Die Erwartungen der EU Partner an die neue Bundesregierung sind nach den europapolitisch eher ernüchternden Jahren der Großen Koalition riesig. Viel ist in der Europäischen Union die letzten Jahre liegen geblieben. Neben dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU ist man auch in Bereichen wie z.B. der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit (Stichwort Afghanistan-Abzug) nicht weitergekommen.

Dagegen führte die Pandemie trotz anfänglicher Alleingänge (Grenzschließungen) zu einem eindrücklichen europäischen Schulterschluss. Man einigte sich auf einen historischen, 800 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds, finanziert durch eine erstmalige gemeinschaftliche Schuldenaufnahme. Doch Dauerbaustellen wie eine kontinuierlich steigende Staatsverschuldung, vor allem im Süden Europas, oder die europäische Uneinigkeit im Umgang mit den Provokationen und Cyberangriffen Russlands beziehungsweise seines Satelliten Belarus bleiben. Die amtierenden populistischen Regierungen in Warschau und Budapest ignorieren geflissentlich die europäische Rechtsprechung sowie die gemeinsamen europäischen Werte und sorgen für Instabilität im eigenen Europäischen Haus.

Manche EU-Politiker halten es vor diesem Hintergrund für ein großes Versäumnis, dass Angela Merkel nie eine wirkliche Antwort auf die EU-Reformvorschläge von Emmanuel Macron gegeben hat. Macrons Vorschläge aus dem Jahr 2017 hatten ein Gelegenheitsfenster zur Weiterentwicklung der EU aufgestoßen. Paris streckte Berlin die Hand zur Reform der EU aus, aber Berlin nahm diese nicht an.

Das Programm der neuen Bundesregierung von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP lässt daher in mehrerer Hinsicht aufhorchen, so heißt es etwa in der Präambel: „Deutschland und Europa müssen angesichts eines verschärften globalen Wettbewerbs ihre ökonomische Stärke neu begründen. Im internationalen Systemwettstreit gilt es, unsere Werte entschlossen mit demokratischen Partnern zu verteidigen.“ Das kann man getrost sowohl als Ansage gegen unfairen Wettbewerb amerikanischer oder chinesischer Unternehmen als auch gegen innere und äußere Gegner der Demokratie verstehen. Andererseits macht eine Präambel natürlich noch keine Politik.

Im Koalitionsvertrag selbst finden sich in Paris geprägte Begriffe wie ‚strategische Souveränität‘, ‚Handlungsfähigkeit im globalen Kontext‘ sowie die Betonung der deutsch-französischen Partnerschaft und die Ankündigung eines verstärkten strategischen deutsch-französischen Dialogs auf Basis des Vertrages von Aachen. Olaf Scholz hat erwartungsgemäß bereits angekündigt, dass seine erste Auslandsreise als Bundeskanzler unmittelbar nach Paris führen wird.

Auch eine weitere Amtszeit der von Emmanuel Macron vorgeschlagenen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) scheint über 2024 hinaus nicht ausgeschlossen, Bündnis90/Die Grünen würden ihr Vorschlagsrecht für den bzw. die nächste(n) deutsche EU Kommissar:in nur nutzen, „sofern die Kommissionspräsidentin (sic) nicht aus Deutschland kommt“.

Bemerkenswert ist, dass die Koalition die Weiterentwicklung Europas hin zu einem föderalen Bundesstaat unterstützt, einen europäischen Außenminister fordert und man sich knapp zwei Dutzend mal auf die europäische Kommission bzw. deren ambitionierte Vorschläge, insbesondere natürlich den European Green Deal und das konkrete klima- und energiepolitische Maßnahmenpaket ‚Fit for 55‘ beruft.

Ein zentrales Anliegen der neuen Bundesregierung wird in diesem Passus deutlich: „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität. Wir schaffen ein Regelwerk, das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Wir bringen neues Tempo in die Energiewende, indem wir Hürden für den Ausbau der Erneuerbaren Energien aus dem Weg räumen. Schritt für Schritt beenden wir das fossile Zeitalter, auch, indem wir den Kohleausstieg idealerweise auf 2030 vorziehen und die Technologie des Verbrennungsmotors hinter uns lassen.“

Soweit zu den postulierten Ambitionen. Gleichzeitig ist bereits heute absehbar, dass sich für die Ampel-Regierung in der Zusammenarbeit mit den EU-Partnern insbesondere drei politische Dilemmata auftun werden.

1. Erneuerbare vs. (russisches) Gas und (französische) Atomkraft

Die Koalition schlägt einen „massiven“ Ausbau sauberer Energie vor, indem sie das derzeitige Ziel, dass erneuerbare Energien bis 2030 ca. 65 Prozent der Stromerzeugung ausmachen sollen, auf 80 Prozent erhöhen will. Diese Zielsetzung ist hochambitioniert weil der Stromverbrauch bis dahin um mehr als 20% auf  insgesamt 685 Terawattstunden in 2030 steigen wird (Energiewirtschaftliches Institut der Uni Köln).

Der vorgezogene Kohleausstieg bis 2030 und das Auslaufen der Kernenergie im Jahre 2023 werden eine riesige Stromproduktionslücke reißen, die aufgrund der bekannten Schwierigkeiten mit dem Ausbau von erneuerbaren Energie in Deutschland mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht geschlossen werden kann.

Daraus ergibt sich die Frage, wie Deutschland während des Übergangs mit Strom versorgt werden kann.

Um die Stromnachfrage bis 2030 zu decken, wird vor allem russisches Gas und französische Kernenergie notwendig sein. Und bis genügend grüner Wasserstoff verfügbar sein wird, muss man blauen Wasserstoff aus russischem Gas herstellen, was weiterhin für CO2-Emissionen sorgen wird.

Dies wirft zum einen Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der deutschen Energieversorgung auf. Russland ist schon heute Deutschlands wichtigster Gaslieferant, und wenn die Nord Stream 2-Pipeline im nächsten Jahr genehmigt werden sollte – trotz der ablehnenden Haltung von Bündnis90/ Die Grünen – wird diese Abhängigkeit weiter zunehmen (von dem dann auf die Ampel zukommenden inner-koalitionären Konflikt ganz zu schweigen). Zum anderen sprechen sich SPD und Grüne sowohl in Deutschland als auch auf EU-Ebene vehement gegen weitere Investitionen in die Atomkraft aus und stehen damit im Konflikt mit mindestens zehn anderen EU-Staaten, namentlich Frankreich gefolgt von Bulgarien, Finnland, Kroatien, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn.

2. Investitionen in Transformation aber Verhinderung der Schuldenunion

Die Erreichung des Emissionsminderungsziels von -65% bis 2030 in Deutschland bedeutet einen jährlichen staatlichen Investitionsbedarf von etwa 45 Milliarden Euro pro Jahr (Quelle IW Köln). Dem entspricht auf europäischer Ebene zur Erreichung von -55% Emissionen bis 2030 ein Investitionsbedarf von zusätzlichen 360 Milliarden EUR jährlich (Quelle Bruegel und EU Kommission).

Pandemiebedingt hat die EU in 2020 die allgemeinen Ausweichklausel aktiviert, die bis Ende 2022 die Pflichten des EU Stabilitäts- und Wachstumspaktes (ursprünglich eine deutsche Bedingung für die Einführung des Euro) aussetzt.

Frankreich hat den Pakt, nicht zuletzt wegen der immensen Staatsverschuldung einiger EU-Staaten (Griechenland 180%, Italien 149%, Frankreich 114%, Spanien 110% des BNP), schon für obsolet erklärt. Paris will eine radikale Reform der Fiskalregeln, unterstützt unter anderem von Italien und Spanien.

Die Ampel-Parteien signalisieren in ihrem Koalitionsvertrag Offenheit für eine Reform des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts, um „Wachstum zu gewährleisten, die Schuldentragfähigkeit zu erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen zu sorgen“. Bisher ist allerdings fraglich, wie sowohl die Milliardenschulden des EU-Wiederaufbaufonds zurückgezahlt werden sollen, als auch woher die Mittel für die zusätzlichen Investitionen für die wirtschaftliche Transformation in Deutschland und EU-weit ohne weitere Verschuldung der EU Mitgliedsstaaten kommen sollen.

3. Rechtsstaatlichkeit und europäische Wertegemeinschaft bewahren aber Polexit & Hungarexit verhindern

Vor allem die EU-Staaten in Osteuropa haben noch eine besonders weite Wegstrecke der ökonomischen Transformation vor sich, nicht zuletzt wegen teilweise systemischer Abhängigkeit von fossiler Energie, insbesondere Kohle. Der vorzeitige deutsche Kohleausstieg wird den Druck auf Polen, Bulgarien und die Tschechische Republik (bis 2030 machen diese drei Länder zusammen 95 Prozent der verbleibenden Kohle im Stromsystem der EU aus) sowohl ökonomisch als auch politisch erhöhen.

Vor diesem Hintergrund beabsichtigen die Ampel­koalitionäre, mehr Druck auf Polen und Ungarn zu machen, „die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente sollen konsequenter und zeitnah genutzt und durchgesetzt werden“. Das heißt im Rahmen der bisherigen konfrontativen Stellung zwischen Warschau bzw. Budapest auf der einen und Brüssel auf der anderen Seite, den Rechtsstaatssündern die EU-Finanzmittel zu streichen. Auch Paris fordert einen härteren Kurs gegenüber Polen und Ungarn. Diese Aussicht, gepaart mit dem Wunsch der neuen deutschen Bundesregierung, erforderliche Vertragsänderungen anzugehen, um die EU perspektivisch in einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ weiterzuentwickeln, wird Polen und Ungarn wahrscheinlich noch weiter von der EU entfremden. Die Vorstellung eines Polexit oder Ungarexit beziehungsweises sogar beides, bisher unvorstellbar, ist mittlerweile denkbar geworden.

Die oben dargestellten Dilemmata treffen schon direkt nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung auf einen Realitätscheck. Bei der EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen, dem global umfassendsten Vorhaben dieser Art und Kernstück zur Finanzierung des European Green Deal, wollen die Atomkraftbefürworter (zehn EU-Staaten angeführt von Frankreich) und die Befürworter von Erdgas (sieben Mittel- und Osteuropäische EU-Staaten angeführt von Polen) dafür sorgen, dass ihre präferierte Energiequelle ein Nachhaltigkeitslabel bekommt. Die Glaubwürdigkeit des gesamten Vorhabens einer globale Standards setzenden Nachhaltigkeits-Taxonomie aus Brüssel steht damit auf dem Spiel.

Im Januar 2022 übernimmt Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft, zu einem Zeitpunkt an dem richtungsweisende regulatorische Weichenstellungen anstehen, die das Potential haben die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Wirtschaft für viele Jahre zu beeinflussen. Neben dem Digital Markets Act/ Digital Services Act im Digitalbereich werden die Gesetzesvorschläge des ‚Fit for 55‘-Paketes den Rahmen setzen für die Transformation unserer Energiewirtschaft, den Aufbau von Ladeinfrastruktur, den Übergang zur Elektromobilität, die Nutzung alternativer Kraftstoffe, außerdem wird definiert werden was in Europa zukünftig als erneuerbare Energie gilt.

Die neue Ampel-Koalition wird vor diesem Hintergrund viel politischen Pragmatismus und Kompromissfähigkeit brauchen um die EU-Partner für ihre eigenen klima- und energiewirtschaftlichen Ambitionen begeistern zu können.