Mehr Europa – dieses Leitprinzip der europäischen Integration ist längst nicht mehr einhelliger Wunsch, sondern Gegenstand heftiger Diskussionen. Durch das Brexit-Votum wurde ihm nun wohl bis auf Weiteres auch der letzte Wind aus den Segeln genommen.
Seit Jahren sinkt das Ansehen der EU, die Gefühle für die europäische Idee scheinen erkaltet. Annehmlichkeiten wie das Reisen ohne Grenzkontrollen, die Befreiung vom lästigen Bargeldtausch in der Eurozone und die volkswirtschaftlichen Vorteile des Binnenmarktes sind in den Hintergrund gerückt. Leidenschaftlich debattiert wird dafür, wie Brüssel den Bürgern Energiesparlampen und Gurkenkrümmung vorschreibt.
Bürokratisch, elitär, zu weit weg vom Bürger – so das Urteil. Dabei sollte doch alles besser werden. „Mit dem Vertrag von Lissabon wird das Europäische Parlament weiter gestärkt“, bewarb Hans-Gert Pöttering, der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, im Jahr 2009 die gut ein Jahr zuvor verabschiedete EU-Reform. Pöttering nahm damit Stellung zu dem Vorwurf, zu viel Macht werde aus den Hauptstädten nach Brüssel verlagert. Er konterte, dass durch Lissabon die einzig demokratisch gewählte Brüsseler Institution – endlich – zu einem gleichberechtigten Gesetzgeber geworden sei.
Seine Einschätzung spiegelte die vorsichtige Erleichterung wider, die sich bei allen „Mehr-Europäern“ nach Abschluss des Vertrages ausgebreitet hatte. Die gescheiterten Verfassungsreferenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden waren ein Tiefschlag. Gleichzeitig erforderte die umfassende Osterweiterung der EU eine Überarbeitung der Entscheidungsprozesse, um auch den kleinen Mitgliedsstaaten eine Stimme zu geben. Mit dem Lissabon-Vertrag hatte man endlich wieder einen Fortschritt auf dem Weg zu einer „ever closer union“ erzielt, so die Annahme.
Gerade die Stärkung des Europäischen Parlaments war dabei die gern angeführte Neuerung für mehr Demokratie und Transparenz. Das sogenannte Mitentscheidungsverfahren war offiziell zum legislativen Standardprozess der EU befördert worden. Die Abgeordneten können nun die große Mehrheit der Gesetze nicht mehr nur blockieren oder durchwinken, sondern durch formelle Änderungsanträge inhaltlich beeinflussen. In der Legislaturperiode von 2009 bis 2014 fielen 90 Prozent der durch die EU-Kommission initiierten Gesetzesvorschläge unter diese Mitentscheidung. Zum Vergleich: In den fünf Jahren zuvor waren es lediglich 49 Prozent.
Was auf den ersten Blick wie ein Meilenstein auf dem Weg zu mehr Demokratie und Transparenz in der EU-Gesetzgebung anmutet, muss bei genauerem Hinsehen allerdings relativiert werden. Dem Europäischen Parlament mehr Mitspracherecht einzuräumen bedeutete auch, einen weiteren gewichtigen Akteur an den Tisch zu holen. Die Folge: mehr Meinungen, längere Verhandlungen.
Um das Verfahren zu beschleunigen, fand man eine Lösung: die sogenannte „Fast-Track-Procedure“, bei der bereits vor der ersten Lesung eines Basisrechtsaktes durch das EU-Parlament Vertreter von Rat, Kommission und Parlament eine gemeinsame Position in informellen Treffen abstimmen. Durch diese Vorabstimmungen hinter verschlossenen Türen konnten in den Jahren 2009 bis 2013 vier von fünf (81 Prozent) der Einigungen im Mitentscheidungsverfahren bereits in der ersten Lesung getroffen werden – ein rasanter Anstieg verglichen mit vorherigen Legislaturperioden. In den Jahren 1999 bis 2004, also vor Lissabon, gelang das etwa in jedem dritten Verfahren (28 Prozent).
Damit werden die Gespräche zunehmend in den informellen Raum, also die berüchtigten Hinterzimmer, verlagert. Kombiniert mit der Sehnsucht nach legislativem Streamlining entwickeln sich EU-Gesetzestexte mehr und mehr zu einer Art Rahmengesetzgebung – Grundpfeiler, auf die sich alle Institutionen einigen konnten, die aber nicht über allgemeine Bestimmungen hinausgehen. Ausgefüllt werden diese Basisgesetze dann später durch die sogenannte sekundäre Gesetzgebung im Rahmen der Komitologie – und damit vorbei am Parlament.
Bei der Komitologie schlägt die Kommission Rechtsakte vor, die von Fachausschüssen der Mitgliedsstaaten angenommen oder abgelehnt werden. Gibt es keine Einwände, erlässt die Kommission den Rechtsakt. Die Idee dahinter: das Verfahren ist weniger zäh und zeitaufwendig als ein vollständiger interinstitutioneller Gesetzgebungsprozess und überträgt die Entscheidungsfindung direkt den jeweiligen Experten.
Ein Beispiel: EU-weit soll eine Datenbank entstehen, die nationalen und internationalen Verbraucherschutzbehörden Informationen zur Beschaffenheit eines Produktes bereitstellt. Der Basisrechtsakt legt vielleicht noch fest, dass diese Datenbank von einer unabhängigen Partei unterhalten werden muss und deren Server nicht außerhalb der EU stehen dürfen. Doch das, was für die Unternehmen tatsächlich wichtig ist – wie werden die Daten generiert, wie werden sie bereitgestellt, muss vielleicht die ganze Produktionskette umgestellt werden – wird in der sekundären Gesetzgebung entschieden. Für Stakeholder entlang der gesamten Wertschöpfungskette dieses Produktes eine Katastrophe in Sachen Transparenz.
Unterm Strich hat der Lissabon-Vertrag, obwohl als Fortschritt bei der Demokratisierung der EU gefeiert, somit einen Großteil der EU-Gesetzgebung zum Gegenstand intransparenter Hinterzimmerverhandlungen gemacht. Die Basisrechtsakte entstehen maßgeblich in informellen Trilogen zwischen Parlament, Rat und Kommission; die eigentlichen technischen Feinheiten und Details werden in der sekundären Gesetzgebung von einigen wenigen Fachgremien bestimmt. Für die EU-Parlamentarier bleibt oft viel Symbolik und wenig Einfluss.
Es wird schnell deutlich, dass dies keinen Beitrag zu mehr Transparenz leistet und somit für Stakeholder und Interessenvertreter Probleme birgt. „Kein Berufsverband und keine NGO ist davor gefeit, im offiziellen Amtsblatt der EU einen verabschiedeten delegierten Rechtsakt zu finden, über dessen Annahme vorher nichts bekannt gewesen war“, sagt Daniel Guéguen, EU-Lobbyexperte mit einem Schwerpunkt auf sekundäre Rechtsetzung.
Politische Interessenvertretung muss sich darauf einstellen und seine Public-Affairs-Instrumente entsprechend justieren. Der Dialog mit den Abgeordneten bringt wenig, wenn die maßgeblichen Entscheidungen jenseits des Parlaments im Verborgenen fallen, ohne festgelegte formelle Termine und fachliche Zuständigkeiten. Man braucht ein wenig Kreativität, viel Recherchearbeit und vor allem Prozesswissen, um in Brüssel Gehör zu finden.
Der Autor
Fiete Starck ist Associate bei den 365 Sherpas. 2012 beendete er seinen Master im Fach „International Business Economics and Management“ in Brüssel. Nach seinem Studium arbeitete er neun Monate lang in einem Abgeordnetenbüro des Europäischen Parlaments. Weitere praktische Erfahrungen sammelte er anschließend im Programmsekretariat des EU-Förderprogramms „Baltic Sea Region“ sowie bei FTI Consulting in Berlin.
Quellen
Europäisches Parlament (2013). 20 years of Codecision Conference Report. https://www.europarl.europa.eu/code/events/20131105/report.pdf
Europäisches Parlament (2014). Activity Report on Codecision and Conciliation 14 July 2009 – 30 June 2014 (7th parliamentary term). https://www.europarl.europa.eu/code/information/activity_reports/activity_report_2009_2014_en.pdf
European Institute of Public Administration (2013). Delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte – Die neue Komitologie, 5. Edition. https://www.eipa.eu/files/repository/product/20130904094203_Comitology_Brochure5EN_web.pdf
Guéguen, D. (7. März 2014). Komitologie: „Das neue System ist schlechter“ EurActiv, https://www.euractiv.de/section/wahlen-und-macht/opinion/komitologie-das-neue-system-ist-schlechter/
Pöttering, H.-G. (11. Februar 2009) Lissabon-Vertrag sichert demokratisches Europa. Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/poettering-lissabon-vertrag-sichert-demokratisches-europa.694.de.html?dram:article_id=66813
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