von Julia Büttner, Stephan Kittelmann und Lisa Sympher 

Mehr Fortschritt wagen – oft gehört, oft gelesen. Der Anspruch an die Politikinhalte des Koalitionsvertrages der neuen Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP ist also hoch. Und wie sieht es mit der Vermittlung dieser Inhalte an die jeweiligen Zielgruppen und die Öffentlichkeit aus? Nach rund einem halben Jahr Aktivität und pünktlich zur Sommerpause wird es Zeit für eine erste Bilanz: Wird fortschrittliche Politik auch zeitgemäß kommuniziert? Und was bedeutet das eigentlich für die Beratungsarbeit in der Regierungskommunikation? 

Zwischen Twitter und Talkshow: eine Verjüngungskur für die Kommunikationsmittel. 

Beginnen wir mit der naheliegenden Person: Bundeskanzler Olaf Scholz. Im Wahlkampf stand seine Person eher für inhaltliche und kommunikative Kontinuität – nüchtern, abwägend, besonnen, das Maß der Mitte. Doch in seinem neuen Amt geht der Kanzler neue Wege: Er kommuniziert nicht nur mehr und häufiger als seine Vorgängerin Merkel, er twittert oder lässt twittern, ruft bei Joko und Klaas zum Impfen auf, diskutiert bei Anne Will und trifft bei RTL und Maybrit Illner auf Bürger:innen zum direkten Gespräch. Er setzt bewusst auf eine neue Bildsprache und zeigt sich lässig gekleidet im Regierungsflieger. Ganz ablegen kann er die alten Kommunikationsgewohnheiten aber noch nicht:  Auf die Frage einer Journalistin während der Abschlusspressekonferenz des G7-Gipfels, ob er die Sicherheitsgarantien für die Ukraine konkretisieren könne, antwortete er grinsend „Ja … könnte ich“ und beendete die Pressekonferenz knapp mit „Das war‘s“.   

Im Gegensatz dazu heben sich im amtierenden Kabinett Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck deutlich ab. Baerbock trägt Lasteneimer im Niger, Habeck erläutert auf Social Media seine Zwickmühle, scheinbar gedreht zwischen Tür und Angel. Sie setzen den Trend für eine neue Richtung: Mehr Präsenz, lockere Bildsprache, nah an den Bürger:innen, direkte Ansprache und Dialogangebote. 

Neuer Kommunikationsstil: Transparenz im Inhalt und Emotion in der Sprache. 

Baerbock und Habeck sind nicht mehr die Vorsitzenden der Grünen, aber weiterhin die prägenden Gesichter ihrer Partei. Im ministerialen Spitzenamt etablieren sie einen Sprachstil, der geprägt ist von emotionalen sprachlichen Bildern, Ehrlichkeit und Transparenz.  

Habeck lässt Bürger:innen an seinen Zweifel und Abwägungen teilnehmen. Man ahnt, dass es ihm nicht leichtgefallen sein kann, mit Qatar über Deutschlands Energieversorgung zu verhandeln. Aber er löst diese kommunikativ glaubhaft auf, indem er die eigene Zerrissenheit offen eingesteht: „Ich habe auch nicht die Lösung im Ärmel, aber ich tue, was ich kann“, (taz.de) – dabei wird manche Reise kommunikativ begleitet wie der Content eines Influencers. In diesen Zeiten wirkt sein Auftreten auf viele authentisch. Spannend wird es sein, zu beobachten, ob sich dieser Stil in den kommenden Monaten verändern wird oder muss – insbesondere mit Blick darauf, dass der Krisenmodus sich weiter zuspitzen wird und die Belastungen noch größer werden. 

Außenministerin Baerbock kommuniziert offen und souverän. Oft stellt sie Bezüge zu ihrer eigenen Familie her. Wo sich der Bundeskanzler und viele Außenminister vor ihr oftmals in Zurückhaltung bemühen, scheut sie sich nicht, die Dinge klar zu benennen: ob in Sachen Feminismus oder Klima, wenn es um den Gestaltungsanspruch in der Außenpolitik geht.  

Fortschrittskoalition oder Zweckehe? Die Mitte bestimmt das Maß. 

Neuer Anspruch, neue Kommunikationsstil – doch gleichzeitig scheint die Regierung noch keinen gemeinsamen Politik-, aber auch Sprachstil gefunden zu haben. Deutlich wird dies insbesondere an Personen, die immer wieder hervorstechen: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach muss beispielsweise gerade erkennen, dass es stets einfacher ist politische Forderungen zu stellen, als politische Entscheidungen zu exekutieren, gerade und vor allem wegen der unterschiedlichen Haltungen der Koalition zu Maßnahmen, Lockerungen und Pflichten während der Corona-Pandemie. Die FDP-Minister:innen bilden auch noch keine richtige Einheit. Während Bundesfinanzminister Christian Lindner häufig im Rampenlicht steht, scheinen Marco Buschmann, Bettina Stark-Watzinger und Volker Wissing noch an ihrer strategischen Positionierung zu feilen. 

Von Schuldenbremse über Corona-Maßnahmen bis zum Verbrenner-Aus: Wie die Räder reibungslos ineinandergreifen, wie die (auch kommunikative) Zusammenarbeit „smooth“ laufen kann – hier scheint sich die Bundesregierung noch nicht gefunden zu haben. Auf der anderen Seite: Abweichende Meinungen, Reibungen und Kompromisse machen gerade das Wesen der Demokratie aus – so ist es doch beruhigend, dass wir davon noch Einiges sehen. Die Balance zu halten, bleibt die Devise – auch für nach der Sommerpause, wenn steigende Fallzahlen und Lebenshaltungskosten die Regierung noch stärker unter Druck setzen werden. 

Und jetzt? 

Bei all diesen Entwicklungen – was bedeutet das eigentlich konkret für unsere Arbeit? Mit Blick auf das vergangene halbe Jahr wagen wir eine Prognose für Regierungskommunikation der aktuellen Legislatur:  

  • Politiker:innen kommen immer besser ohne klassische Medien aus. Die Arbeit auf Social Media wird intensiviert. 
  • Die Ansprache der Zielgruppen wird direkter. Heißt: Mehr Instagram-Live, mehr Präsenz, mehr an-die-Bürger:innen-wenden.  
  • Auch der inhaltliche Fokus verschiebt sich. Die Devise: erklären, mitnehmen, Bürger:innen schon an den Entscheidungsprozessen teilhaben lassen. 
  • Kein one size fits all: Authentische Kommunikation, die zu den Absender:innen passt. 

Schauen wir mal, was die restlichen dreieinhalb Jahre noch bringen.