Die Polit-Quereinsteigerin Sarah Wiener verkörpert eine europäische Geschichte. Die Österreicherin ist seit Jahren in Deutschland als Köchin, TV-Persönlichkeit und Unternehmerin erfolgreich. Nun macht sie europäische Politik.

365 Sherpas: Frau Wiener, Sie meinten einmal in einem Interview, Ernährung sei neben Privatvergnügen auch immer politisch. Umgekehrt gefragt, wie viel Vergnügen bereitet Ihnen das Dasein als Europaparlamentarierin?

Sarah Wiener: (lacht) Mit Vergnügen im engeren Sinn hat das wenig zu tun – das ist für mich daheim im Garten zu wühlen, mit Freunden zu kochen, im See zu schwimmen. Ich war in der besonderen Situation, dass ich nie Politikerin werden wollte, konnte aber die Chance nicht ablehnen, Europaparlamentarierin zu sein und mich für meine Themen einzusetzen.

365 Sherpas: Worin sehen Sie den größten Unterschied zu Ihren Tätigkeiten als Köchin und Unternehmerin?

Wiener: Hier muss man in jeder Frage einen Konsens unter 28 unterschiedlichen Staaten, Bräuchen, Kulturen und Anschauungen herstellen. Man kann die Welt nicht über Nacht ändern, selbst wenn man eine großartige Idee samt Umsetzungsplan hat. Egal was man sagt, es gibt immer jemanden, der dir erklärt, warum das nicht geht. Das kam in meiner Welt als Einzelkämpferin bislang nicht vor.

365 Sherpas: Dieses Magazin hat das Thema „Heimat Europa“. Der Begriff wurde in den letzten Jahren von Rechten als Kampfbegriff verwendet, während progressive Kräfte versuchten ihn neu zu konnotieren – z.B. der Wahlkampf von Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Braucht es überhaupt einen Heimatbegriff für Europa? Und wenn ja, welchen?

Wiener: Es ist ja an und für sich nicht falsch, Heimat enger und regionaler zu definieren – ich trage zum Beispiel in Straßburg immer Dirndl. Diese Verschiedenheit an Identitäten und Heimaten kann auch etwas Verbindendes sein. Wenn man weiß, wer man ist, kann man dem anderen ein Recht auf seine eigene Heimat, Identität, Kultur und Sozialisation zugestehen. Das ist auch der große Unterschied zum populistischen Heimatbegriff, der Angst schürt und den eigenen Tellerrand möglichst eng zu halten versucht.Dieser negative Heimatbegriff braucht einen Gegner, nämlich das Miteinander.

365 Sherpas: Also sehen Sie Heimat als verbindenden Wert durch den gegenseitigen Respekt für die jeweilige andere Heimat?

Wiener: Ja, das kann man so sagen. Und so ein Heimatbegriff steht auch nicht im Widerspruch zum europäischen Gedanken, ganz im Gegenteil. Auf ihn bauen wir verbindende Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Reisemöglichkeiten, gleiche Bildung für alle und vieles mehr auf. Das wird einem auch klar, wenn man in der Ferne ist. In Australien wird man Europa eher als seine Heimat erkennen. Aber innerhalb Europas sind die Lebensweisen und Kulturen zu unterschiedlich, als dass man zum Beispiel einem Ungarn sagen könnte, er solle einzig Europa als seine Heimat bezeichnen.

365 Sherpas: Wie zeigt sich das im Europäischen Parlament?

Wiener: Heimat, europäische Heimat, beruht auf gemeinsamen Werten. Wir reden einfach vom Gleichen, wenn wir von Demokratie, Menschenrechten oder von Verbrechen wie der Todesstrafe sprechen. Bei anderen Themen wie Korruption oder zukunftsfähige Landwirtschaft kann der Kontinent aber auch wieder sehr groß werden. Da gehen die Meinungen weit auseinander.

365 Sherpas: Lässt sich der Gedanke auch auf Ihre Themenbereiche Ernährung und Landwirtschaft anwenden?

Wiener: Das ist sehr schwer im Europäischen Parlament, weil wir uns im Grunde vom Leitgedanken der 1960er Jahren bis heute noch nicht gelöst haben. Damals wurde die Agrar- und Ernährungspolitik danach ausgerichtet, die Menschen mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Diese Umstände haben sich geändert, die Politik aber nicht. Genau dieser Irrweg vernichtet beispielsweise die Individualität der Kleinbauern, der Ernährungsgewohnheiten, der Anbaumethoden und des agrarischen Handwerks.

»Heimat kann nicht bedeuten, dass wir alle minderwertige Lebensmittel von einer Industrie essen, die dann noch nicht mal hier Steuern bezahlt.«

Auf meinen Heimatgedanken umgelegt heißt das, diese Vielfalt wieder und massiv zu fördern. Heimat kann nicht bedeuten, dass wir alle minderwertige Lebensmittel von einer Industrie essen, die dann noch nicht mal hier Steuern bezahlt. Diese Vernichtung von Individualität erzeugt übrigens auch Frust gegenüber der Europäischen Union. In der Landwirtschaft gelten für die Großindustrie die gleichen Regeln wie für Kleinbauern. So muss eine Kleinschlachterei in etwa die gleichen Standards einhalten wie eine, die in der Woche 10.000 Kühe schlachtet.

Das ist genauso wenig sinnvoll wie die Begrenzung des Salzgehaltes in Lebensmitteln. Sie ist eine Reaktion, die auf Riesenmengen an Salz in Fertigprodukten abzielt – nur die Industrie gibt 15 Gramm Salz in 100 Gramm Saucen, niemand versalzt sich selbst. Die Leidtragenden sind aber die Handwerker, zum Beispiel die Kleinbäckereien, für die plötzlich unnötige Beschränkungen gelten. Die Industrie steckt das locker weg und arbeitet mit anderen Zusatzstoffen, wie Glutaminsäure statt Salz. Die Kleinbäcker kommen aber unter Druck, weil sie keine Zusatzstoffe benutzen wollen, was doch sehr löblich ist.

365 Sherpas: In der Vorbereitung zum Gespräch sind rasch viele Ernährungs-fragen auf EU-Ebene aufgekommen – von der Allergenverordnung bis zum Streit über Regionalbezeichnungen wie „Käsekrainer“. Meistens scheinen uns Ernährungsthemen zu trennen, außer bei der TTIP-Diskussion, als wir einen Schulterschluss gegen die amerikanischen Lebensmittelstandards, Stichwort Chlorhuhn, wahrgenommen haben. Schafft die gemeinsame Ablehnung noch immer den besten Zusammenhalt?

Wiener: Diesen sogenannten Schulterschluss gibt es so ja nicht. Es geht dabei weniger um die Sensibilität bei der Lebensmittelqualität und um die Verteidigung der hohen Standards – bei einem Biofleischanteil von unter 2 Prozent in Deutschland kann man davon ja nicht sprechen. Bei TTIP ging es in dieser Frage konkret um Abschottung der agrarischen Großindustrie nach dem Motto: Wenn sich zwei um den Kuchen streiten, wollen sie nicht auch noch ein Stück an einen Dritten abgeben.

365 Sherpas: Aber gerade die heimische Landwirtschaft, die in Österreich noch oft kleinbäuerlich strukturiert ist, ist auch sehr dankbar über diese Abschottung bei Freihandelsabkommen.

Wiener: In Österreich ist man qua der Topografie und mancher kluger Gesetzgebung von vor 30 Jahren noch in einer etwas anderen Lage. Das gibt es noch ein paar Inseln der Seligen mit einer kleinbäuerlichen Struktur. Aber generell geht es bei Freihandelsabkommen nicht um den Schutz unserer Bauern – die schützt niemand. Landwirtschaft ist in Freihandelsabkommen oft ein Tausch, in dem es heißt, wir müssen zum Beispiel Rindfleisch als Abtausch gegen Autos importieren. Es geht also nicht um den Schutz der Kleinbauern, es geht auch nicht um Nachhaltigkeit und Klimaschutz, wie so oft behauptet wird. Es geht schlicht um den Abtausch. Das Bizarre dabei ist, dass es für Autos sehr hohe Qualitätsstandards gibt, für das importierte Rindfleisch jedoch kaum.

365 Sherpas: Was ist Ihr Ziel im Europäischen Parlament?

Wiener: Das ist schwierig. Wäre ich Kommissarin und hätte die Macht, meine Vision durchzusetzen, könnte ich das klar benennen. So geht es mir zuallererst um Aufklärung und darum, dem Thema natürliche Ernährung jene Wichtigkeit zu geben, die es braucht. In den Köpfen vieler Kollegen ist noch nicht angekommen, dass es dabei um unsere Existenz geht. Wir können nicht gesund bleiben, wenn alles um uns vergiftet ist. Zuerst müssen wir reine Luft atmen, gesund essen und trinken, bevor wir eine Bankenkrise lösen können.

365 Sherpas: Macht das den Reiz des Themas Ernährung aus?

Wiener: Absolut. Ernährung ist das Tortenstück, anhand dessen man alle Probleme der Welt erklären kann.

365 Sherpas: Frau Wiener, herzlichen Dank für das Gespräch!

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Das Gespräch führten Joachim Kurz und Roxane Roth.

Sarah Wiener, geboren 1962 in Halle, wuchs in Wien auf und wanderte in den 1980er-Jahren nach Berlin aus, wo sie als Köchin, Autorin, TV-Persönlichkeit und Unternehmerin bekannt wurde. Seit 2015 ist Wiener an Gut Kerkow beteiligt, einem biologischen Landwirtschaftsbetrieb in der Uckermark. Im Mai 2019 kandidierte sie erfolgreich auf der Liste der österreichischen Grünen für ein Mandat im Europäischen Parlament.