Wenn man mit Sigrid Nikutta über die politische Bedeutung des Güterverkehrs auf der Schiene diskutiert, wird klar, warum sie die Herausforderung bei DB Cargo angenommen hat. Am Potsdamer Platz in Berlin sprechen wir mit ihr über Entscheidungsprozesse, das Wahljahr und politische Weichenstellungen

Frau Nikutta, wir befinden uns in einem Superwahljahr mit drei sehr relevanten Landtagswahlen in Ostdeutschland: Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Wie blicken Sie als Bürgerin und als Unternehmenslenkerin auf den Rechtspopulismus und das Erstarken der AfD? Sind das für Sie überhaupt zwei unterschiedliche Perspektiven?

Neben den Wahlen in Deutschland haben wir dieses Jahr noch die Wahlen des Europäischen Parlaments, die ebenfalls einen großen Impact haben werden. Ich sehe bei Wahlen mit befürchteten stärkeren Ergebnissen für Rechtspopulisten nicht nur die Demokratie, sondern auch die Wirtschaft herausgefordert. Deutschland muss als Investitionsstandort und als Standort für Fachkräfte aus dem In- und Ausland attraktiv sein. Da spielt die politische Lage selbstverständlich eine große Rolle. Bisher konnten wir immer mit unserer sehr stabilen politischen Kultur punkten. Egal welche Partei an der Regierung war, man konnte sich auf die demokratischen Grundwerte in Deutschland verlassen. Diese Grundannahme ist aktuell erstmals mit einem Fragezeichen versehen. Das spüren wir sehr deutlich in der Wirtschaft und das spüre ich auch als Bürgerin. Unsere Aufgabe als Demokraten ist es, dagegen aufzustehen. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich die aktuellen ermutigenden Proteste und Aktionen für Demokratie im ganzen Land an den Wahlurnen widerspiegeln. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Deutschland nach dem Krieg ein wirklich grunddemokratisches Land geworden sind. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die unzufrieden sind. Wir müssen uns aber klarmachen, dass es kein demokratisch gesunder Mechanismus sein kann, eine undemokratische Partei zu wählen.

Kommen wir zu DB Cargo. Bei Ihnen arbeiten rund 30 000 Mitarbeiter:innen. Inwiefern wird ein solches Unternehmen von der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmungslage tangiert?

Öffentliche Unternehmen wie die Bahn stehen immer im medialen, sozialen und politischen Fokus. Wir sind als Unternehmen sehr stark abhängig von den politischen Rahmenbedingungen. Denn: Die Infrastruktur der Bahn ist per Grundgesetz eine Aufgabe des Staates. An dieser Stelle gibt es, was den Güterverkehr angeht, ein sehr interdependentes Verhältnis. Wir haben Jahrzehnte davon gelebt, dass die Verschmutzung der Umwelt scheinbar nichts gekostet hat. Spätestens seit dem Klimaabkommen von Paris wissen wir aber, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Deswegen müssen wir umsteuern. Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass der Anteil des Schienengüterverkehrs in Deutschland bis 2030 bei 25 Prozent liegen soll. In Europa liegt das Ziel bis 2030 sogar bei 30 Prozent. Auch das ist für DB Cargo relevant, denn zwei Drittel unserer Güterzüge fahren über mindestens eine innereuropäische Landesgrenze. Aktuell sind wir in Deutschland bei 19 Prozent. Hier ist uns ein politischer Weg vorgezeichnet. Deswegen arbeite ich massiv daran, zu erklären, welche politischen Weichenstellungen wir brauchen, um diese Ziele zu erreichen. Es ist nicht so, dass Unternehmen die Umwelt belasten wollen und sich deswegen dazu entscheiden, den Lkw zu nutzen. Nein, der Güterverkehr auf der Straße ist das Resultat von Zeitgeist und politischen Weichenstellungen. CO2 spielte zu lange überhaupt keine Rolle. Heute ist das anders. Für jedes Unternehmen sind der CO2-Fußabdruck und die ESG-Berichterstattung relevant. Wir wissen, dass ein wesentlicher Anteil des CO2-Ausstoßes bei vielen Unternehmen während des Transports entsteht. Deshalb haben Logistik und Transport so eine hohe Bedeutung, wenn es um Klimaschutz geht. Mein Ziel ist, dass die politischen Rahmenbedingungen so gestellt werden, dass das ökologisch sinnvollste Transportmittel auch das ökonomisch sinnvollste für Unternehmen ist.

Es gibt bei Transformation immer auch Interessen- und Verteilungskonflikte. Sie haben gerade Ihre Aufgabe als Interessenvertreterin des Güterverkehrs beschrieben. Was ist Ihre Strategie, um Interessenkonflikte zu lösen und Transformation voranzutreiben?

Zunächst ist es wichtig, anzuerkennen, dass es unterschiedliche Interessen gibt und dass diese Interessen einen rationalen Hintergrund haben. Prognosen gehen davon aus, dass das Transportvolumen weiter ansteigen wird. Wir alle tragen durch unseren Lebensstil dazu bei, dass mehr Transporte notwendig werden. Deswegen sollten wir unbedingt darüber sprechen, wie wir den umweltfreundlichsten Transportmix herbeiführen. Da gibt es kein Gegeneinander, sondern nur ein Miteinander. Die Schiene ist für lange Strecken zu Lande unbestritten die effektivste Transportmöglichkeit. Wenn aber die Anfangs- und Endpunkte einer Strecke nicht an der Schiene liegen, dann muss es für die kurzen Strecken dazwischen ein anderes möglichst umweltfreundliches Transportmittel geben. Es kann aber auch ein Binnenschiff, ein Containerschiff oder ein Flugzeug für bestimmte Strecken sehr geeignet sein.

Wir würden mit Ihnen gerne noch über das Thema „Entscheiden“ sprechen. Was ist für Sie der Unterschied bei Entscheidungen in öffentlichen und in privatwirtschaftlichen Unternehmen, und sehnen Sie sich manchmal nach vermeintlich mehr Entscheidungsfreiheit in komplett privaten Unternehmen?

In meinem ersten beruflichen Leben habe ich in einem mittelständischen, inhabergeführten Unternehmen gearbeitet. Da sind die Entscheidungsprozesse sehr schnell und sehr klar: Der Inhaber verantwortet jede Entscheidung. In einem börsennotierten Unternehmen sind Entscheidungsprozesse deutlich komplexer, weil mehr Faktoren zu beachten sind. Entscheidungsprozesse in öffentlichen Unternehmen sind noch mal komplizierter, weil neben den wirtschaftlichen auch die öffentlichen und die politischen Auswirkungen zu beachten sind. Das kann Entscheidungen verlangsamen; es muss aber nicht so sein. Ich entscheide immer auf Basis der mir zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegenden Informationen. Man kann zwar immer noch weitere Informationen sammeln und abwägen, aber eine Absicherung in alle Richtungen führt zu langsameren, aber nicht zu besseren Entscheidungen.

Aber wie definieren Sie für sich diesen Punkt? Wann sind genug Informationen vorhanden, um eine Entscheidung zu treffen?

Ich gehöre zu den schnellen und entschlossenen Entscheidern. Ich brauche einen Überblick über die wirtschaftlichen, öffentlichen und politischen Auswirkungen, um eine Entscheidung zu treffen. Dann entscheide ich relativ schnell. Viele Entscheidungen sind nur so gut wie der Zeitpunkt der Entscheidung selbst. Der Zeitpunkt einer Entscheidung ist also eine enorm wichtige Entscheidung für sich. In Phasen, in denen ein Unternehmen sich verändern will, ist es wesentlich, dass es Menschen in der Führung gibt, die sich auf neues Terrain wagen und Themen vorantreiben. Es ist wertvoll, wenn in Vorstandsteams verschiedene Entscheidungstypen vertreten sind. Es ist ein Unterschied, ob du mit Tempo oder mit 100-prozentiger Sicherheit vorankommen willst. Beide Stile können richtig sein – und gut ist eine Kombination von diesen Stilen in Führungsgremien.

Das Streben nach dem größeren Wirkungsraum zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre Biografie und spiegelt sich auch in dem Schritt wider, die BVG für DB Cargo zu verlassen. Wie wichtig ist diese Frage nach der persönlichen Wirkmächtigkeit für Sie?

Diese Wirkmächtigkeit ist mir enorm wichtig. Die Frage, was will ich eigentlich im Leben gemacht haben? Was ist es, worauf ich irgendwann stolz sein kann? Das ist mein Hauptantrieb für mein privates und mein berufliches Leben und entsprechend setze ich auch meine Prioritäten. In meiner Dissertationsarbeit im Fach Psychologie habe ich lebenserfahrene Führungskräfte zu ihren Lebensläufen befragt. Viele von ihnen beschrieben, dass sie ihre Prioritäten im Nachhinein anders legen würden. Das hat mich dazu bewegt, frühzeitig über meine eigene Prioritätensetzung nachzudenken. Ich möchte in dieser Gesellschaft und in dieser Welt etwas zum Positiven verändern, sodass etwas übrig bleibt von dem, was ich gemacht habe.

Dr. Sigrid Nikutta studierte Psychologie in Bielefeld und promovierte an der LMU in München. Nach Stationen in einem mittelständischen Unternehmen zog es sie 1996 zur Deutschen Bahn, bevor sie 2010 Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) wurde. Sie führte das größte Nahverkehrsunternehmen Deutschlands erstmals in die schwarzen Zahlen. Seit 2020 ist sie Teil des Vorstands der Deutschen Bahn und zugleich Vorstandsvorsitzende von DB Cargo, wo sie den Schienengüterverkehr verantwortet.

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