Der Meinungsforscher und Politikberater Richard Hilmer im Gespräch über die Probleme der Union, die Fehler der SPD und das Misstrauen der AfD-Wähler.

365 Sherpas: Wir haben jetzt sechs Fraktionen im Parlament, früher waren es mal drei. Die Ausschläge bei Wahlen nach oben und unten erinnern an Seismographen bei einem Erdbeben, früher glichen sie eher einer sanften Hügellandschaft. Unsere Demokratie ist nicht gerade berechenbarer geworden, die Regierungsbildung nicht einfacher. Lässt sich dieser Trend drehen?

Hilmer: Schwerlich. Dieser Trend ist Ausdruck einer Gesellschaft, die viel segmentierter geworden ist. Sie lässt sich nicht mehr so klar in unten und oben, rechts und links und entlang der Volksparteien aufteilen. Es gibt viel mehr Bewegung, vor allem in den jüngeren Wählerschichten. Bei den über 70-Jährigen sind die Volksparteien fast so stark wie früher, aber das nimmt rasant ab, je jünger die Wählergruppe ist. Bei den jüngsten Wählern sind SPD und CDU Parteien wie alle anderen auch. Insofern ist es unwahrscheinlich, dass der Trend sich in absehbarer Zeit drehen lässt.

365 Sherpas: Sind denn wenigstens die politischen Lager noch intakt?

Hilmer: Auch hier hat sich einiges bewegt. Früher gab es Parteien links des Spektrums: SPD, dann Grüne, zuletzt ist die Linkspartei dazugekommen. Das rechte Spektrum wurde beherrscht von der Union. Was wir aber während der Kanzlerschaft von Frau Merkel erlebt haben, ist eine deutliche Wende der CDU in Richtung Mitte, sie wurde in Befragungen sogar schon links der Mitte zugeordnet. Und deshalb ist natürlich ein riesiger Raum rechts der Mitte entstanden, den derzeit die AfD füllt. Die Folge: Langfristig könnte die AfD ein großes Problem für die Union werden. Die CSU weiß das, die CDU ahnt es und beide stellen sich auf schwierige Zeiten nach Merkel ein.

365 Sherpas: Aber die Strategie der Kanzlerin war unterm Strich doch erfolgreich.

Hilmer: Richtig ist, dass mit dem Merkel-Kurs die strategischen Wahlziele der Union erreicht werden konnten. Die Frage ist aber, ob dieser Kurs langfristig die politische Landschaft beschädigt, weil er den Wählern die Orientierung erschwert.

365 Sherpas: In der Tat hat die Union in der Ära Merkel einige Kehrtwenden vorgenommen, von der Familienpolitik über den Atomausstieg bis zur Ehe für alle. Innerparteilichen Widerstand gab es aber erst bei der Flüchtlingspolitik.

Hilmer: Das stimmt. Der überraschende Kurswechsel in der Energiepolitik zum Beispiel war recht unproblematisch, weil der Atomausstieg nach langer Diskussion eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich hatte. Bei der Flüchtlingspolitik sah das ganz anders aus. Dieses Thema war nicht ausdiskutiert und die Folgen sind spürbar für viele Menschen.

365 Sherpas: Hat die Bundesregierung das Thema unterschätzt?

Hilmer: Sie wusste sicherlich, dass da etwas auf sie zukommen könnte. Es ist ja anfangs gelungen, mit diesem „Wir schaffen das“ ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen, das auch eine Weile getragen hat. Aber danach hat die Bundesregierung nicht ausreichend deutlich gemacht, wie sie es schaffen will. Man hatte den Eindruck, dass das Management der Flüchtlingskrise vor allem bei den Ländern, Kommunen und den vielen ehrenamtlichen Helfern lag. In so einer Situation ist aber vor allem die Bundespolitik gefordert.

365 Sherpas: Im Wahlkampf hatte man lange Zeit den Eindruck, dass sich das Thema Flüchtlingspolitik weitgehend erledigt hat …

Hilmer: … das war ein Gesundbeten. Die Forschungsgruppe Wahlen hat vor der Wahl jeden Monat gefragt, was das wichtigste Problem sei, das die Politik zu lösen hat. Da wurde durchweg an erster Stelle die Flüchtlingspolitik genannt. Sie hatte zwischenzeitlich an Brisanz und Emotionalität verloren, aber auch in der Nachwahlerhebung zeigte sich, dass es eines der wichtigsten Motive für die Wahlentscheidung war, kombiniert mit der inneren Sicherheit, was das Ganze noch brisanter macht.

365 Sherpas: Manche meinen, dass das Thema erst im Wahlkampf, unter anderem durch das TV-Duell, wieder an Bedeutung gewonnen hat. Wie sehen Sie das?

Hilmer: Das Thema war immer da. Es spielte im Alltag der Leute eine wichtige Rolle und es wurde mit jedem Ereignis, vor allem in Verbindung mit innerer Sicherheit, wieder hochgespült. Es ist während der Flüchtlingskrise der Eindruck entstanden, dass der Staat die Kontrolle verloren hat. Dieses Gefühl der Menschen abzubauen, wäre wichtig gewesen, und das ist offenbar nicht ausreichend geschehen. Man hätte mit dem Thema sachlich umgehen können, ebenso mit der AfD, aber man hat lieber versucht, es zu verschweigen. In dieser Hinsicht waren die Verantwortlichen ziemlich blauäugig.

365 Sherpas: Ein Blick zur SPD: Der Aufstieg von Martin Schulz zu Jahresbeginn war ebenso atemberaubend wie sein Absturz ein paar Wochen später. Wie war das möglich?

Hilmer: In dieser Phase waren die Spurenelemente der Volkspartei SPD erkennbar. Es gibt die grundsätzliche Bereitschaft, die SPD als Alternative zur Volkspartei CDU ­anzuerkennen – das Potenzial ist durchaus da, die SPD hat bei der Forschungsgruppe Wahlen in der politischen Stimmung für kurze Zeit ja einen Sprung von 21 auf 42 Prozent gemacht. Es war auch ein Vorteil, dass Martin Schulz als Europapolitiker nicht so präsent und bekannt war wie viele SPD-Bundespolitiker, er schien für einen Neuanfang, einen Aufbruch zu stehen. Er hat auch Hoffnungen und Erwartungen geweckt, mit seiner Diktion, seiner Ansprache, seinem Auftreten.

365 Sherpas: Und was ist dann schiefgelaufen?

Hilmer: Dann war zwei Monate Sendepause, der Kandidat war während der Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und vor allem in Nordrhein-Westfalen abgetaucht. Ein großer Fehler, wie man im Nachhinein weiß. Wer einen Kurswechsel verspricht, muss kommunikativ Druck im Kessel halten.

365 Sherpas: War es denn richtig, auf  das Thema soziale Gerechtigkeit zu setzen?

Hilmer: Grundsätzlich ja. Nachwahlerhebungen belegen, dass es prinzipiell das richtige Thema war. Sie zeigen, dass dieses Thema die Leute umgetrieben hat, vor allem die Mehrheit der Wähler von SPD und der Linkspartei. Es gibt auch Indizien dafür, dass der kurzzeitige Aufschwung der Schulz-SPD auf das Thema soziale Gerechtigkeit zurückzuführen war.

365 Sherpas: Nach „Grundsätzlich ja“ kommt meistens ein „Aber“.

Hilmer: Aber soziale Gerechtigkeit ist erst einmal nur eine leere Floskel. Man muss sie füllen mit konkreten Themen. Altersarmut ist für die Menschen ein wichtiges Thema, auch die steigenden Mieten in den Städten. Da kam dann zu wenig.

365 Sherpas: Erreicht man mit diesen Themen denn genügend Wähler?

Hilmer: Früher ist es der SPD gelungen, die Interessen der liberalen Mittelschicht mit denen der unteren Einkommensschichten zu verbinden. Aber gerade die, die wenig haben, erreicht die SPD immer schlechter. Und die suchen dann nach Alternativen.

365 Sherpas: Die sie dann meistens weit links oder auch ganz rechts finden?

Hilmer: Nach der Neugründung der Linken 2007 mit Lafontaine und Gysi an der Spitze sind viele ehemalige SPD-Wähler dort gelandet. Andere überwintern in der Nichtwählerschaft, manche unterstützen inzwischen die AfD.

365 Sherpas: Die AfD ist ein gutes Stichwort, um zu Ihrem Kerngeschäft, der Meinungsforschung, zu springen. Die AfD wurde lange unterschätzt, auch in den Umfragen. Bei einigen Landtagswahlen 2016 lag man kräftig daneben. Was war da los?

Hilmer: Wir hatten in der Vergangenheit das Problem, dass Wähler von rechtsradikalen Parteien sich ungern als solche bekennen – das muss man bei der Auswertung berücksichtigen. Bei der AfD kam hinzu, dass sie als neue Partei schlecht einzuschätzen war. Unter Lucke war sie eher rechtskonservativ, inzwischen hat sie deutliche Tendenzen in Richtung Rechtsradikalität. 2016 lagen die Institute tatsächlich etwas daneben, inzwischen sind die Umfragen aber wieder präziser.

365 Sherpas: Die AfD-Wähler bekennen sich also inzwischen zu ihrer Wahlentscheidung?

Hilmer: Ja, wenn sie sich an Umfragen beteiligen. Das ist das eigentliche Problem: die mangelnde Bereitschaft dieses Wählermilieus, an Umfragen teilzunehmen.

365 Sherpas: Woran liegt das?

Hilmer: Politikforscher und Umfrageinstitute werden von ihnen als Teil des Estab­lishments betrachtet und deshalb begegnen sie uns mit demselben Misstrauen, das sie auch gegenüber Politik und Medien an den Tag legen. Deshalb bekommen wir diese Wählerschaft über die klassische Erhebungsform, das Telefoninterview, nur unterrepräsentiert erfasst und müssen justieren. Dabei ist es hilfreich, dass wir in Deutschland sehr viele Wahlen haben. Wir kennen die unterschiedliche Bereitschaft, an Interviews teilzunehmen, sehr gut und können sie einpreisen. Die Grünen-Wähler zum Beispiel sind eher bereit zu antworten als andere Wählergruppen. Sie sind deshalb immer deutlich überrepräsentiert in Umfragen. Das wird dann ebenso ausgeglichen wie die mangelnde Teilnahmebereitschaft der AfD-Wähler.

365 Sherpas: Ist es für die Meinungsforscher ein Problem, dass der Anteil der Briefwähler zunimmt, während gleichzeitig viele Wähler ihre Entscheidung erst in der Wahlkabine treffen?

Hilmer: Die Exit Polls sind zwar erfahrungsgemäß sehr präzise, weil dort die Wähler direkt nach ihrer Wahlentscheidung persönlich befragt werden. Durch den wachsenden Briefwähleranteil repräsentieren die Befragten aber nur noch knapp drei Viertel der Wähler, Tendenz abnehmend. Das Wahlverhalten der Briefwähler muss geschätzt und den erhobenen Daten der Urnenwähler zugespielt werden. Das Gute ist, dass die Briefwähler zwar ein wenig anders wählen als Urnenwähler, die Struktur aber relativ konstant ist. Zum Beispiel wissen wir, dass die CDU bei den Briefwählern etwas besser abschneidet. Den Umfrageinstituten liegen Erfahrungswerte vor, die in die Schätzung einfließen. Deswegen sind die Exit Polls immer noch extrem genau. Der wachsende Briefwähleranteil ist aber trotzdem ein Problem.

365 Sherpas: Warum?

Hilmer: Was ist, wenn kurz vor der Wahl etwas passiert, was die Wahlentscheidung beeinflussen könnte? Dann hat ein Viertel der Wähler unter völlig anderen Prämissen die Entscheidung gefällt als die anderen drei Viertel. Wir hatten solche Konstellationen ja schon, denken Sie an die Bundestagswahl 2002, als die Themen Flut und Irakkrieg den Wahlkampf kräftig durchgeschüttelt haben. Gott sei Dank war der Briefwähleranteil damals noch deutlich geringer. Früher war die Briefwahl eine Ausnahmeregelung und musste begründet werden, mittlerweile ist es ganz normal, fünf Wochen vor dem Wahltermin zu wählen. Ich halte das für keine gute Entwicklung, weil die Grundlagen für die Wahlentscheidung nicht mehr ohne weiteres vergleichbar sind.

365 Sherpas: Herr Hilmer, vielen Dank für das Gespräch.

 

Das Gespräch führten Sonja Ludwig und Klaus Harbers.

 

Richard Hilmer hat die öffentliche Wahl- und Politikforschung in Deutschland geprägt. Er trat 1982 bei Infratest ein, hat 1997 Infratest dimap mitbegründet und war bis Mai 2015 alleiniger Geschäftsführer. Seit 2015 leitet er als Geschäftsführer die pmg – policy matters Gesellschaft für Politikforschung.

 

Das Interview ist im Dezember 2017 in unserem Jahresbrief „Haltung“ erschienen, Thema der Ausgabe ist „Neue Berechenbarkeit“. 

 

Bild: David Wischerhoff