Anna Christmann ist seit 2017 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Seit Januar 2022 ist sie als Koordinatorin der Bundesregierung für die Deutsche Luft- und Raumfahrt tätig. Wir haben mit ihr über Raumfahrt in Kriegszeiten, über deutsche Technologieskepsis und über NASA-Pullis gesprochen.
Raumfahrt ist ja etwas sehr Multilaterales. Nun haben wir einen schrecklichen Angriffskrieg in Europa. Kann die Raumfahrt Brücken bauen in Zeiten, in denen es sonst nicht mehr viel Verständigung gibt?
Wissenschaft und Innovation sind traditionell Bereiche, die nur durch internationale Zusammenarbeit funktionieren. Alles, was wir als Menschheit an Fortschritt erreicht haben, ist immer auch von Kooperation geprägt. Deswegen ist es natürlich absolut dramatisch, dass vieles davon jetzt nicht mehr so stattfinden kann wie vor dem 24. Februar 2022. Die Auswirkungen sind groß. Das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum (DLR) hat völlig zu Recht entschieden, alle bilateralen Kooperationen mit Russland zu stoppen. Es geht hier um Projekte, die auch auf einem gemeinsamen Verständnis von Freiheit und Demokratie beruhen. Die Grundlage dafür ist jetzt entzogen worden. Ich habe gerade mit Matthias Maurer, dem deutschen Astronauten auf der ISS, telefoniert. Dort läuft die gemeinsame Arbeit mit den russischen Kosmonauten weiter und funktioniert auch, weil eine Raumstation natürlich gewissermaßen ein eigener Kosmos ist. Aber ganz generell gilt eben auch hier, dass Krieg zivilisatorischen Rückschritt bedeutet und damit am Ende auch einen Rückschritt für die wissenschaftliche Kooperation.
Alles, was wir als Menschheit an Fortschritt erreicht haben, ist immer auch von Kooperation geprägt.
Hat der Krieg in der Ukraine unmittelbare Konsequenzen für die europäische Luftund Raumfahrt?
Wie in anderen Bereichen zeigt sich auch hier, dass eine europäische Souveränität im Technologiesektor von höchster Relevanz ist. Nicht als Isolation oder Abschottung – aber in dem Sinne, dass wir auch in Krisensituationen in der Lage sein müssen, souverän und eigenständig zu agieren. In der Raumfahrt hat die Kooperation mit anderen Ländern eine hohe Bedeutung. Die Aktivitäten, die wir in Europa für ein funktionierendes Ökosystem im Bereich der Raumfahrt haben, erhalten jetzt noch mal eine höhere Priorität.
Hat das auch Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit den USA?
Die Zusammenarbeit mit den USA ist ja traditionell sehr eng im Bereich der Raumfahrt. Dort verändert sich aber die gesamte Raumfahrtlandschaft sowieso gravierend und es stellen sich grundlegende Fragen rund um Kommerzialisierung, Privatisierung und New Space, die wir gemeinsam mit den USA beantworten müssen.
Sie haben die neuen kommerziellen Raumfahrt-Player wie Elon Musk und sein Unternehmen SpaceX angesprochen. Gibt es da eine neue Konkurrenz zwischen Staat und Privatwirtschaft?
Die Kommerzialisierung der Raumfahrt ist grundsätzlich eine Chance, weil sie die Anwendungsmöglichkeiten verbreitert, den Wettbewerb erhöht und Innovationen begünstigt. Die politische Aufgabe ist es, einen Rahmen für private Aktivitäten zu schaffen und zu schauen, wie wir Technologien auch für gesellschaftliche Zwecke sinnvoll einsetzen können. Wichtig ist, dass am Ende gemeinschaftlich entschieden wird: Kommerzialisierung kann nicht bedeuten, dass einige wenige allein bestimmen, wie wir den Weltraum als Menschheit nutzen.
Welchen Einfluss kann die Raumfahrt auf das Thema Klimaschutz haben?
Zunächst einmal gilt: Vieles von dem, was wir heute über die Klimakrise wissen, wissen wir durch die Raumfahrt. All die Veränderungen im Klima konnten wir in den letzten Jahren nur so gut auswerten, weil wir Satelliten im Weltraum haben, die diese Vielzahl an Wetterveränderungen, die dann über lange Sicht zu Klimaveränderungen werden, beobachten. Raumfahrttechnologie ist also für die Bekämpfung der Klimakrise essenziell. Und neben der Beobachtung kommen aus der Raumfahrt ganz viele relevante Anwendungen, zum Beispiel für den Mobilitätsbereich. Eine effiziente Routenplanung baut etwa auf GPS- und Galileo-Daten auf. Ich bin viel unterwegs und besuche zum Beispiel Start-ups, die mit Satellitentechnologie daran arbeiten, Waldbrände früher zu erkennen. Auch das kann ein Teil der Bekämpfung der Klimakrise sein.
Wir suchen ja immer nach gemeinsamen europäischen Identifikationsthemen. Wie könnte man die europäische Raumfahrt zu einem solchen machen?
Zum Beispiel, indem man nicht nur tolle NASA-Pullis, sondern auch ESA-Pullis verkauft (lacht). Im Ernst: Beim Thema Sichtbarkeit kann die europäische Raumfahrt noch besser werden. Es gibt unglaublich viele Aktivitäten und wir müssen uns in Europa nicht verstecken. Die ESA hat eigene Astronaut:innen – und wenn man sich Alexander Gerst anschaut, dann sieht man, wie populär so jemand werden kann, in Deutschland und darüber hinaus. Auch bei den Themen sichere Kommunikation und Cybersecurity sprechen wir darüber, welche Rolle die europäische Raumfahrt und eine eigene Satellitenkonstellation spielen kann. Auch das ist etwas, wo Europa sichtbar sein muss in einer Welt, die aktuell unsicherer wird.
Letztlich ist die Prominenz des Themas Raumfahrt in den verschiedenen europäischen Gesellschaften auch unterschiedlich. In Frankreich gibt es zum Beispiel traditionell eine höhere gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema als in Deutschland. Emmanuel Macron hat das zuletzt auch sehr stark in den Fokus gerückt. Ich glaube, es würde uns insgesamt als Europa guttun, noch mehr stolz zu sein auf das, was wir schon aufgebaut haben. Wussten Sie, dass das europäische Galileo heute präziser ist als das amerikanische GPS-System? Und trotzdem würde niemand sagen: „Mein Handy navigiert mit Galileo.“ Wir haben ein exzellentes Forschungsökosystem, aber wenn es um den Schritt in die Kommerzialisierung und den Transfer geht, hinken wir hinter den USA hinterher.
Wichtig ist, dass am Ende gemeinschaftlich entschieden wird.
Woran liegt es, dass wir gerade in Deutschland bei dem Thema eher zurückhaltend sind?
Ich glaube, wir hängen in einigen Bereichen leider noch sehr an Vorurteilen. Gerade bei der Raumfahrt hört man immer wieder: „Oh nein, das kostet doch alles ganz fürchterlich viel. Und was kommt dann überhaupt dabei raus?“ Dabei sehen wir manchmal nicht die Chance, den Entdeckungsgeist auszuleben und dadurch neue Dinge zu erfahren, an die wir heute noch gar nicht denken. Manchmal sind wir in Deutschland vielleicht ein bisschen zu bodenständig und ordnen das alles in das Reich der Science-Fiction ein. Dann übersehen wir, wie viel in der Wirtschaft, der Industrie und unserem täglichen Leben von dem abhängt, was aus der Raumfahrt kommt.
Vielleicht hat das nicht nur mit Stolz zu tun, sondern auch mit Aufklärung?
Natürlich können wir mehr tun in der Kommunikation. Das fängt in der Schule und auch zu Hause an, wo man übrigens immer noch eher dem Jungen die Rakete schenkt als dem Mädchen. Das Ziel, mehr Frauen in der Raumfahrt sichtbar zu machen, ist mir ein großes Anliegen. Und es geht auch um die Frage, wie wir als Gesellschaft generell über Technologie sprechen. Nehmen wir das Thema Künstliche Intelligenz: Hier haben wir viel darüber diskutiert, wie böse Roboter die Welt regieren könnten, aber mitunter zu wenig über die Chancen durch KI – sei es im täglichen Leben, bei der Gesundheit oder im Klimaschutz. Insofern haben wir diesen vielleicht etwas skeptischen Bias in Deutschland in vielen Technologiebereichen. Ich möchte dazu beitragen, dass wir die Chancen und Möglichkeiten sehen und herausarbeiten, dass es ein absolutes Muss ist, in diesen Innovationsbereichen aktiv zu sein.
Raumfahrttechnologie ist also für die Bekämpfung der Klimakrise essenziell.
Wenn es bald privaten Weltraumtourismus gibt, fliegt Anna Christmann dann mit?
Ich kann verstehen, dass man den Wunsch hat, einmal in den Weltraum zu fliegen und die Perspektive zu wechseln. Wenn man Alexander Gerst davon erzählen hört, dass es einfach einen Unterschied macht, den Planeten mal von außen gesehen zu haben, dann ist das natürlich reizvoll. Trotzdem geht es darum, begrenzte Ressourcen möglichst sinnvoll einzusetzen. Und sinnvoller Einsatz bedeutet in der Raumfahrt nicht in allererster Linie Tourismusflüge, sondern die Anwendungen, die uns im Bereich Forschung, Innovationen und Exploration voranbringen. Was im kommerziellen Bereich stattfindet und von privaten Investoren finanziert wird, kann natürlich durchaus sinnvolle Transfers in andere Bereiche ermöglichen, weil es hier ja immer auch um Technologieentwicklung geht. Aber je mehr so etwas zunimmt, desto stärker muss man sich schon die Frage stellen, wer begrenzte Ressourcen nutzen sollte und wer nicht. Wenn im Jahr drei Leute in den Weltraum fliegen, dann ist das zu verkraften. Wenn es in Zukunft sehr viel mehr werden, muss man da sicherlich über gemeinsame Regeln sprechen.
Das Gespräch führten Cornelia Göbel und Daniel Wixforth.
Dr. Anna Christmann promovierte zum Thema „Die Grenzen direkter Demokratie“ in Zürich. 2003 wurde sie Mitglied bei den Grünen. Seit 2017 ist sie Mitglied des deutschen Bundestages. Im Januar 2022 wurde sie von Robert Habeck zur Koordinatorin der Bundesregierung für die Deutsche Luft- und Raumfahrt berufen.