun. Und Fakt ist, ohne Sicherheit ist alles nichts. Wenn man gesund ist, hat man tausend Probleme. Wenn man krank ist, nur noch eines. Genauso verhält es sich mit der Sicherheit. Wenn Sicherheit gewährleistet ist, können wir uns anderen Herausforderungen wie dem Sozialstaat, dem Klimawandel und der Bildung widmen. Hier geht es jedoch um das Überleben eines Staates, seiner Bevölkerung und seines Gesellschaftssystems. Die Realität ist, dass wir einen unmittelbaren Nachbarn haben, der offen darüber spricht, einen NATO-Staat direkt oder indirekt anzugreifen. Natürlich müssen wir auch diskutieren, wo mögliche Kürzungen vorgenommen werden könnten und welche Konsequenzen diese haben. Am Ende ist dies jedoch keine Luxusdebatte, sondern eine existenzielle Diskussion über unsere Ressourcenverteilung.

In Deutschland neigen wir oftmals zu Angst und ein wenig Fatalismus, wenn es um die Zukunft geht. Wie können wir angesichts der geoökonomischen Spannungen mehr Entschlossenheit und Zuversicht in unsere Sichtweise bringen?

Ich glaube, dass sich Deutschland seit der russischen Invasion in einem äußerst anstrengenden und fast traumatischen Prozess befindet, in dem es seine strategische Identität neu definiert. Je länger dieser Prozess dauert, desto klarer wird, wie stark diese Identität zuvor war. Das vorherrschende Credo lautete „Wandel durch Handel“; Krieg galt nie als Lösung. Die Erkenntnis, dass sich diese Vorstellung nicht als richtig erwiesen hat, ist für viele Menschen in Deutschland, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Regierung, zutiefst traumatisch. So erkläre ich mir die aktuelle Polarisierung, die damit verbundenen gesellschaftlichen Spannungen und die Zukunftsangst. Die aktuellen Debatten im Parlament zeigen, dass Deutschland gerade seine strategische DNA überdenkt. Es gibt keinen einfachen Trick, um diesen Prozess zu beschleunigen. Es erfordert Geduld und fortlaufende Bemühungen, bis ein Konsens darüber erreicht werden kann, wer wir in der Zukunft sein wollen.

Ihr Buch „Zukunft“ ist ein Plädoyer für eine optimistischere Zukunft und betont die Bedeutung des Glaubens an unsere eigene Gestaltungskraft. Welche Überlegungen liegen diesem Plädoyer zugrunde?

Das Buch unterstreicht, dass die Zukunft keine abstrakte, weit entfernte Realität ist, sondern stark davon geprägt wird, wie wir heute über sie denken. Aktuell herrscht in Deutschland oft die Meinung, dass die Zukunft bereits vorbestimmt ist: Russland und China werden die Welt dominieren, Trump wird die USA aus der NATO führen, der Klimawandel wird uns alle umbringen, die KI unsere Jobs vernichten und uns am Ende vielleicht sogar noch töten. Ich werde hier sehr plakativ, aber diese fatalistische Sichtweise auf die Zukunft ignoriert den Handlungsspielraum, den wir als Gesellschaft haben. Individuell können wir Putins Kriegsmanöver vielleicht nicht verhindern, aber kollektiv haben wir durch Demokratie, Stabilität und wirtschaftliche Kraft erheblichen Einfluss. Leider fehlt es auf politischer Ebene oft an einem positiven Zukunftsbild. Die meisten Parteien präsentieren eher positive Gegenwartsbilder oder sehnen sich nach einer vergangenen Ära zurück. Einige wenige politische Kräfte, wie die Grünen und die Liberalen, denken zwar zukunftsorientiert. Doch selbst hier ist etwa das Bild des Klimawandels negativ geprägt. Was fehlt, ist eine visionäre Perspektive auf die Zukunft, wie sie in den 50er Jahren von der CDU/CSU oder 1998 von der SPD vermittelt wurde. Es wird oft argumentiert, dass es schwierig sei, positive Zukunftsvisionen in negativen Zeiten zu entwickeln. In Wahrheit ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt dafür: Meistens muss es erst richtig wehtun, bevor man darauf kommt. Nun ist es an den politischen Parteien, diese Visionen zu entwickeln und zu vermitteln.

Zusammenfassend gilt also, Zukunftsängste anzuerkennen und nicht zu ignorieren, gleichzeitig aber eine positive Vision aufzuzeigen und fremdenfeindlichen Parolen keinen Raum zu geben. Angenommen, uns gelingt dies – was gibt Ihnen dann mit Blick auf dieses wichtige Wahljahr Grund zur Zuversicht?

Ich habe eine südafrikanische Wissenschaftlerin kennengelernt, die versuchte, das Muster gängiger Umfragen zu Zukunftsängsten zu durchbrechen. Sie bat Menschen, stattdessen ein kurzes Essay über ihre Zukunftsvorstellungen zu schreiben. Die Texte speiste sie in eine KI ein, die daraus Bilder erstellte. Die Ergebnisse waren unglaublich! Das Gezeichnete war durchweg positiv. Menschen standen auf einer Wiese, debattierten miteinander und im Hintergrund lief ein Reh vorbei. Ich glaube, dass genau dies fehlt – die Fähigkeit, eine positive Vision für die Zukunft zu entwickeln. Spanien hat vor zwei Jahren ein Projekt namens „España 2050“ gestartet, das mittels Befragungen eine normative Zukunft definieren soll. Warum machen wir in Deutschland nicht etwas Ähnliches? Wenn ich solche Beispiele höre, bin ich zuversichtlich. Ich glaube, dass noch viel mehr möglich ist. Wir haben noch längst nicht alles ausgeschöpft und vielleicht müssen wir die Fragen auch einfach anders stellen.

Dr. Florence Gaub, Zukunftsforscherin, Politikwissenschaftlerin und Sicherheitsexpertin, fordert eine Neuausrichtung bei Zukunftsfragen. Sie ermutigt dazu, trotz herausfordernder Zeiten positive Visionen zu entwickeln und Ängste anzuerkennen. Basierend auf interdisziplinären Erkenntnissen bietet sie in ihrem Buch „Zukunft“ praktische Anleitungen für individuelle Zukunftsgestaltung. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich am NATO Defense College in Rom.

Bildnachweis © Debora Mittelstaedt