Als Vizepräsidentin des EU-Parlaments liegt Katarina Barley die Wahrung und Achtung europäischer Grundwerte besonders am Herzen. Im Interview verrät sie uns unter anderem, warum der Schutz gemeinsamer Werte gerade aktuell oberste Priorität hat, warum die „Ampel“ für Fortschritt steht – und warum es ein modernes Deutschland nur innerhalb einer starken EU geben kann.

In Berlin hat sich eine Regierungskoalition formiert, die sich mit dem Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ eine Arbeitsgrundlage gegeben hat, die Zuversicht versprüht. Sie selbst waren Teil der Koalitionsverhandlungen. Woran würden Sie festmachen, dass es gelingen wird, Fortschritt in Deutschland zu etablieren?

Ich bin überzeugt, dass der Fortschritt gelingen wird, weil der eindeutige Wille hierzu in allen Lagern der Regierung zu spüren ist. Wir sind uns einig, dass unser Land in vielen Bereichen einiges aufzuholen hat, von Klimaschutz und digitaler Infrastruktur über soziale Verbesserungen bis hin zu der Aufarbeitung und Bekämpfung rechtsmotivierter Straftaten. Wir alle wollen, dass Deutschland vorankommt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns noch inmitten einer weltweiten Pandemie befinden. Diese in den Griff zu bekommen, ist oberste Priorität. Die Ampel hat schon viele wichtige Entscheidungen in Richtung Reformen getroffen. Das fängt in der Gestaltung der Ressortverantwortlichkeiten an. Zum einen haben wir mit der Gründung eines Ministeriums für Bauen und Wohnen deutlich gemacht, dass wir der Wohnungsnot auch auf Bundesebene Abhilfe verschaffen wollen. Mit Nancy Faeser haben wir eine starke Frau an der Spitze des Innenministeriums, die sich dem Kampf gegen Rechtsextremismus bedingungslos verschrieben hat. Insgesamt ist das neue Kabinett jünger und weiblicher geworden. Aber auch inhaltlich hat sich einiges getan. Ganz wichtig ist, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro auf den Weg gebracht hat.

Millionen von Menschen werden hierdurch eine erhebliche Gehaltserhöhung und eine Erleichterung in ihrem Alltag spüren. Aber auch die Streichung des Paragraphen 291a, also des „Werbeverbots” für Schwangerschaftsabbrüche, ist auf den Weg gebracht worden – ein überfälliger Schritt hin zur Stärkung der Frauenrechte in Deutschland.

Die Ampel hat schon viele richtige Entscheidungen in Richtung Reformen getroffen.

Wie erleben Sie die „Ampel“ jetzt schon in Brüssel, welche Schwerpunkte sollte sie in der Außen- und Europapolitik setzen?

Das Bekenntnis der neuen Bundesregierung zu einem modernen Deutschland geht Hand in Hand mit einem europäischen Selbstverständnis und dem Bekenntnis zu Multilateralismus. Wir können die Herausforderungen unserer Zeit nicht mehr allein bewältigen. Wir brauchen unsere Partner, allen voran in der EU. Es wird in den kommenden Jahren darum gehen, sie souveräner, handlungsfähiger und demokratischer zu machen. Um das zu schaffen, müssen sich alle der Verantwortung bewusst sein, die mit einer EU-Mitgliedschaft einhergeht. Die EU dient zwar auch wirtschaftlichen Zielen, ist jedoch allen voran ein Bündnis von Staaten, das sich gemeinsamen Werten verpflichtet hat. Ohne eine Achtung dieser Werte werden wir die EU nicht voranbringen können. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass die Wahrung dieser Werte einer der Kernpunkte der deutschen Europapolitik ist. Auch in der Außenpolitik muss der Schutz gemeinsamer Werte und die Kooperation mit Partnern, die diese Werte verteidigen, oberste Priorität haben. Sie muss vor allem dem Frieden und dem Schutz der Menschenrechte dienen. Die Ampel hat sich diesem Ziel verschrieben und wird die gesamte Außenpolitik an diesem Kompass ausrichten.

Sie setzen sich nicht erst seit Ihrer Wahl zur Vizepräsidentin des EU-Parlaments für einen entschlosseneren Umgang der EU mit Europas Autokraten ein. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat kürzlich klar gesagt: Bei Verstößen gegen die EU-Grundwerte können Gelder aus dem EU-Haushalt blockiert werden. Wie sehen Sie das Urteil?

Der EuGH hat in seinem Urteil bestätigt, was lange klar war: Die EU hat das Recht, ihr Budget und damit das Geld der EU-Bürger:innen vor Korruption und Machtmissbrauch zu schützen. Damit kann sich die EU-Kommission nicht mehr vor der Anwendung des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus drücken. Sie muss nun ernst machen und den Ländern, die die Rechtsstaatlichkeit in der EU systematisch aushöhlen, die Gelder kürzen. Darauf warten wir seit Beginn des letzten Jahres, als die vereinbarte Konditionalitätsverordnung in Kraft getreten ist.

Als Vizepräsidentin des EU-Parlaments sind Sie sich nicht nur der Wichtigkeit von EU-Grundwerten, sondern auch der Bedeutung des Parlaments innerhalb des Institutionengefüges bewusst und setzen sich für mehr institutionelle Kompetenzen des Parlaments ein. Zu Beginn Ihrer ersten Amtszeit haben Sie gefordert, dass es ein echtes Initiativrecht für das Parlament brauche. Hat das EU-Parlament mittlerweile den Stellenwert, den es haben sollte?

Klare Antwort: Nein. Das EU-Parlament hat rechtlich und institutionell nicht den Status, den es als Vertretung der europäischen Bürger:innen verdient. Das zeigt sich am deutlichsten am fehlenden Initiativrecht: Derzeit ist die Aufnahme von Gesetzgebungsverfahren in der EU allein vom politischen Willen der Kommission abhängig. Dass ein Parlament kein Initiativrecht hat, ist sehr ungewöhnlich.

Für das EU-Parlament kann man das durch den historischen Ablauf erklären – es hat sich kontinuierlich mehr Rechte erkämpft und dieser Weg ist noch nicht zu Ende. Es ist jedoch inhaltlich oftmals deutlich fortschrittlicher als die Kommission. Bisher haben wir aber nur die Möglichkeit, die Kommission dazu aufzufordern, selbst einen Gesetzesentwurf vorzulegen. Ursula von der Leyen hatte vor ihrer Wahl bei uns damit geworben, auf jeden unserer Vorschläge mit einem Gesetzgebungsakt zu antworten. Das wäre einem Initiativrecht zumindest nahegekommen. Kurz nach ihrer Wahl ging die Kommission aber prompt zu diesem Versprechen auf Abstand. Bei uns im Parlament läuft aktuell ein Reformprozess, in dessen Zuge wir auch noch einmal intensiv auf eine solche Vereinbarung mit der Kommission pochen werden. Denn eines ist klar: Eine Stärkung des EU-Parlaments bedeutet auch eine Stärkung der Legitimation der EU als Ganzes.

Das EU-Parlament hat nicht den Status, den es verdient.

Frau Barley, zum Zeitpunkt dieses Interviews (Anm.: März 2022) ist die Situation in der Ukraine sehr kritisch. Der Druck aus Moskau auf die europäische Sicherheitsarchitektur wächst. Sie selbst sind gerade in Osteuropa unterwegs gewesen, um sich ein eigenes Bild der Lage zu machen. Als Reaktion auf die Politik des Kremls verhängten die EU und ihre Partner nun schwere Wirtschaftssanktionen, die EU kauft und liefert zum ersten Mal in ihrer Geschichte Waffen. Wie bewerten Sie das Agieren der EU gegenüber Putin?

Die Reaktion auf diese furchtbaren Angriffe sind sicher anders, als Putin das erwartet hat. Das gilt auch für das geschlossene Handeln der EU. Wir haben es geschafft, uns (ausnahmsweise) schnell auf einen gemeinsamen Weg zu einigen. Das ist gerade in der Außenpolitik nicht selbstverständlich angesichts der sehr unterschiedlichen historischen Hintergründe der Mitgliedstaaten. Dieser gemeinsame Weg ist der richtige. Die EU reagiert zu Recht auf die Aggressionen Putins mit empfindlichen Sanktionen und militärischer Hilfe. Die Ukraine braucht unsere volle Unterstützung, auch und vor allem humanitär. Die EU spielt bei der Bereitstellung von Hilfsgütern und der Koordination der Aufnahme von Geflüchteten eine wichtige Rolle. Bisher stehen hier alle Zeichen auf ein geschlossenes Handeln der Mitgliedstaaten und ich hoffe, dass dies so bleibt.

Abschließend: Wenn Sie einen sofort erfüllbaren Wunsch für Europa frei hätten, welcher wäre das?

In Anbetracht der aktuellen Umstände mehr denn je: dass alle Menschen in Europa frei und in Frieden leben können, ohne Unterdrückung von außen oder von innen.

Das Gespräch führten Jerome Radtka und Cara Seeberg.

Katarina Barley (SPD) ist seit 2019 Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments. Zuvor war die deutsch-britische Juristin unter anderem Mitglied des Deutschen Bundestages sowie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für Arbeit und Soziales und zuletzt Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. In Brüssel ist sie Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments.