von Felix Lennart Hake, Tobias Jerzewski und Maren Meinzinger
Als wir vor wenigen Monaten an dieser Stelle über die Präsidentschaftswahl in Frankreich geschrieben haben, deutete sich bereits an, dass unserem Nachbarland herausfordernde Zeiten in politischer wie gesellschaftlicher Hinsicht bevorstehen. Und in der Tat: Zwei große Wahlen, zur Präsidentschaft sowie zur Assemblée Nationale, hat es gebraucht, dass der alte-neue Präsident zwar immer noch Emmanuel Macron heißt – aber keine absolute Mehrheit im Parlament mehr hat. Wir fragen uns: Welche Projekte kann ein geschwächter Präsident Macron auf nationaler wie europäischer Ebene in relevanten Politikfeldern noch vorantreiben?
Doch wie genau kam es zu dieser Entwicklung? Am 24. April 2022 hatte es ein sichtlich erleichterter Emmanuel Macron geschafft: Er gewann die Stichwahl um die Präsidentschaft mit 58,5 Prozent der Stimmen gegen die Rechtsextreme Marine Le Pen (41,5 Prozent). Angesichts der gesunkenen Popularität Macrons in Frankreich ein deutliches Ergebnis – der republikanische „Front“ aus Konservativen und vor allem den Linken Parteien hatte ihm erneut seine Stimme gegeben. Dennoch handelt es sich hier gleichzeitig um einen geringen Abstand: Noch nie in der Geschichte der 5. Republik erreichte ein:e Vertreter:in des rechtsextremen Rassemblement National (ehemals Front National) ein derart starkes Ergebnis. Im Anschluss an seine Wahl zeigte sich Frankreichs Präsident demütig und versprach eine „neue Ära“.
In Folge einer ersten Regierungsumbildung ernannte Macron eine Vertraute, Elisabeth Borne, zur neuen Premierministerin und signalisierte damit wenige Wochen vor den wichtigen Parlamentswahlen vor allem Kontinuität. Unterdessen gelang es der extremen Linken unter Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon die vielen linken Parteien (Sozialisten, Grüne, usw.) zu einen und zusammen bei den Parlamentswahlen anzutreten. Die demonstrierte Einigkeit und Positionierung als Gegenblock zu Macrons Regierungspartei sowie dem Rassemblement National führte zu einem Achtungserfolg: Die Nouvelle union populaire écologique et sociale (Neue ökologische und soziale Volksunion, kurz NUPES) erhielt 131 Sitze in der neuen Assemblée Nationale, die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen 89 Sitze und Macrons Partei lediglich eine relative Mehrheit von 245 Sitzen. Somit ist Macrons Regierung gezwungen wechselnde Mehrheiten zu finden, was die Rolle des Parlaments deutlich stärkt.
Wir werfen im Folgenden einen Blick auf drei Themenbereiche, die im Kontext der aktuellen geo-, umwelt- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen sowohl für die deutsch-französische als auch die europäische Zusammenarbeit in den kommenden Monaten und Jahren eine zentrale Rolle spielen werden: Digitalisierung, Energie und Mobilität.
Digitales – in Paris längst mehr als politisches Beiwerk
Trotz frischem Wind und hochgesteckten Zielen, war es nicht die neu formierte Ampel-Koalition, die 2022 digitalpolitisch die Richtung vorgab. Gerade in Brüssel war Paris die treibende Kraft hinter dem von vielen Seiten lange herbeigesehnten Gesetzespaket aus Digital Markets Act (DMA) und Digital Services Act (DSA), das für eine Neuordnung des wirtschaftlichen sowie sozialen digitalen Raumes in der EU sorgen soll. Vor allem Macron und sein damaliger Digitalstaatssekretär Cédric O waren darauf bedacht, die französische EU-Ratspräsidentschaft – noch dazu im französischen Präsidentschaftswahljahr – für größtmögliche Fortschritte bei Digitalisierungsthemen zu nutzen.
Die Wette ging weitestgehend auf und sie spiegelt den engagierten Kurs bei der Digitalisierung in Macrons erster Amtszeit wider. So hat sich u.a. in den Bereichen der Unternehmensdigitalisierung, des schnellen Internetzugangs, der Digitalisierung des Gesundheitssystems sowie der KI- und Startup Förderung einiges bewegt. Hier seien mit Frankreichs 2018 veröffentlichter KI-Strategie, die nicht nur Deutschland als Impuls diente, sowie die von Emmanuel Macron auf EU-Ebene angestoßene Scale Up Europe Initiative, die einen Investitionsfonds von 3,5 Milliarden € für europäische Startups bereitstellt, zwei Beispiele genannt.
Der Blick in die mittelfristige Zukunft französischer Digitalpolitik ist mit der Wiederwahl Macrons und der Regierungsumbildung jedoch nicht so klar wie der Rückblick vermuten lässt. Zwar wird das Thema durch die Schaffung der Stelle des beigeordneten Ministers innerhalb der Regierungsstrukturen aufgewertet. Mit der Ablösung des Digitalexperten Cédric O durch den in diesem Bereich noch unbeschriebenen Jean-Noël Barrot, hängt viel von dessen ersten Monaten im Amt ab. Frankreichs neue Premierministerin hat in ihrer ersten großen Rede Anfang Juli die Vision einer digitalen „grande nation“ gezeichnet, digitale Bildung und die Schaffung neuer Stellen für junge Menschen in den Fokus gerückt sowie die Unterstützung der „French Tech“, des französischen Startup-Ökosystems, als Kernaufgaben Ihrer Amtszeit hervorgehoben.
Ein Ziel, auf das die französische Digitalagenda unter Macron auch einzahlen soll, ist das der digitalen Souveränität Frankreichs und Europas. Das vielgepriesene, aktuell aufgrund interner Dissonanzen strauchelnde deutsch-französische Leuchtturmprojekt einer sicheren und souveränen europäischen Cloud-Infrastruktur, Gaia-X, könnte dabei zum Lackmustest für den deutsch-französischen Motor werden. Sollte das gemeinsame Vorhaben nicht an Fahrt aufnehmen, könnte das ein Dämpfer für weitere großangelegte europäische digitalpolitische Kooperationen sein.
Energie – Im Kern eine Frage des Preises
Während Deutschland noch plant, seine letzten Atomkraftwerke zum 31. Dezember 2022 abzuschalten, machte Nuklearenergie im Jahr 2020 rund 75 Prozent des französischen Primärenergiemixes aus. Statt Atomausstieg setzt Emmanuel Macron bewusst auf Kernkraft, um den Balanceakt zwischen klimaneutraler und gesicherter Energieversorgung zu schaffen. Dass im Mai dieses Jahres fast die Hälfte der 56 französischen Atommeiler aufgrund von technischen Problemen und Wartungen nicht einsatzfähig waren, scheint die französische Regierung von ihrer Strategie nicht abzubringen. Noch im Juli 2022 erklärte die neue Premierministerin Elisabeth Borne bei ihrer politischen Grundsatzrede in der Nationalversammlung, man wolle einen ausgeglichenen Energiemix aus Kernkraft und erneuerbaren Energien schaffen, um den Energiesektor so schnell es geht zu dekarbonisieren. Frankreich setzt dabei auf eine „Ökologie des Fortschritts“ – und nicht etwa auf den Rückgang wirtschaftlicher Aktivitäten – und strebt an, die „erste große ökologische Nation“ zu werden, die aus fossilen Brennstoffen aussteige.
Dieses Ziel ist angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auch für Frankreich in den Fokus gerückt. Zwar liegt der Anteil russischer Gasimporte mit ca. 15% (Stand 2020) deutlich niedriger als etwa in Deutschland, aber ein vollständiger russischer Exportstopp wäre auch in Frankreich deutlich spürbar. „Wir können durchhalten, aber jede:r muss handeln“, postulierte Premierministerin Borne vor dem Parlament und forderte die Bevölkerung auf, nicht notwendige Energieverbräuche zu vermeiden. Zur Abfederung der starken Energiepreissteigerungen hatte die französische Regierung bereits im Herbst 2021 die Gaspreise für Direktkunden auf dem Niveau von Oktober 2021 eingefroren und andere betroffene Verbraucher:innen mit einem gleichwertigen Energiekostenzuschuss unterstützt.
Wie politisch relevant das Thema ist, zeigt auch die geplante Verstaatlichung des Energieversorgers EDF, die bis Ende Oktober abgeschlossen sein soll. EDF war bereits zu rund 84 Prozent in staatlicher Hand, nun will die Regierung die verbleibenden Anteile zu einem Gesamtpreis von 9,7 Milliarden Euro zurückkaufen. Ziel: Den stark verschuldeten Konzern finanziell stabilisieren, um in der Folge die strategischen energiepolitischen Vorhaben umsetzen zu können – allen voran der Bau von sechs weiteren Kernreaktoren bis 2050.
Mobilität – vor allem ein innenpolitisches Anliegen
Nachdem Macron in seiner ersten Regierungsumbildung im Mai zunächst kein Amt für Verkehrspolitik vorgesehen hatte, ernannte er zwei Monate später Clément Beaune als neuen delegierten Minister für Verkehr. Beaune – auch er enger Vertrauter Macrons und überzeugter Europäer – wird sein Verhandlungsgeschick nun für wichtige mobilitätspolitische Vorhaben auf nationaler und europäischer Ebene brauchen. Er erklärte, dass die Modernisierung des Schienenverkehrs eine seiner Prioritäten sei. Gleichzeitig bleibt für ihn die „tägliche Mobilität“ der französischen Bürger:innen vorrangig: Hier gehe es darum, Verbesserungen zu erreichen und den ökologischen Wandel zu beschleunigen.
Clément Beaune wird mit seinen Ministerkolleg:innen auch den Wandel der französischen Automobilindustrie vorantreiben: Emmanuel Macron kündigte bereits im Wahlkampf an, massiv Elektro- und Hybridfahrzeuge zu fördern sowie die Ladeinfrastruktur auszubauen. Er möchte, dass Frankreich Marktführer bei grünem Wasserstoff wird, Millionen von Elektro- und Hybridfahrzeugen herstellt und das erste Flugzeug mit geringem CO2-Ausstoß baut. Bis 2030 soll nach dem Willen Macrons eine souveräne Fertigungslinie für Elektofahrzeuge in Betrieb sein. Vor allem aber verspricht die französische Regierung, den französischen Bürger:innen ab Anfang 2023 ein Elektroauto für 100 Euro pro Monat anbieten zu können. Weitere Details werden aktuell ausgearbeitet – in jedem Fall aber ein ambitioniertes Projekt. Inwiefern bei den genannten Vorhaben das deutsch-französische Tandem zusammenarbeiten und die Elektrifizierung – auch ein wichtiges Anliegen der Ampel-Koalition – voranbringen wird, bleibt abzuwarten.
Auf dem Weg zur neuen politischen Balance
Die letzten Monate im politischen Frankreich hatten es in sich: Zwei Wahlen, die EU-Ratspräsidentschaft, die Auswirkungen des Ukraine-Krieges und steigende Lebenshaltungskosten. Emmanuel Macron hat all das bislang politisch überstanden. Doch die Zeiten der großen Visionen, wie er sie noch zu Beginn seiner ersten Amtszeit 2017 präsentiert hatte, dürften vorbei sein. Auf den neuen alten Präsidenten warten große inhaltliche Herausforderungen und vor allem die Aufgabe, seine Politik noch anschlussfähiger zu gestalten und zu kommunizieren, um sich die nötigen Mehrheiten im Parlament zu sichern. Ob diese neu entstandene Pflicht zum Kompromiss am Ende auch der deutsch-französischen Zusammenarbeit nützt oder gemeinsame Initiativen erschwert, bleibt abzuwarten. Das Spannungsverhältnis einer stärkeren Fokussierung auf die nationale Ebene bei gleichzeitiger Notwendigkeit europäischer Zusammenarbeit – gerade auch in den Bereichen Digitalisierung, Energie und Mobilität – ist Bürde und Chance zugleich in Macrons zweiter Amtszeit.