Wahrheit ist ein großes Wort. Und selbstverständlich sollten wir der Wahrheit in allen Bereichen unseres Lebens verpflichtet sein. Aber es gibt kaum einen Bereich, in dem die Wahrheit eine so zentrale Rolle spielt wie in Politik und Medien.
Ist die Wahrheit dem Menschen wirklich zumutbar, wie Ingeborg Bachmann postulierte? Und ist sie das zu jedem Zeitpunkt und im vollen Ausmaß? Ist ein:e Politiker:in ausnahmslos der Wahrheit verpflichtet? Auch dann, wen er/sie mit dem Aussprechen der Wahrheit Panik oder eine wirtschaftliche Katastrophe auslösen kann? Oder ist es nicht manchmal auch eine Frage der politischen Verantwortung, die Wahrheit nur dosiert zu präsentieren? Schon Max Weber riet Politiker:innen dazu, die Folgen der Wahrheit zu bedenken. Gibt es denn höhere Ziele und Ideale, die es rechtfertigen, nicht die Wahrheit zu sagen? Wenn ein:e Politiker:in nicht alles sagt, sondern nur einen Teil, kann man ihm/ihr dann schon vorwerfen, nicht die Wahrheit gesagt zu haben? Ist es legitim zu negieren, dass es in einem bestimmten Politikbereich dringenden Reformbedarf gibt, weil die notwendigen Eingriffe Massenunruhen in der Gesellschaft zur Folge hätten?
Ein:e Politiker:in, die ehrlich anspricht, dass das Pensionssystem dringend zu reformieren ist, muss mit einem Verlust an Wähler:innenstimmen rechnen. Soll er/sie aus Verantwortungsbewusstsein trotzdem ehrlich sein und riskieren, das Amt zu verlieren und damit gar keine Reform mehr initiieren zu können? Oder wäre es besser, die Wahrheit nur stückweise und defensiv zu präsentieren, um so niemanden zu schnell zu vergrämen und damit längerfristig den Boden für Reformen aufzubereiten? Das sind ethische Fragen, denen sich jeder Mensch, der in politischer Verantwortung steht, stellen muss.
Die Medien wiederum kämpfen mit dem Mythos der „Lügenpresse“ – geschaffen von Menschen, die die Medien als Teil einer großen, weltweiten Verschwörung sehen, die zu Ziel hat, uns alle einer dunklen Macht zu unterwerfen. Der Vorwurf trifft die Medien besonders hart, sind sie doch per Ethikkodex der Wahrheit verpflichtet. Aber ist nicht die redaktionelle Auswahl von Themen und deren Aspekten schon eine Entscheidung, welchen Teil der Wahrheit sie erzählen? Wie kann es „alternative Fakten“ geben, die ein völlig anderes Bild der Realität, eine andere Wahrheit darstellen? Ist es Aufgabe oder gar Verpflichtung der Medien, auch Meinungen jenseits des wissenschaftlichen Grundkonsenses oder gar Weltverschwörungstheorien Raum zu geben?
Aber es reicht schon eine alltägliche Situation, um den Begriff Wahrheit zu hinterfragen: Wenn ein großes politisches Ereignis stattfindet und ich lese darüber am nächsten Tag in zwei verschiedenen Zeitungen, kann es vorkommen, dass ich dasselbe Ereignis auf zwei völlig unterschiedliche Weisen wahrnehme. In der einen Version hat die Politikerin A einen großen Sieg davon getragen, während der Politiker B nun Sorge um seine politische Zukunft haben muss. In der anderen Version liest sich das genau umgekehrt. Haben denn diese beiden Medien nicht vom selben Ereignis berichtet? Oder interpretieren sie die Realität nur auf unterschiedliche Weise? Und sind Realität und Wahrheit zwei verschiedene Dinge?
Gleichzeitig müssen sich Leser:innen auf die Informationen, die Journalist:innen für sie aufbereiten, verlassen können. Denn sie können unmöglich selbst an allen Pressekonferenzen, Gipfeltreffen und Veranstaltungen teilnehmen, um sich selbst ein umfassendes Bild insbesondere von politischen Ereignissen zu machen. Das lässt die Verantwortung von Medien umso schwerer wiegen.
Eine Verantwortung, der sich manche Soziale Medien hingegen kaum stellen. Viele von ihnen verstehen sich lediglich als Kommunikationsplattformen, auf denen jede:r seine eigene Wahrheit präsentieren kann. Dass sich diese Selbstzuschreibung nicht aufrechterhalten lässt, zeigt sich erstens an ihrem Einsatz von Algorithmen, die dafür sorgen, dass ich nur jenen Teil der Wahrheit zu Gesicht bekomme, der meinem Weltbild entspricht. Und damit gleite ich immer mehr hinein in eine Blase, die mit der umfassenden Realität nichts mehr zu tun hat. Und es zeigt sich zweitens an der wachsenden Zahl von Eingriffen der hinter diesen Plattform stehenden Unternehmen in die Freiheit ihrer User:innen das zu posten, was sie wollen – bis hin zum Sperren von Accounts, auf denen systematisch Unwahrheit verbreitet wird.
Wahrheit ist die Schwester des Vertrauens. Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass das, was Politiker:innen und Journalist:innen mir sagen, die Wahrheit ist, dann kann ich vertrauen. Mit Glaubwürdigkeit und Vertrauen können Politik und Medien die Menschen an sich binden. Und wir alle haben das Bedürfnis zu vertrauen. Doch haben Menschen wenig Vertrauen in jene Menschen, die Politik machen und für Medien schreiben. Das zeigt sich in den Vertrauensrankings, in denen sich Politiker:innen und Journalist:innen regelmäßig ein Match um die letzten Plätze liefern.
Wir sehen: Wahrheit ist ein weites Feld zwischen Politik und Medien. Grund genug, sich diesem großen Thema im Rahmen eines Podcasts zu widmen: Gemeinsam mit dem Filmschaffenden und Journalisten Golli Marboe bespreche ich unter dem Titel „Die Halbstunde der Wahrheit“ alle zwei Wochen aktuelle oder grundsätzliche Aspekte dieses Spannungsfelds – aber nie länger als 30 Minuten.
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