Dieser Text könnte bereits veraltet sein, bevor Sie den zweiten Absatz erreicht haben. Denn es geht um den aktuellen US-Wahlkampf, der dank eines der Kandidaten fast täglich Eilmeldungen produziert. Früher gab es ungeschriebene Regeln und Erfahrungswerte, die dem Wahlkampf Stabilität und Ordnung gaben. Es gab Orientierungspunkte und feste Leitplanken, die das wilde Toben um das mächtigste Amt der Welt in geordnete Bahnen lenkten. Man war nicht gefeit gegen Überraschungen, aber die großzügig gesetzten Leitplanken gaben Grenzen vor, die jeder kannte und niemand überschritt.

Heute gibt es keine Leitplanken mehr. Seit Donald Trump die Rolltreppe seines New Yorker Wolkenkratzers hinabgefahren ist und seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten verkündet hat, wurden sie Meter für Meter pulverisiert. Niemand weiß mehr, wohin die Reise geht, gefahren wird auf Sicht, alles ist möglich, anything goes.

Dieser Präsidentschaftswahlkampf ist nicht nur anders als vorherige. Er stellt alles auf den Kopf. Binsenweisheiten, mit denen die TV-Experten früher unzählige Sendestunden gefüllt haben, sind wertlos geworden. Und falsch. Große Wählergruppen darf man nicht vor den Kopf stoßen? Im Gegenteil, man darf sogar die größte aller Wählergruppen – die Frauen – beleidigen und kann trotzdem 16 innerparteiliche Gegner aus dem Feld schlagen. Kriegshelden und Menschen mit Behinderung sind als Angriffsziele tabu? Das war einmal, niemand ist mehr sicher vor den Verbalinjurien eines Mannes, der offenbar keine Scham kennt. Trump hat im Vorwahlkampf so viele Tabubrüche heil überstanden, dass sich trotz seiner jüngsten Exzesse und dem Absturz in den Umfragen kaum jemand traut, ihn endgültig abzuschreiben.

Egal, wie diese Präsidentschaftswahl ausgeht – sie ist historisch, einmalig, unbegreiflich. Der Zustand des interessierten Publikums ähnelt der Schockstarre, die das WM-Halbfinalspiel zwischen Brasilien und Deutschland von 2014 unter Fußballfans weltweit ausgelöst hat – nur dass dieses surreale Ereignis nach 90 Minuten vorbei war. „Steht es wirklich 5:0?“, hieß es damals. „Das hat er nicht wirklich gesagt“, heißt es heute. Und ja, es stand tatsächlich 5:0 zur Halbzeit und ja, egal worum es geht und wie unglaublich es klingt: er hat es bestimmt gesagt.

Was bedeutet das alles für die Wahlkämpfe der Zukunft, für Kampagnen, für die politische Kommunikation, in den USA, aber vielleicht auch in Europa? Es wäre Scharlatanerie so zu tun, als ließen sich diese Fragen heute schon beantworten. Aber manche Weisheiten, mit denen wir uns das bunte Treiben amerikanischer Wahlkämpfe bisher erklärt haben, können wir getrost entsorgen – zumindest fürs erste. Fünf seien an dieser Stelle genannt:

1. Geld gewinnt – nicht mehr unbedingt

US-Wahlkämpfe sind teuer. Sündhaft teuer. Wer behauptet, dass amerikanische Wahlkämpfe teurer seien als europäische, der sagt auch, dass China mehr Einwohner hat als Andorra – eine zutreffende Feststellung, aber in ihrer Selbstverständlichkeit und nüchternen Untertreibung irgendwie unpassend. Umgerechnet 670 Millionen Euro hat allein Barack Obama im letzten Wahlkampf ausgegeben, bei seinem Rivalen Mitt Romney waren es zwar weniger, aber immer noch rund 440 Millionen Euro. Am Ende des Wahlkampfes 2016 werden Schätzungen zufolge alle Präsidentschaftskandidaten zusammen – inklusive der Unterlegenen im Vorwahlkampf –  etwa 2,7 Milliarden Euro investiert haben. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 2013 haben die deutschen Parteien zusammen 65 Millionen Euro in den Wahlkampf gesteckt, die Japaner im selben Jahr gerade mal 11 Millionen Euro.

Für die gewaltigen Summen im US-Wahlkampf gibt es viele Gründe, aber der Wichtigste liegt auf der Hand: Es lohnt sich. Reagan, Bush Senior, Clinton, Bush Junior, Obama – sie alle haben mit der pralleren Kriegskasse den Kampf ums Weiße Haus gewonnen. Die Spendeneinnahmen der Kandidaten sind inzwischen ein wichtiger Indikator, ob eine Kandidatur überhaupt ernst zu nehmen ist – von money primaries sprechen die Medien.

Dann kam Donald Trump. Er brauche keine korrumpierenden Spendengelder, weil er selber reich sei, tönte der Immobilien-Mogul in den Vorwahlen. Nur wollte er auch sein eigenes Geld nicht in einem Vorwahlkampf verbrennen. Also schonte er seinen Geldbeutel und verzichtete lange Zeit auf kostspielige TV-Spots. Die Washington Post hat ausgerechnet, wie viel Geld die Kandidaten pro Stimme in Iowa ausgegeben haben, dem hart umkämpften ersten Vorwahl-Staat: 5.200 Dollar ließ sich Jeb Bush jede einzelne Stimme kosten, auf 3.100 Dollar kam der ehemalige Chirurg Ben Carson, der Iowa-Gewinner Ted Cruz investierte 700 Dollar pro Wähler. Trump investierte gerade mal 300 Dollar pro Stimme und belegte einen guten zweiten Platz, nur drei Prozentpunkte hinter seinem Rivalen aus Texas.

Cruz, Bush, Rubio – sie alle waren finanziell gut gerüstet für den Kampf gegen Trump, aber am Ende chancenlos. Inzwischen ist auch das Trump-Team bemüht, großzügige Spender zu bezirzen und die Wahlkampfkasse zu füllen. Aber den Vorwahlkampf, den hat Trump mit der Sparsamkeit einer schwäbischen Hausfrau bestritten – und gewonnen.

2. Die eigenen Leute hinter sich versammeln – oder eben nicht

Im Wahlkampf die Reihen schließen, Geschlossenheit ist Trumpf, der Spitzenkandidat bekommt die volle Unterstützung – nichts haben Wahlkämpfer mehr verinnerlicht als die Überzeugung, dass interner Streit die Wähler vertreibt. Das gilt diesseits und jenseits des Atlantiks.

Nur für Trump eben nicht. Low-Energy Jeb, Little Marco, Lyin’ Ted – Trumps Beleidigungsmaschine hat aus der natürlichen Rivalität eines Vorwahlkampfs ewige Feindschaften gemacht. Der Bush-Clan schweigt zur Trump-Kandidatur und blieb dem Krönungsparteitag fern. Ted Cruz kam, sprach und empfahl, unter den anschwellenden Buh-Rufen der Trump-Anhänger, am Wahltag „dem Gewissen zu folgen“ – also eher nicht Trump. Paul Ryan, der Sprecher des Repräsentantenhauses, brauchte eine halbe Ewigkeit, um sich zu einer gewundenen Unterstützung des Kandidaten durchzuringen – anfangs hatte er erklärt, er sei „noch nicht bereit“, sich hinter den Kandidaten seiner Partei zu stellen. Ganze Bataillone von prominenten und weniger prominenten Republikanern schweigen zur Kandidatur Trumps – oder stellen sich in offenen Briefen und Erklärungen gegen ihn.

Allein: es interessiert weder Trump noch die breite Öffentlichkeit. Der Kandidat steckt zwar seit Wochen im Umfragetief. Aber der Absturz in der Wählergunst ist kaum auf die mangelnde Unterstützung seiner Partei zurückzuführen. Denn parteiinterne Kritik begleitet ihn seit der denkwürdigen Verkündung seiner Kandidatur, ohne nennenswerte Wirkungstreffer zu erzielen. Für viele Trump-Wähler ist die Ablehnung durch die Partei weniger Makel denn Ritterschlag für einen Kandidaten, der ohne Rücksicht auf Verluste das Partei-Establishment herausfordert.

3. Tabus bleiben tabu – bis sie einer bricht

Unter normalen Umständen hätte der Kandidat Trump unmittelbar nach Verkündung seiner Kandidatur wieder zurücktreten müssen. Fast beiläufig hatte er Millionen von mexikanischen Einwanderern als Vergewaltiger beleidigt. Dass dieser Wahlkampf nicht normal werden würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

Gut ein Jahr danach braucht man leistungsstarke Datenbanken, um den Überblick über Trumps Tabubrüche zu behalten. Er verunglimpft ethnische Minderheiten, stellt eine Weltreligion unter Generalverdacht, unterstellt kritisch nachfragenden Journalistinnen eine menstruationsbedingte Feindseligkeit und ruft auf Wahlveranstaltungen unverhohlen zur Gewalt auf, wahlweise gegen Störer, Journalisten oder Hillary Clinton. Er beleidigt Regierungschefs befreundeter Staaten, hofiert Staatschefs nicht-befreundeter Staaten, ruft Russland zur Spionage in den USA auf und erklärt Obama und Clinton zu ISIS-Gründern. Den Einsatz von Atomwaffen hält er für eine normale Option, Waterboarding für zu lasch und die Tötung der Familien von Terroristen für ein legitimes Mittel der Kriegsführung. Selbst Kriegshelden wie John McCain oder die Familie Khan nimmt er ins Visier, wenn sie ihn kritisieren, das Purple Heart, eine Auszeichnung für Kriegsversehrte und Angehörige gefallener Soldaten, nimmt er aber gerne entgegen, weil er es „schon immer haben wollte“. Der Tiefpunkt war vielleicht das scheußliche Nachäffen eines körperlich behinderten Journalisten, aber andererseits: im innersten Kreis der Hölle, dem Erdmittelpunkt, gibt es keine Höhenunterschiede.

Trumps ganzer Wahlkampf beruht auf Provokationen und Tabubrüchen. Medien und Öffentlichkeit sind süchtig nach dem nächsten Kick und wie bei Drogensüchtigen muss die Dosis ständig erhöht werden. Vielleicht hat er endgültig überzogen, als er die Eltern eines gefallenen Soldaten attackiert hat. Aber er hat es mit seinen menschenverachtenden Beleidigungen und Beschimpfungen unfassbar weit gebracht. Tabus sind nicht mehr tabu.

4. Die Lüge meiden – oder die Wahrheit ignorieren

In Wahlkämpfen werden die Wahrheit gebogen und die Fakten verdreht, die Bilanzen beschönigt und die Rivalen dämonisiert. Und manchmal wird auch glatt gelogen. Aber man sollte der Wahrheit doch näherstehen als der Lüge, zumindest wenn es um reine Fakten geht.

Es sei denn, man heißt Donald Trump. Eine Auswahl aus der Parallelwelt des Präsidentschaftskandidaten: Die Arbeitslosenquote liege bei 42 Prozent (sie liegt bei
5 Prozent), die Zahl illegaler Immigranten bei 34 Millionen (es sind Schätzungen zufolge
11 Millionen), die Kriminalität nehme zu (sie sinkt). Obama wolle 250.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen (nicht einmal knapp daneben) und habe mit einer Fundraising-Reise nach New York den Steuerzahler 25 bis 50 Millionen Dollar gekostet (allein die Spannbreite von
25 Millionen ist absurd). Trump deutete an, der Vater seines Rivalen Ted Cruz habe mit dem Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald unter einer Decke gesteckt (Unsinn) und Tausende von Muslimen hätten am 11. September in Jersey City auf den Straßen gejubelt, als die Türme des World Trade Centers einstürzten (kompletter Unsinn). Für den Fall einer Niederlage hat er schon vorgebaut und erklärt, die Wahl sei manipuliert – Monate, bevor ein einziger Bürger gewählt hat.

Das Online-Portal Politifact hat sich die Mühe gemacht, diverse Trump-Äußerungen zusammenzutragen und auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ergebnis: Von insgesamt
221 Äußerungen sind nur 66 entweder wahr (4 %), größtenteils wahr (11 %) oder halbwahr (15 %). 155 Statements sind größtenteils falsch (15 %), komplett falsch (36 %) oder hanebüchener Unsinn („pants on fire“, 19 %). Zum Vergleich: Von Hillary Clinton wurden
191 Äußerungen untersucht. Immerhin 123 fielen in den Wahrheitsblock (22 % wahr,
28 % größtenteils wahr, 22 % halbwahr), 68 waren teils (15 %) oder ganz falsch (11 %) bzw. kompletter Unsinn (2 %).

Betrachtet man diese Zahlen und Trumps teils absurde Behauptungen, die seinem Erfolg ja nicht abträglich waren, ist man geneigt, dem Europa-Abgeordneten und Satiriker Martin Sonneborn zuzustimmen: Inhalte überwinden!

5. Benimm Dich wie ein Präsident – oder so ähnlich

Man muss sich die Sätze auf der Zunge zergehen lassen, mit denen Trumps außenpolitischer Berater Walid Phares dessen Grundsatzrede zur US-Außen- und Sicherheitspolitik pries: “That exactly shows the evolution, a mature evolution, based on input, on information. He actually operates now almost like a president listening to advisers, people in the intelligence or [who] worked in the intelligence, defense, diplomacy.“

„Er handelt nun fast wie ein Präsident…“, nach einem Reifeprozess, basierend auf Input und Informationen. Und er hört nun zu, wenn Experten ihm Ratschläge erteilen. Solche Sätze erklären manche der verblüffenden Volten, mit denen Trump seit über einem Jahr die Weltöffentlichkeit in Atem hält. Er war unreif, uninformiert und ignorierte die Expertenratschläge. Aber jetzt ist er allmählich auf dem Weg, wie ein Präsident zu handeln. Zur Erinnerung: Das sagen nicht seine Gegner oder Kritiker, das alles erklärt sein Berater.

Präsidial sein und wirken – das ist der Lackmustest für alle Kandidaten. In Deutschland fragt man gerne „Kann der Kanzler?“ Es geht letztlich darum, ob der Kandidat oder die Kandidatin die charakterliche Eignung und Führungskraft, die Kompetenz und Erfahrung, die Würde und das Temperament, die persönliche Reife und politische Durchsetzungsfähigkeit besitzt, die das mächtigste Amt eines Landes erfordert.

Man kann darüber streiten, ob Trump irgendeine dieser Bedingungen auch nur annähernd erfüllt. Auf jeden Fall fällt es schwer, sich den Kandidaten der Republikanischen Partei bei einer Antrittsrede vor dem Kapitol, am Schreibtisch im Oval Office, bei einem Pressetermin im Rosengarten oder bei einem Staatsbesuch wo auch immer vorzustellen. Anstand, Gravitas und ein Wortschatz, der den komplexen Herausforderungen einer Weltmacht gerecht wird – all das fehlt dem New Yorker Immobilienhändler und TV-Entertainer. Aber auch das hat einen signifikanten Teil der amerikanischen Wählerschaft bisher nicht gestört.

Die populistische Herausforderung

Auch wenn Trump am 8. November verlieren sollte, was keineswegs sicher ist – er hat den US-Wahlkampf revolutioniert, Grenzen zertrümmert, die als unzerstörbar galten und Weisheiten beerdigt, die für die Ewigkeit gedacht waren. Beunruhigend sind die negativen Stimmungen und Schwingungen, die sich in den vergangenen Monaten hochgeschaukelt haben. Amerikas politisches System ist über mehr als zwei Jahrhunderte organisch gewachsen und seine Demokratie hat sich als unverwüstlich erwiesen. Aber einen wie Trump hat diese Demokratie noch nicht erlebt. Sein Erfolg, egal wie die Wahl am Ende ausgeht, ist ein Symptom dafür, dass etwas aus den Fugen geraten ist und die alten Mechanismen des Wahlkampfs deshalb nicht mehr funktionieren. Die Entfremdung von politischen Eliten und großen Teilen der Wählerschaft, die zunehmende Ungleichheit von Arm, Reich und Superreich, die ideologische Abschottung und Radikalisierung der politischen Lager – all das hat zu tektonischen Verschiebungen und einem Auseinanderdriften der Gesellschaft geführt. Und damit ist noch kein Wort verloren über den Schaden für die politische Kultur, den dieser Wahlkampf angerichtet hat. Ob es eine Rückkehr zu den traditionellen Formen der politischen Auseinandersetzung gibt, ist ebenso offen wie die Frage, ob die amerikanische Gesellschaft wieder zu einem gemäßigten Umgang miteinander findet.

Und Europa? Großbritanniens Boris Johnson ist kein Donald Trump, aber genügend Unheil hat er angerichtet. In Frankreich hat es der rechtsradikale Le Pen in die Stichwahl um das Präsidentenamt geschafft, auch seiner Tochter wird einiges zugetraut. Nationalistische Regierungen in Polen und Ungarn, rechtspopulistische Parteien in Skandinavien, Geert Wilders in den Niederlanden, in Deutschland Pegida und AfD. Auch politische Verrücktheiten sind uns nicht fremd, von Berlusconi und Grillo in Italien bis zu Ronald Schill im gediegenen Hamburg. Europa hat wahrlich keinen Grund, sich über die USA zu erheben. Denn Antworten auf die populistische Herausforderung für die politische Kommunikation haben beide noch nicht gefunden.

 

Der Autor

Klaus Harbers ist Managing Director bei den 365 Sherpas. Sein Schwerpunkt ist die Kommunikations- und Medienberatung für Ministerien, Unternehmen und Verbände.

 

Quellen

Hans Christian Müller und André Schorn, Wahlkampf der Superlative, Handelsblatt (25. Juli 2016), Seite 24 – 25

Philip Bump, The Fix: Jeb Bush has spent more than $5,000 per vote so far, Washington Post (2. Februar 2016), https://www.washingtonpost.com/news/the-fix/wp/2016/02/02/jeb-bush-has-spent-more-than-5000-per-vote-so-far/ am 11. August 2016

Politifact, USA: Donald Trump’s file and Hillary Clinton’s file, https://www.politifact.com/personalities/donald-trump/ and https://www.politifact.com/personalities/hillary-clinton/ am
15. August 2016

Nick Gass und Nolan D. McCaskill, Politico (16. August 2016) https://www.politico.com/story/2016/08/trump-poll-august-slide-227051 am 17. August 2016

 

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