Vielleicht ist das jetzt ja die Rache an all jenen Journalisten und Polit-Bundestrainern, die sich über den langweiligen Konsens-Wahlkampf beschwert haben. Vielleicht ist das, was wir gerade erleben, auch nichts weniger als eine Verrückung der über Jahrzehnte eingeübten Zeitpläne politischer Kontroverse. Vielleicht rebelliert politische Kommunikation in diesen Tagen gegen sich selbst, gegen die aus Gewohnheit an sie gerichteten Erwartungen. Und dass das alles am Anfang des Endes der Ära Merkel passiert, ist sicher auch kein Zufall.
Jamaika stockt, es hakt an allen Ecken und Enden, die Verhandlungen sind wieder einmal unterbrochen, wir sind wieder am Anfang – mit diesen Schlagzeilen und Aussagen der Beteiligten sind wir heute Morgen aufgewacht und haben uns die Augen gerieben, haben uns an einen Wahlkampf erinnert, in dem man die Parteien nur dadurch unterscheiden konnte, dass auf den Plakaten der Grünen etwas mehr grün, auf denen der FDP etwas mehr Unterhemd und auf denen der CDU etwas mehr Weichspüler war. Aber politischer Dissens? Entgegengesetzte Weltbilder? Unvereinbare Grundüberzeugungen? Nirgends. Haben die Protagonisten uns all diese Dinge im Sommer verheimlicht? Oder hatten sie sie schlichtweg vergessen und haben sie jetzt bei Cordon bleu und Krabbenspießen wiedergefunden?
In Wahrheit ist es wohl eher so, dass der nun seit zwölf Jahren einmassierte Politik- und Kommunikationsstil von Angela Merkel tiefere Spuren hinterlassen hat, als wir alle gedacht hatten. Eine dieser Spuren ist eine fortgeschrittene Unvereinbarkeit der Erwartungen zweier zentraler Zielgruppen von politischem Handeln und politischer Kommunikation: Die politisch eher passiven Bürger auf der einen Seite und die politisch aktiven Parteimitglieder auf der anderen Seite. Auf dem Balkon der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft prallen in diesen Tagen nun die Erwartungen dieser beiden Gruppen aufeinander.
Die vielleicht größte Kunst von Angela Merkel war und ist ihre Fähigkeit zur Absorption von Problemen und Kontroversen. Probleme und Kontroversen sind anstrengend, man möchte sich lieber nicht mit ihnen beschäftigen. Wie angenehm ist es da, wenn es an der Spitze jemanden gibt, der suggeriert, dass man das auch nicht muss! Merkels Erfolgsrezept: Vertraut mir einfach und ihr habt den Kopf frei für andere Dinge. An diese Maßgabe hat die Bundeskanzlerin das Land so sehr gewöhnt, dass es auch in Wahlkämpfen nicht mehr bereit war, sich davon zu verabschieden. Oder anders: Wer es wagt, diese Bequemlichkeit zu stören, nur weil eine Wahl vor der Tür steht, der wird dafür bei dieser sicher nicht belohnt. Vor allem Peer Steinbrück kann davon ein Lied singen. Martin Schulz ist das Wagnis dann gar nicht mehr richtig eingegangen (man könnte nun einwenden, dass der Wahlerfolg der AfD dieser These widerspricht. Allerdings haben sich die AfD-Wähler ja nicht gegen das Bequemlichkeitsversprechen als solches, sondern eher gegen die wahrgenommene Lücke zwischen Versprechen und gefühlter Realität aufgelehnt).
Parallel zu dieser Gewöhnung an Problemabsorption in der breiten Bevölkerung (und durch diese verstärkt) ist bei Parteimitgliedern und -funktionären vor allem der unteren und mittleren Ebene so etwas wie ein Gegengefühl entstanden. Man hat sich zunehmend gefragt (und der Autor dieses Textes hat das durchaus an sich selbst beobachten können), wofür man eigentlich noch in Gremien- und Parteisitzungen geht, wofür man sich samstags an einen Wahlkampfstand stellt, wenn es am Ende allenfalls um Unterschiede im Detail, aber längst nicht mehr um den großen Gegenentwurf geht. Diese Beobachtung gilt wohl für alle etablierten Parteien – in diesem Jahr sicher erstmals sogar für die sonst so obrigkeitsdisziplinierte Basis der CDU. Es ist ganz einfach: Anders als der normale Bürger möchten Parteimitglieder und Funktionäre nicht von Problemen und Kontroversen verschont werden. Im Gegenteil, sie lieben Probleme. Politische Kontroversen sind ihr Antrieb, die Legitimation für ihren Aufwand, ihre Daseinsberechtigung.
Und genau deshalb ist der kommunikative Schwenk, den das Boot nach Jamaika in diesen Wochen zwischen Wahlkampf (Zustimmung der Bevölkerung) und Koalitionsverhandlungen (Zustimmung der Parteibasen) vollziehen muss, eben mehr als eine kleine Kurskorrektur. Es ist ein fundamentales Wendemanöver. Die eine Zielgruppe steht Backbord, die andere Steuerbord. Diese Entwicklung kommt nicht aus dem Nichts (wir erinnern uns daran, mit welchem Aufwand Sigmar Gabriel vor vier Jahren die Basis der SPD von einer großen Koalition überzeugen musste) – sie war aber nie so deutlich greifbar wie in diesen Tagen, nie so zugespitzt wie zu Beginn dieser vermutlich letzten Legislatur der Absorptionskönigin Merkel.
Die zukünftig entscheidende Frage wird sein, ob die Politik (Regierung wie Opposition) es in den nächsten Jahren vermag, die Erwartungen von Bevölkerung und Parteimitgliedern wieder aneinander anzunähern oder ob es zu einer weiteren Entkopplung dieser Sphären kommt. Demokratietheoretisch muss letzteres nicht unbedingt die schlechtere Variante sein. Nur soll sich dann bitte niemand mehr über langweilige Wahlkämpfe und langwierige Sondierungen beschweren.
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