Angela Merkel ist nicht nur die erste Frau, die als Bundeskanzlerin das Land regiert. Sie war auch die erste Spitzenkandidatin, als sie 2005 erstmals für das Amt kandidierte. Keine Partei war bis dahin allein mit einer Frau an der Spitze in den Wahlkampf gezogen.
Lediglich die Grünen nominierten fast immer Frauen – als Teil einer Doppelspitze.
2017 ist vieles anders. Angela Merkel für die Union, Katrin Göring-Eckardt für die Grünen, Sahra Wagenknecht für die Linke und Alice Weidel für die AfD – nie zuvor hatte Deutschland so viele Spitzenkandidatinnen wie bei dieser Bundestagswahl. Und obwohl die SPD erneut mit einem Mann in den Wahlkampf gezogen ist, steht mit Andrea Nahles eine starke und machtbewusste Frau bereit, das schlingernde SPD-Schiff nach der befürchteten Havarie am Wahlsonntag zu übernehmen.
Es gibt viele Unterschiede zwischen den Spitzenkandidatinnen und das betrifft nicht nur ihre politische Ausrichtung. Auch wie sie öffentlich auftreten, wie sie an die Spitze ihrer jeweiligen Parteien gelangt sind und über welche Themen sie sich im Wahlkampf positionieren, unterscheidet sie. Die einen wollen sich über Themen profilieren, die anderen setzen auf ihre persönliche Popularität und Erfahrung im politischen Betrieb. Sie wurden protegiert, aus dem Hut gezaubert oder haben sich durch diverse Kampfabstimmungen und Flügelstreitigkeiten an die Spitze gekämpft. Nur eines haben sie alle gemeinsam. Aber dazu später mehr.
Die ewige Kanzlerin
„Sie kennen mich“ – dieses Zitat steht für Angela Merkels Erfolg wie kein anderes. Sie setzt auf Beständigkeit, Vertrauen und Erfahrung. In ihrem politischen Verständnis spielen Werte eine große Rolle, Ideologie weniger. Der Economist schrieb kürzlich: „Angela Merkel denkt ethisch, aber nicht ideologisch“. [1] Ideologie ist für Angela Merkel kein Parameter ihrer Politik. Zu sehr hat sie selbst als junger Mensch in der DDR erfahren, was Ideologie-getriebene Politik anrichtet und was bleibt, sobald sie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Merkel profiliert sich nicht über einzelne Themen. Als Bundeskanzlerin muss sie das auch nicht. Ihr Vorteil ist, dass sie besonders als erfahrene Politikerin und versierte Strategin geschätzt wird, die den Politikbetrieb in- und auswendig kennt. Dass sie auf der internationalen Bühne bestehen kann und auf Augenhöhe mit den Trumps und Putins dieser Welt steht, hat sie bewiesen. Das hat sie allen anderen voraus, mit der Staatsfrau Merkel kann sich niemand messen.
So hat sie sich von Kohls „Mädchen“ zu einer der einflussreichsten Politikerinnen der Welt entwickelt – das attestierte ihr das US-Nachrichtenmagazin Time in seinem Ranking „Most Influential Person“ in den Jahren 2015 und 2016 [2].
Die fleißige Kämpferin
Bei der SPD stehen Frauen wie Andrea Nahles oder Manuela Schwesig in der vorderen Reihe – bis ganz vorne hat es aber noch keine gewagt. Nahles ist keine Spitzenkandidatin, aber eine wichtige Protagonistin der sozialdemokratischen Führungsreserve. Sie hat sich in den letzten vier Jahren vor allem mit den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Themen ihres Hauses hervorgetan. Als Arbeitsministerin hat sie den Koalitionsvertrag als Hausaufgabenheft verstanden und fast alle Aufgaben erledigt. Und sie kann im Gegensatz zu anderen Ministern konkrete Ergebnisse vorweisen: Mindestlohn, Rente, Leiharbeit, Werkverträge oder Bundesteilhabegesetz – Nahles hat fleißig abgearbeitet, gekämpft und geliefert.
Ihr Profilierungsthema war schon immer die soziale Gerechtigkeit. 2000 gründete die ehemalige Juso-Vorsitzende das Forum Demokratische Linke 21 und bildete den Gegenpol zu Gerhard Schröder und dessen Agenda-Reformen. Heute hat sie das Image der Widersacherin vom linken Flügel der SPD weitgehend abgelegt.
Im Jahr 2010 erklärte die Süddeutsche Zeitung sie zur „starken Frau der SPD“ [3]. Machtbewusst, durchsetzungsstark, klare Themen und eine gute Positionierung innerhalb der Partei – über Nahles wird noch zu reden sein.
Die machtbewusste Ideologin
Keine Frau steht so sehr für Die Linke wie Sahra Wagenknecht. War sie lange die linke Ideologin von der Kommunistischen Plattform, wirkt sie heute pragmatischer. Sie klagt an, sie stellt an den Pranger, sie fordert ein – Wagenknecht macht Druck wie keine andere. Ihr Kernthema ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik, hier ist sie als promovierte Volkswirtin beheimatet. Laut FAZ ist sie auch die einzige Ökonomin unter den Fraktionschefs im Deutschen Bundestag. [4]
Sie ist gleichzeitig eine streitbare und kontroverse politische Persönlichkeit. Für viele ist sie noch zu sehr den Ideen der DDR verhaftet, auch innerhalb ihrer Partei hat sie Gegner. Vor allem prominente Vertreter des pragmatischen Flügels wie Gregor Gysi und Dietmar Bartsch haben ihre scharfzüngigen Attacken des Öftern zu spüren bekommen.
Denn Wagenknecht zeigt Kante innerhalb und außerhalb der Partei. Mit ihren Auftritten und Buchvorstellungen füllt sie Theater, Stadthallen und Hörsäle deutschlandweit. Sie ist gern gesehener Gast in den Talkshows von ARD und ZDF, niemand wurde 2016 so oft eingeladen wie sie. [5] Wagenknecht hat das, was heute so oft vermisst wird: Charisma. Und das hat sie nicht nur ihren Mitstreiterinnen voraus.
Die grüne Merkel
2013 bezeichnete die FAZ Katrin Göring-Eckardt als die „grüne Angela“. [6] Die Gründe: die eher zurückhaltende Art bei öffentlichen Auftritten – kein Gepolter, sondern eher ein behutsames und überlegtes Vorgehen. Und Göring-Eckardt wird ähnlich wie Merkel eine starke christliche Werteorientierung zugesprochen. Sie studierte bis 1989 Theologie und war lange Zeit mit einem Pfarrer verheiratet. Pfarrersfrau und Pfarrerstochter – solche Zufälligkeiten reichen manchmal schon, um in einem Topf zu landen.
In der Partei wird sie dem Realo-Flügel zugeordnet, ihr bürgerlicher Habitus macht sie wählbar über die grüne Kernklientel hinaus. Ihren Machtwillen demonstrierte sie 2013, als sie sich bei der Urwahl für den Parteivorsitz gegen Claudia Roth und Renate Künast durchsetzte. In der rot-grünen Koalition profilierte sie sich mit sozialpolitischen Themen, unterstützte aber auch die Agenda 2010. Als Parteivorsitzende steht sie heute für ein breites Spektrum an Themen: vom Klimawandel über den Umweltschutz bis zur sozialen Gerechtigkeit. Medien attestieren ihr, dass sie sich weiterentwickelt habe und dass sie auch ihre öffentlichen Auftritte gut meistere. Der konkrete Inhalt steht bei ihr im Vordergrund.
Die unbekannte Provokateurin
Alice Weidel hat es erst durch diverse TV-Auftritte und deren abrupte Beendigung geschafft, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und Bekanntheit zu erlangen. Aus dem Schatten ihres männlichen Co-Kandidaten Alexander Gauland trat sie, als sie die Talkshow „Wie geht’s Deutschland“ mittendrin und völlig überraschend verließ. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hatte sie wiederholt aufgefordert, sich von Björn Höcke und Alexander Gauland zu distanzieren. Weidel ging stattdessen und inszenierte sich als Opfer des polit-medialen Establishments.
Wurde sie zu Beginn eher als gemäßigt innerhalb der Partei verortet, hat sich diese Einschätzung in der heißen Wahlkampfphase verflüchtigt. Weidel ist nach rechts gedriftet, dort, wo Gauland und Höcke bereits ihre Pflöcke eingeschlagen haben.
Von den anderen Spitzenkandidatinnen unterscheidet sie vor allem eins: Ihre Unerfahrenheit im politischen Betrieb und in der Medienarbeit. Sie wirkt oft steif und unnahbar – der Typ Mensch, mit dem man nicht auf einer einsamen Insel festsitzen möchte.
Die Gretchenfrage: Muss Frau Frauenpolitik machen?
Niemand käme auf die Idee, dass Männer Politik für Männer machen müssen. Bei Frauen ist es immer noch anders. Sie müssen sich entweder vorhalten lassen, dass sie zu wenig für Frauen tun – oder zu viel.
Hillary Clinton stand beispielsweise vor diesem Problem. Hatte sie 2008 noch Zurückhaltung in frauenpolitischen Fragen geübt, trat sie im US-Wahlkampf 2016 gerne und häufig zu diesem Thema auf. Sie platzierte sich demonstrativ vor Gruppen ausschließlich aus Frauen und versprach, sich den Themen „Equal pay“ und „Gender equality“ anzunehmen. Sie setzte es gezielt ein, eine Frau zu sein, die sich für die Belange anderer Frauen einsetzt. 54 Prozent der Amerikanerinnen gaben ihr dafür ihre Stimme. [7]
Für Theresa May als britische Premierministerin stehen aktuell Themen wie der Brexit und die innere Sicherheit auf der politischen Agenda. Doch in ihren früheren Jahren, unter anderem als Minister for Women and Equality, verstand sie sich als Verfechterin von Frauenrechten. Sie ließ sich mit einem T-Shirt ablichten, auf dem stand „This is what a feminist looks like“. Im Jahr 2005 gründete sie innerhalb der Konservativen-Partei den Flügel „Women2Win“.
Bei den deutschen Spitzenkandidatinnen ist das undenkbar. Sie alle nutzen das Thema nicht, weder zur Profilierung noch zur Differenzierung. Auch wenn Göring-Eckardt oder Wagenknecht sich für Frauenquote und gleiche Bezahlung einsetzen – sie stehen nicht mit ihrer Person dafür ein. Sie sind nicht diejenigen Politikerinnen in ihrer Partei, mit denen man diese Themen in Verbindung bringt. Dies gilt auch für Angela Merkel, über die die New York Times feststellte: „She has rarely if ever publicly promoted the issue of advancement for women – and women in Germany have not advanced much“. [8]
Es muss nicht die Aufgabe von Frauen sein, Frauen- und Gleichstellungspolitik voranzubringen – zumindest nicht mehr oder weniger als für Männer. Aber es könnte ein taktischer Fehler sein, dieses Thema nicht mit der Spitzenkandidatin zu verbinden, denn hier schlummern Potenziale, die nicht genutzt werden. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist jede zweite Frau im Alter bis 40 Jahren der Meinung, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland nicht realisiert ist. [9| Sich als Vorkämpferin dieser Frauen zu profilieren, könnte helfen – bei der nächsten Wahl.
Was sind die Gründe dafür, dass diese Themen bisher nicht zur Profilierung genutzt werden? Erstens wollen die Kandidatinnen wohl eine zu einseitige Wahrnehmung vermeiden. Politisch positionieren sie sich über Themen wie innere Sicherheit, Klimaschutz und Finanzpolitik. Das weckt mehr Vertrauen und spricht die Gesamtheit der Wähler an. Gleichstellung ist schon zu speziell. Zweitens hat es immer noch ein „Geschmäckle“. Schnell wird sie zur Feministin „degradiert“ – denn der Begriff ist auch heute teilweise noch negativ besetzt. Selbst Angela Merkel nennt in ihrer Antwort auf die Frage beim G20-Frauengipfel, ob sie eine Feministin sei, als erstes die Errungenschaften von Alice Schwarzer. [10] Eine Journalistin und politische Aktivistin ist die Verkörperung des Feminismus in Deutschland und nicht die erfolgreiche Kanzlerin, die das Land wahrscheinlich bald länger regiert als Konrad Adenauer.
Antonia Meyer ist Associate bei den 365 Sherpas. Seit über fünf Jahren ist sie in der Kommunikationsberatung tätig und wurde 2016 vom PR Report als Young Professional des Jahres ausgezeichnet.
Quellen
[1] https://www.economist.com/blogs/kaffeeklatsch/2017/09/how-understand-angela-merkel
[2] https://time.com/time-person-of-the-year-2015-angela-merkel/
[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/andrea-nahles-im-portraet-die-starke-frau-der-spd-1.191202
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169412/umfrage/meisteingeladene-gaeste-in-talkshows/
[8] https://www.nytimes.com/2017/09/13/world/europe/angela-merkel-germany-election.html?mcubz=3
[9] library.fes.de/pdf-files/dialog/12633.pdf
[10] https://www.spiegel.de/video/angela-merkel-antwortet-auf-feministin-frage-video-1761499.html