IG Metall-Politikchef Thorben Albrecht hat mit uns über technischen Fortschritt und die Arbeit von morgen gesprochen. Nicht jede Tätigkeit ist gleichsam flexibel und das führt zu neuen Fragen in den Unternehmen. Denn sozialer Fortschritt hat auch mit Macht zu tun, sagt Albrecht.
Immer wenn es um technologischen Fortschritt geht, warnen Gewerkschaften vor den Gefahren. Sie hingegen betonen die Potenziale. Was stimmt denn nun?
Oft wird nur gefragt: Wie werden wir arbeiten? Stattdessen sollten wir fragen: Wie wollen wir arbeiten? Technischer Fortschritt ist ein starker äußerer Treiber. Zwar gab es in der Vergangenheit immer mal Gegenbewegungen, aber der Fortschritt ermöglichte den Achtstundentag und später die Fünf- statt der Sechstagewoche – durch höhere Produktivität. Dass diese Freiheiten auch mit dem technologischen Fortschritt zusammenhängen, ist unbestritten. Klar ist aber auch: Ob technologischer Fortschritt auch wirklich zu sozialem Fortschritt führt, ist immer auch eine Machtfrage. Daher ist die Rolle der Gewerkschaften hierbei nicht hoch genug einzuschätzen.
Sozialer Fortschritt ist auch eine Machtfrage.
Welchen Einfluss werden der Klimawandel und das Ende des Verbrennungsmotors haben?
Wichtig ist erstmal, dass wir uns dem Thema Dekarbonisierung nicht verschließen und auch ehrlich über ihre Folgen sprechen. Es ist nun einmal so, dass ein Verbrenner komplexer ist als ein Elektromotor. Die abstrakte volkswirtschaftliche Betrachtung, dass insgesamt Arbeitsplätze erhalten werden, weil an anderer Stelle neue entstehen, hilft dem einzelnen Beschäftigten aber nicht weiter. Und hier liegt die Herausforderung: Lebenswege sind nicht komplett veränderbar. Wer heute noch Kolbenteile baut, kann und will morgen meistens nicht einfach in die Krankenpflege gehen. Deshalb müssen wir schauen, unter welchen Rahmenbedingungen die Beschäftigten notfalls ihren Arbeitsplatz wechseln können. Dabei müssen wir dann aber auch sicherstellen, dass für einen Umstieg in einen anderen Bereich auch Arbeitsplätze vorhanden sind, indem wir neue industrielle Arbeitsbereiche nach Deutschland holen – wie etwa die Batterieproduktion.
Die Ampel-Koalition will „mehr Fortschritt wagen“. Haben Sie den Eindruck, dass sie mit dem nötigen Mut loslegt?
Sie hat Mut, Dinge anders zu machen als die Vorgängerregierung. Auch, wenn es uns an manchen Stellen noch nicht weit genug geht. So ist zum Beispiel gut, dass sie beim Thema Energieversorgung ehrlich sagt, dass ein Umstieg von fossilen Kraftstoffen zu elektrischen einen massiven Ausbau der Erneuerbaren voraussetzt. Wir sehen auch, dass sich die Regierung aktiv auf den Weg macht und nicht nur ein paar Gesetze erlässt, um den Rest dem Markt zu überlassen. Abschaffung der EEG-Umlage, neues Strommarktdesign oder Förderung von Wasserstoff und Batterien sind nur ein paar Beispiele in Bereichen, die für uns relevant sind.
Und wo fehlt Ihnen etwas?
Heute sind es häufig die Beschäftigten und nicht die Geschäftsführung, die Veränderung in den Unternehmen fordern und vorantreiben. Das Know-how und die Kreativität der Beschäftigten könnten deutlich besser genutzt werden, um neue Konzepte und Lösungen zu entwickeln. Der Koalitionsvertrag hätte da mehr Möglichkeiten zur Mitsprache vorsehen können.
Was ist Ihr Fazit nach zwei Jahren Pandemie mit Blick auf die Arbeit von morgen?
Die Pandemie hat viele Dogmen aufgehoben, etwa Vorbehalte gegenüber mobilem Arbeiten. Damit ist sie auch zum Digitalisierungstreiber geworden. Es sind aber auch die Grenzen der digitalen Arbeit deutlich geworden. Kreative Prozesse funktionieren einfach besser, wenn wir zusammen in einem Raum sind. Auch weitreichendere Ideen, Arbeit noch stärker auszulagern, müssen wir kritisch beobachten. Denn wenn der Arbeitsort egal ist, liegt der Unterschied zwischen Brandenburg und Indien nur in den Kosten. Da müssen wir sehr aufmerksam sein.
Welche neuen Fragen haben sich in der Pandemie aus Sicht der Beschäftigten ergeben?
Beispiel Arbeitsschutz: Heute arbeiten viele am Küchentisch oder im Kinderzimmer. Das macht Rückenschmerzen, wenn da kein ordentlicher Schreibtisch steht. Aber es verändert auch die Ansprüche an die Flexibilität des Arbeitsplatzes. Dabei kann nicht jeder von den neuen Möglichkeiten profitieren. Wer am Hochofen steht, kann das nicht in die eigene Küche verlegen – Verwaltungsaufgaben hingegen schon. Damit innerhalb eines Betriebes umzugehen, ist und wird herausfordernd.
Sie fordern mehr betriebliche Mitbestimmung zur Gestaltung von Fortschritt. Ist es denn tatsächlich innovationsfördernd, mehr formale Schleifen vorzugeben?
Überall dort, wo Beschäftigte nicht systematisch in die Einführung neuer Technologien eingebunden werden, scheitern diese Vorhaben. Dann wieder von Neuem zu beginnen ist mühsam und verhindert Fortschritt eher. Gerade die Mitbestimmung kann dafür sorgen, das Risiko des Scheiterns deutlich zu minimieren. Natürlich kommt es mit Betriebsräten auch mal zu Konflikten, doch in der Regel sind Betriebsräte bereit und in der Lage, schnell zu entscheiden und wohlwollend zu begleiten. Das hängt jedoch maßgeblich von der Qualität der Zusammenarbeit ab: je mehr Augenhöhe, desto besser.
Wer heute noch Kolbenteile baut, kann und will morgen meistens nicht einfach in die Krankenpflege.
Was kann die Politik tun, um die Zusammenarbeit zu unterstützen?
Expertise ist auf beiden Seiten im Betrieb entscheidend. Heute müssen Betriebsräte für jeden Einzelfall Unterstützung durch Sachverständige von außen beantragen. Mit einem eigenständigen Recht auf dauerhafte Begleitung des Betriebsrats durch externen Sachverstand bei Digitalisierungsfragen könnten wir deutlich schneller sein, da die Beteiligten die Themen langfristig besser durchdringen.
Wie zukunftsfest und -fähig ist denn eigentlich die gewerkschaftliche Bewegung?
Der stete Wandel und die Begleitung von Fortschritt sind schon immer Kernaufgaben von Gewerkschaften gewesen. Wären wir nicht mit der Zeit gegangen, gäbe es uns heute nicht mehr. Gesamtwirtschaftlich ist seit 2008 auch keine Verschiebung mehr von produktiven Bereichen zu den Angestelltenbereichen zu beobachten. Dennoch wollen und müssen wir im Bereich der Angestellten wachsen. Das gelingt uns, indem wir uns um neue Unternehmen und neue Branchen bemühen.
Der Unterschied zwischen Brandenburg und Indien darf nicht nur eine Frage der Kosten sein.
Welche Rolle spielen Frauen bei der IG Metall?
Branchenbedingt sind unter unseren Mitgliedern weniger Frauen. Deshalb achten wir darauf, dass Frauen in den Funktionen in der Gewerkschaft stark vertreten sind. Damit spielen Frauen in der Organisation eine größere Rolle als in der Branche. Das ist enorm wichtig, um neue Mitglieder zu gewinnen.
Wie beschäftigt der Krieg in der Ukraine die IG Metall?
Wir spüren die Auswirkungen der Sanktionen direkt in den Betrieben. Außerdem sind die Lieferketten betroffen und es ist noch völlig offen, wie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland kurz- und langfristig weitergeht. Dennoch unterstützen wir die Sanktionen ausdrücklich und verurteilen die Aggression aufs Schärfste. Daneben engagieren wir uns aktiv für die Gewerkschaften in der Ukraine und für die Geflüchteten hier in Deutschland.
Das Gespräch führten Verena Gathmann und Daniel Flohr.
Thorben Albrecht ist Leiter Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim Vorstand der IG Metall. Davor war er Bundesgeschäftsführer der SPD und von 2014 bis 2018 Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Andrea Nahles. In dieser Funktion begleitete er unter anderem die Einführung des Mindestlohns sowie den Dialogprozess „Arbeit 4.0“. Sein Expertenstatus für digitale Transformation und Arbeit von morgen hat ihm 2017 einen Sitz in der ILO-Arbeitsgruppe „Global Commission on the Future of Work“ eingebracht.