Wenn du schnell gehen willst, dann gehe alleine. Wenn du weit gehen willst, dann musst du mit anderen zusammengehen. So besagt es ein afrikanisches Sprichwort. Besonders bei den Beziehungen zwischen den deutschen Großunternehmen und ihren Branchenverbänden scheint dies aktuell gültig zu sein. Es stellt sich die Frage, warum so viele Großunternehmen auf eigene Repräsentanzen in Berlin setzen und die Interessenvertretung nicht mehr (nur) dem Verband überlassen.
Martin Schörner hat sich im Rahmen seiner Promotion über Jahre intensiv mit der Interessenvertretung durch Verbände auseinandergesetzt und dafür Gespräche mit 42 deutschen Großunternehmen, elf Branchenverbänden und neun Dienstleistern geführt. Wir haben ihn gebeten, seine Erkenntnisse für den Sherpas-Blog in Form von vier Thesen zuzuspitzen.
Ein Gastbeitrag von Martin Schörner
These 1: Die Interessenvertretung hat sich seit dem Regierungsumzug stark verändert
Vor dem Regierungsumzug war die Welt der Interessenvertretung eine andere. Sie war durch den Charakter Deutschlands als ein „Verbändestaat“ geprägt. Die Wurzeln der deutschen Verbände lassen sich problemlos bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen und egal in welcher Epoche, seither wurden die Verbände stets in die politischen Prozesse eingebunden. Unternehmen hingegen waren vor dem Regierungsumzug nur selten präsent, Abteilungen oder Repräsentanzen für politische Angelegenheiten waren eher eine Ausnahme.
Die Berliner Welt der Interessenvertretung hingegen ist lauter, vielfältiger, komplexer. Man spricht auch von einer „Berlinisierung“, als Oberbegriff für drei Entwicklungen. Grundlegende Veränderungen brachte erstens der gesellschaftliche und ökonomische Wandel der Individualisierung. Die Menschen entwickeln in unserer postmaterialistischen Gesellschaft ständig neue, vielfältige Lebensstile. Milieu- und Klassenbindungen hingegen nehmen ab. Das haben bislang besonders die großen Organisationen zu spüren bekommen, wie die Kirchen oder die etablierten Parteien. Auf der Ebene der Unternehmen bedeutete die Individualisierung eine Orientierung der Führungskräfte am Shareholder-Value. Es geht um den individuellen Wert des einzelnen Unternehmens für die weltweiten Shareholder und nicht etwa um den Wert des Unternehmens für die Gesellschaft, für den Staat, den Beitrag zum BIP oder die Zahl der Arbeitsplätze. Die Auflösung der „Deutschland AG“ demonstriert diese Individualisierung auf der Ebene deutscher Großunternehmen: Man will lieber alleine seinen Shareholder- Value steigern, anstatt auf eine Form des rheinischen Kapitalismus zu setzen.
Aus der Individualisierung resultiert als zweite Entwicklung die Pluralisierung, denn vielfältigere Interessen bedeutet mehr Interessenvertreter. Unternehmensrepräsentanzen, Public Affairs-Agenturen, zahlreiche NGOs und eine riesige Zahl von Verbänden prägen heute das Bild des Berliner Regierungsviertels. Und als dritte Entwicklung hat sich die Kommunikation in der Gesellschaft mit der „Medialisierung“ verändert. Das Medienangebot und die Mediennutzung sind mit der Entwicklung von Internet und Smartphones gestiegen. Als Folge müssen die politischen Akteure – d. h. auch die Interessenvertreter – ihre Kommunikation personalisieren, einen Nachrichtenwert erzeugen und die verschiedenen Stakeholder auf dem jeweils richtigen Kommunikationskanal erreichen, damit ihre Botschaften gehört werden.
Der Autor
Martin Schörner ist Politikwissenschaftler und widmet sich in seinem Promotionsprojekt dem Thema Public Affairs. In seiner qualitativ-empirischen Forschung untersucht er speziell deutsche Großunternehmen und deren Aktivitäten in der Interessenvertretung. Zudem arbeitet er als Lehrassistent im Feld von Public Affairs und ist aktuell im Bereich der Energiepolitik tätig.
Bild: Pixabay/aatlas