Von Oliver Santen

Haben Sie schon mal von MiFID II gehört? Nein? Das ist vielleicht auch gut so, aber dennoch wird auch Sie dieses Thema betreffen, ob Sie wollen oder nicht. Denn die neue Wertpapierrichtlinie aus Brüssel wird ab Anfang 2018 jeden Bankkunden etwas angehen. Das 25.000 Seiten starke Bürokratiemonster sieht vor, dass jedes telefonische Beratungsgespräch aufgezeichnet werden muss – und dies ist nur die Spitze des Eisbergs.

Warum erwähne ich das? Unser Alltag  wird in einer rasenden Geschwindigkeit komplexer; ob Energiepolitik, Altersvor­sorge, Finanzmärkte oder Datensicherheit – Themen wie diese haben hohe Relevanz für jeden von uns. Aber verstehen wir Verbraucher auch, warum und in welchem Umfang? Schon die Suche nach verlässlichen Informationen ist mühsam und oft zermürbend.

Gefragt sind deshalb mehr denn je Erklärung, Analyse und Einordnung – idealerweise durch Medien, aber auch durch Unternehmen, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Politik. Viele Redaktionen sind damit allerdings zunehmend überfordert, denn die tiefgreifende wirtschaftliche Krise der Verlage führt zu einer schrumpfenden Zahl von Redakteuren. Immer weniger Journalisten müssen über immer breitere, komplexe Themenbereiche schreiben und diese aufbereiten. Das kann nicht funktionieren und funktioniert auch nicht.

Gleichzeitig rüsten Kommunikationsberatungen sowie PR-Abteilungen von Unternehmen und Verbänden weiter auf. Journalisten werden abgeworben, Newsrooms und Content Factories aufgebaut – die Corporate PR war noch nie so professionell und journalistisch wie heute. Die Branche boomt, während viele – vor allem klassische – Medien immer tiefer in die wirtschaftliche Krise rutschen. Offensichtlich ist ein ungutes Ungleichgewicht zwischen PR und Medien entstanden. Nicht nur Journalisten und Verbraucherschützer kritisieren, dass diese Informationslücke vor allem von PR-Profis gefüllt wird. Sicherlich legitim, aber natürlich mit klaren Interessen, wirtschaftlichen Motiven und nicht unabhängig. Kritik an dieser Entwicklung scheint plausibel. Aber ist sie wirklich generell schlecht?

Das digitale Informationsangebot wächst, neue Kanäle, Formate und Absender entstehen. Lassen Sie uns kurz einen Blick über den Tellerrand von PR und Journal­ismus wagen. Dazu ein paar aktuelle Zahl­en aus den USA: Mehr als zwei Drittel der erwachsenen Amerikaner informieren sich über Social Media, vor allem Facebook. Immerhin 20 Prozent tun das bereits oft oder gar regelmäßig. Überraschend: Mehr als jeder zweite US-Amerikaner über 50 bekommt zumindest einen Teil seiner Informationen aus den sozialen Medien.

Das sind interessante Zahlen, die vielleicht nur begrenzt auf den deutschen Bundesbürger übertragbar sind. Dennoch: Ein Trend ist klar ablesbar. Informationskanäle und Formate haben sich verändert. Informationsbeschaffung und Einordnung geschehen auf anderen Plätzen. Die klassischen Medien verlieren an Reichweite und Einfluss. Das Gerhard-Schröder-Motto ­ „BILD, BamS, Glotze“ funktioniert schon lange nicht mehr. Es gibt sicher immer noch einflussreiche Leitmedien, aber ansonsten wird das journalistische Angebot breiter, kleinteiliger und unübersichtlicher. Der Online-Newsletter eines Herausgebers erreicht auf einmal mehr Leser als die dazugehörige gedruckte Zeitung. Ein Instagram-Influencer spricht täglich mehr Konsumenten direkt an als ein gedrucktes Lifestyle-Magazin einmal im Monat. Ein Blogger-Interview per Video mit einem DAX-Vorstandschef erreicht deutlich mehr Menschen als ein Interview im Wirtschaftsteil der FAZ.

In diesem Kontext bieten sich für Unternehmen, Verbände, Politik neue Möglichkeiten. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass heute jede Organisation ein Medienhaus sein kann. Aber mit seinen Inhalten und Botschaften direkt die anvisierten Zielegruppen zu erreichen, ist deutlich leichter geworden und dazu braucht es nicht mehr nur Medien.

Umso wichtiger ist es für User und Leser zu verstehen, welcher Absender eigentlich hinter einer Information steht. Rund 40 Prozent der amerikanischen Facebook-Nutzer sind nach eigener Auskunft nicht in der Lage, zwischen Nachricht und Meinungsbeitrag zu unterscheiden. Das mag vielleicht nicht überraschend sein, ist aber in jedem Fall besorgniserregend. Ohne journalistische Filter und Gewichtung steigen insbesondere im politischen Entscheidungsprozess die Einflussmöglichkeiten von vielen Seiten. Dabei sind die Motive nicht immer von edler Natur. Welche technischen Möglichkeiten der Einflussnahme via Social Media es bereits gibt, hat der letzte US-Wahlkampf beängstigend gezeigt. Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen.

Führt das Ungleichgewicht zwischen PR und Medien zu schlechter informierten Bürgern, die manipuliert werden und deren Verhalten dadurch immer unberechenbarer wird? Jenseits aller Besorgnis sind aus meiner Sicht für den Verbraucher zwei Dinge entscheidend: Relevanz und Glaubwürdigkeit.

Wenn Deutsche Bank oder Bankenverband über den bürokratischen Wahnsinn der erwähnten neuen Wertpapierrichtlinie verständlich und nachvollziehbar informieren, sind damit natürlich Interessen verbunden, aber muss das deshalb schlecht oder falsch sein? Zudem hat der Konsument eine Vielzahl von Möglichkeiten, die Information zu überprüfen und zu falsifizieren – mit wenigen Klicks auf Smartphone oder Laptop.

Wachsamkeit bei der Informationsbeschaffung war und ist angebracht. Ich beneide meinen 27-jährigen Bruder nicht, der noch nie eine Zeitung am Kiosk gekauft hat, sich aber trotzdem irgendwie mit den für ihn notwendigen Informationen vor allem online versorgt und sich so orientiert. Und wenn alle Stricke reißen, ruft er seinen 48-jährigen Bruder an, der ihm dann aus der Zeitung vorliest oder zumindest den Link zu einem aufklärerischen Artikel zumailt.

 

Oliver Santen ist Geschäftsführer Kommunikation beim Bundesverband deutscher Banken.  Zuvor hat der gelernte Journalist unter anderem mehr als sechs Jahre die PR-Abteilung der Siemens AG geleitet und rund zehn Jahre im Ressort Politik und Wirtschaft der BILD-Zeitung gearbeitet.

 

Der Beitrag ist im Dezember 2017 in unserem Jahresbrief „Haltung“ erschienen, Thema der Ausgabe ist „Neue Berechenbarkeit“. 

 

Bild: shutterstock/Lenka Horavova