Österreich weist, ganz im europäischen Trend, eine mangelhafte Durchimpfungsrate und steigende Masernfälle auf. Das bringt die Diskussion um eine Impfpflicht erneut auf die politische Agenda.
Während die Parteien sich zur Impfpflicht eher bedeckt halten und größtenteils gegen eine Impfpflicht und stattdessen für mehr Aufklärung argumentieren, fordern Gesundheitsexperten, Apotheker, Ärzte und zuletzt sogar die Landeshauptleute aus Niederösterreich und der Steiermark eine Masern-Impfpflicht. Die österreichischen Impfstoffhersteller, die sich zu einem Verband, dem ÖVIH, zusammengeschlossen haben, hätten ebenfalls einige gesundheitspolitische Ideen, um der sinkenden Durchimpfungsrate entgegenzuwirken. Über diese hat Wiebke Junge von 365 Sherpas mit ÖVIH-Generealsekretär Bernhard Prager gesprochen.
365 Sherpas: Herr Prager, warum schließt man sich mit der Konkurrenz zu einem Verband wie dem ÖVIH zusammen?
Bernhard Prager: Es braucht die Vernetzung der Impfstoffhersteller, weil der Impfstoffbereich nicht nur sehr komplex, sondern auch sehr breit ist. Es gibt insgesamt wahrscheinlich weniger Konkurrenzsituationen als in anderen Bereichen der Pharmaindustrie und gar keinen Generikawettbewerb. Nur wenige Hersteller sind überhaupt noch in der Lage, den heutigen Qualitätsanforderungen gerecht zu werden.
Paradoxerweise generiert der Erfolg von Impfungen und verschwindenden Krankheiten auch das größte Problem, nämlich die sinkende Akzeptanz von Impfungen.
Beim ÖVIH geht es uns darum, den gesellschaftlichen Mehrwert des Impfens bekannt zu machen und daran zu erinnern, dass manche Krankheiten auch sehr rasch wiederkommen können, wenn nicht geimpft wird. Da sehen wir uns als Hersteller in der Verantwortung. Man kämpft hier eher gegen Nichtimpfer, Impfgegner oder Fake News, als gegen Wettbewerber.
365 Sherpas: Aktuell sind Masern wieder Thema in den österreichischen Tageszeitungen. Mit 77 Masernfällen im Jahr 20181 und 151 Masernfällen im Jahr 20192 hat sich die Zahl der Masernfälle in Österreich innerhalb eines Jahres etwa verdoppelt. Brauchen wir eine Impfpflicht?
Bernhard Prager: Natürlich greift eine Impfpflicht, das sehen wir am Beispiel der USA. Trotzdem scheint die Einführung einer Impfpflicht gesundheitspolitisch in Europa eine heilige Kuh zu sein. Paradoxerweise reagiert die Politik in anderen Bereichen wesentlich schneller mit Verpflichtungen oder Verboten – beispielsweise die Gurtenpflicht im Auto.
Warum eine Impfpflicht oft so radikal ablehnt wird – und zwar quer durch fast alle parteipolitischen Lager –, ist bei sachlicher Betrachtung eigentlich unbegreiflich. Ich glaube, dass die Menschen sich die Sachlage hier nicht ausreichend vergegenwärtigen, sondern sich von gesellschaftlichen Emotionen leiten lassen. Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo sie andere gefährdet oder schädigt. Nicht zu impfen ist also schlichtweg unsolidarisch und kann andere Menschen in Lebensgefahr bringen. Und auch juristisch gibt es hier ein Argument, denn wer eine gefährliche, ansteckende Infektionskrankheit weitergibt, wissentlich oder unwissentlich, der macht sich laut §178 StGB strafbar3. Daher verstehe ich die kategorische Ablehnung einer Impfpflicht im weitesten Sinne nicht. Obwohl ich grundsätzlich die Meinung teile, dass ergänzend auch weitere Maßnahmen zu besseren Durchimpfungsraten führen können. Es gilt an mehreren Stellschrauben zu drehen.
365 Sherpas: Welche politischen Instrumente gäbe es außerdem? Helfen Aufklärungskampagnen, um eine bessere Durchimpfungsrate zu erzielen und der Impfmüdigkeit in Österreich ein Ende zu setzen?
Bernhard Prager: Aufklärung allein erleichtert noch nicht den Zugang zum Impfen und hier haben wir in Österreich teilweise große Hürden. Zunächst wäre es wichtig, diese Hürden abzubauen. Zum Beispiel sind Impfungen für Erwachsene in Österreich de facto eine Privatleistung. Es ist hier also nicht nur die eigenverantwortliche Planung und Durchführung der Bürgerinnen und Bürger erforderlich, sondern auch die private Kostenübernahme, denn die Sozialversicherung übernimmt nur einen Bruchteil der Kosten für Impfstoffe im Kinderimpfkonzept, das im Wesentlichen mit 15 Jahren endet. Impfstoffe für Erwachsene sind aus eigener Tasche zu finanzieren, das Impfhonorar beim Arzt kommt noch obendrauf. Dieser Umstand stößt bei vielen Versicherten auf Unverständnis, da sie doch laufend ihre Beiträge zahlen. Außerdem hat der ÖVIH mit dem Institut für Pharmaökonomische Forschung erst kürzlich die Ergebnisse einer gemeinsamen Studie veröffentlicht, die belegt, dass die Influenza-Impfung als Präventionsmaßnahme dauerhaft kostensparend im System wirkt, da sie Krankenstandstage vermindert und Folgeschäden einer Grippe gerade bei Risikogruppen reduziert. Es ist also Interesse der öffentlichen Hand, eine hohe Durchimpfungsrate zu erzielen und Hürden im Impfbereich abzubauen.
365 Sherpas: Was wären weitere nötige gesundheitspolitische Maßnahmen im Impfbereich?
Bernhard Prager: Insgesamt fordern wir als ÖVIH einen Nationalen Aktionsplan für das Impfen, der auch konkrete Maßnahmen zur Umsetzung bringen kann. Eine weitere Maßnahme wäre zum Beispiel der Abbau von Intransparenz über die Impf-Kompetenz von Gesundheitsberufen. Jemand, der sich impfen oder über das Impfen aufklären lassen will, weiß zum Beispiel nicht, wo eine kompetente Impfberatung durch einen Arzt oder Apotheker angetroffen werden kann.
365 Sherpas: Heißt das, wir müssen auch bei der Ausbildung des medizinischen Fachpersonals ansetzen?
Bernhard Prager: Unbedingt. Das Ministerium könnte auch eine Art Gütesiegel schaffen. Für die Bürgerin bzw. den Bürger schaut doch jede Apotheke und jede Arztpraxis erstmal gleich aus. Es gibt medizinische Zusatzfächer für alle möglichen Disziplinen – für das Impfen gibt es sowas nicht. Auch die Ärztekammer wäre hier gefordert, eine Kennzeichnung für Fachkompetenz im Impfbereich zu schaffen.
365 Sherpas: Welche weiteren Probleme birgt die „Privatisierung“ des Impfens in Österreich?
Bernhard Prager: Das Impfen als Privatleistung bedeutet auch Intransparenz und Mangel an Daten. Für Impfungen wie die Influenza, die komplett im Privatbereich liegen, kann die öffentliche Hand zum Beispiel gar nicht wissen, wie die Durchimpfungsrate aussieht, da die e-card beim Arzt nicht gesteckt wird. Der ÖVIH versucht hier seit einigen Jahren wenigstens ein paar Basisdaten zu erheben und stellt diese der Öffentlichkeit auf der Homepage zur Verfügung. Innovationen wie der elektronische Impfpass werden in Zukunft diese Datenlücken schließen.
365 Sherpas: Welche Erwartungen haben Sie an den elektronischen Impfpass?
Bernhard Prager: Ich sehe großes Potenzial im elektronischen Impfpass. Die Erfassung der Daten wird aber eine große Herausforderung darstellen. Die Lösung muss alle individuellen Besonderheiten abdecken können und auch zurückliegende Daten erfassen und die gesamte Impfhistorie dokumentieren. Auf anonymisierter Ebene sind dann weiterführende gesundheitspolitische Analysen möglich, das kann einen großen Beitrag für die Lebensqualität aller Bürger liefern. Es muss ein brauchbares, individuelles Tool für jung und alt sein. Wir können damit im europäischen Spitzenfeld mitmischen. Wenn dieses Projekt so gelingt, dann wäre dies auch eine großartige Möglichkeit, der Bevölkerung zu vermitteln, dass die digitale Erfassung und Vernetzung medizinischer Informationen einen echten Mehrwert für jeden einzelnen bringen kann. Aber bis dahin gibt es noch viel zu tun.
365 Sherpas: Vielen Dank für das Gespräch!
Mag. Bernhard Prager ist seit 2004 für Impfstoffe bei Sanofi Pasteur zuständig und darüber hinaus Generalsekretär des ÖVIH (Österreichischer Verband der Impfstoffhersteller4). Als besonders abwechslungsreich und sinnvoll empfindet er den Impfstoffbereich, weil man hier eine medizinische Errungenschaft unterstützen und Prävention mitgestalten kann.
1 www.ecdc.europa.eu
2 www.sozialministerium.at
3 „Wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den wenn auch nur beschränkt anzeige- oder meldepflichtigen Krankheiten gehört.“ Siehe §178 StGB
4 www.oevih.at
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