Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, dass Sicherheit und Frieden nicht gegeben sind, sagt Professor Peter Neumann. Der Sicherheitsexperte hat mit uns über die Versäumnisse des Westens, die geplante Ertüchtigung der Bundeswehr und die Rolle Europas gesprochen.

Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen und einen Krieg begonnen. Wie verändert dieser Krieg die Welt?

Für Deutschland ist das eine radikale Veränderung. Bis zu diesem Krieg hatten wir das Gefühl, dass wir nur von Freunden umgeben sind. Wir hatten das Gefühl, dass ein Krieg in Europa unvorstellbar ist und wir uns deswegen auch nicht mit solchen Fragen beschäftigen müssen. Quasi über Nacht haben wir gemerkt, dass ein Krieg im 21. Jahrhundert auch in Europa möglich ist. Wir sehen, dass wir Sicherheit nicht einfach voraussetzen können. Sicherheit ist etwas, an dem wir ständig arbeiten müssen – politisch, militärisch, aber auch finanziell.

Was hat der Westen versäumt? Was haben wir übersehen auf dem Weg, der zu diesem Krieg geführt hat?

Europa und Deutschland haben im Zuge der russischen Annexion der Krim 2014 einen Fehler gemacht. Wir sind davon ausgegangen, dass Deutschland eine Brücke nach Russland sein kann. Wir waren der Meinung, dass man Wladimir Putin nicht zu sehr isolieren sollte, weil er dann womöglich noch weiter geht. Es war geltende Meinung, dass wir Deutschen, insbesondere die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Verantwortung haben, diesen Dialog aufrechtzuerhalten.

War das falsch?

Zum Teil. Man hätte damals schon erkennen müssen, dass Putin ganz offensichtlich bereit ist, das Völkerrecht zu brechen, und dass er die Souveränität der Ukraine niemals anerkennen wird. Man hätte damals sehen müssen, dass er nicht ernsthaft daran interessiert ist, ein Auskommen zu finden mit Europa, der NATO und dem Westen. Wir haben zu lange an die Illusion geglaubt, dass wir Einfluss auf Putin haben.

Welche Rolle spielt es, dass Angela Merkel in der aktuellen Situation nicht mehr im Amt ist?

Angela Merkel war die einzige Person im Westen, von der man erwarten konnte, dass sie mit Putin Klartext spricht. Dass die Person, die ihm auf Augenhöhe begegnet und ihm die Wahrheit sagt, jetzt nicht mehr dabei ist, ist ungünstig. Denn Putin bespricht sich in der aktuellen Situation vor allem mit Menschen, die die russische Position stützen.

Nach Ausbruch des Krieges hat die deutsche Bundesregierung mit Blick auf Verteidigung und Sicherheit eine deutliche Ansage gemacht: 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr und eine Verpflichtung auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Was bedeutet diese Ertüchtigung der Bundeswehr für Deutschlands Rolle in der NATO?

Es ist gut und wichtig, dass jetzt in die Bundeswehr investiert wird. Wir müssen aber auch die Frage beantworten, ob wir politisch bereit sind, diese Kapazität einzusetzen. Da wird Deutschland auch aus historischen Gründen immer zurückhaltender sein als die Briten oder Franzosen. Durch die Investitionen ändern wir etwas an der Einsatzfähigkeit, aber nicht automatisch auch an der Einsatzbereitschaft.

Quasi über Nacht haben wir gemerkt, dass ein Krieg im 21. Jahrhundert auch in Europa möglich ist.

Ändert sich auch die Erwartungshaltung Deutschland gegenüber?

Die Investitionen sind ein deutliches Signal an die internationale Gemeinschaft, dass Deutschland sich nicht mehr wegducken wird und bereit ist, gemeinsame Einsätze mitzutragen. Dieses Signal ist angekommen. Das bedeutet aber nicht, dass Deutschland im Vergleich zu anderen NATO-Staaten wichtiger wird. Es zeigt vielmehr, dass Deutschland bereit ist, seinen Beitrag zu leisten.

Erleben wir einen Rückfall in den Kalten Krieg?

Im Kalten Krieg standen sich zwei gleich große Blöcke gegenüber. Auf der ganzen Welt mussten Länder sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Das ist heute anders. Dieser Konflikt wurzelt in der Ideologie und den imperialen Ambitionen von Wladimir Putin, die er anderen Staaten aufzuzwingen versucht. Verglichen mit dem Kalten Krieg, lässt sich das leichter in die Grenzen weisen. Der Konflikt in der Ukraine wird zwar länger dauern, als wir es uns derzeit vorstellen können, es werden aber keine Dekaden sein.

Was muss der Westen jetzt tun?

Wir sollten die Ukraine so nachhaltig unterstützen, dass Russland merkt: Der Konflikt ist nicht zu gewinnen. Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass der Konflikt zu einem zwischen Russland und dem Westen oder gar einem atomaren Konflikt wird. Deswegen sollte der Westen nicht direkt in diesen Konflikt eingreifen. Das hieße Eskalation.

Es ist gut und wichtig, dass jetzt in die Bundeswehr investiert wird.

Welche Rolle spielt Europa?

Die Europäische Union ist als außenpolitischer Player leider nicht so wichtig. Es gibt Gespräche zwischen Frankreich, Deutschland, Polen und den USA zum Thema Ukraine. Es sind also die Länder dabei, die bei diesem Konflikt entscheidend sind. Diese Länder sind aber nicht gleichbedeutend mit der Europäischen Union. Wichtig ist die EU hingegen bei den Themen Handel und Sanktionen. Also dann, wenn es um wirtschaftliche Maßnahmen geht. Die EU entscheidet, wer auf Sanktionslisten kommt.

Internationale und auch deutsche Unternehmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Was bedeutet das für Russland und für die Unternehmen?

Es gibt einige Unternehmen mit systementscheidender Bedeutung – siehe Visa und Mastercard. Deren Rückzug hat erhebliche Konsequenzen für die russische Volkswirtschaft. Wir sehen jetzt eine wirtschaftliche Entkopplung von Russland. Das wird noch zunehmen. Es wird für europäische bzw. deutsche Unternehmen nicht möglich sein, schnell und im bisherigen Umfang wieder nach Russland zurückzukehren.

Brauchen wir unter diesen Bedingungen als Gesellschaft eine neue Definition von Fortschritt?

Die deutsche Gesellschaft ist zuletzt vom Frieden verwöhnt gewesen. Wir sollten erkennen, dass Sicherheit und außenpolitische Stabilität nicht gegeben sind. Dass sie erarbeitet und manchmal erkämpft werden müssen. Wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, ist das ein Fortschritt. Wenn daraus eine Bereitschaft entsteht, sich außen und sicherheitspolitisch und auch militärisch in der Welt zu engagieren. Weil wir verstehen, dass das, was in der Ukraine, in Russland oder in Syrien passiert, uns in unserem Wohlstand und Wohlergehen betrifft.

Das Gespräch führten Verena Gathmann und Cornelius Winter.

Peter Neumann ist Professor für Security Studies am King’s College London. Er ist Gründer des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das sich unter ihm einen Namen bei der Terrorismusforschung machte. Neumann war 2021 Teil des Zukunftsteams von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet. Er ist zudem im Beirat der Firma Monarch, die sich unter anderem. mit Fragen der Demokratiesicherung beschäftigt. Im September erscheint bei Rowohlt Berlin sein neues Buch „Die neue Welt(un)ordnung: Wie sich der Westen selbst zerstört“.