Reem Alabali-Radovan fordert mehr Einbürgerungen, mehr Fachkräfteeinwanderung und gelebte Diversität. Die Staatsministerin für Integration und Antirassismusbeauftragte hat mit uns über Deutschland als Einwanderungsland, ihre eigene Geschichte und über den Moment gesprochen, der sie endgültig politisiert hat.
Wir leben in bewegten Zeiten. Bevor wir zum Thema Integrationspolitik kommen, lassen Sie uns an dieser Stelle auf die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine blicken. Der Krieg zwingt viele Menschen zu flüchten – auch nach Deutschland. Was kann und sollte Deutschland jetzt tun, um ganz konkret zu helfen?
Deutschland wird alle Menschen aufnehmen, die aus der Ukraine zu uns flüchten und Schutz suchen, unabhängig von Herkunft und Nationalität. Das haben Bund und Länder klargestellt. In diesen Wochen geht es um die Unterbringung und Erstversorgung. Viele waren tagelang unterwegs, haben Traumatisches erlebt. Ihnen steht Deutschland schnell und unbürokratisch zur Seite: die vielen Hauptamtlichen im Schulterschluss mit dem großartigen, ehrenamtlichen Engagement, für das ich von Herzen dankbar bin. Der Bund hat nun erstmals den § 24 im Aufenthaltsgesetz aktiviert: Alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bekommen einen gesicherten, langfristigen Aufenthaltstitel und Krankenschutz. Und wir stellen die Weichen auf Integration, wenn die Menschen nicht in ihre ukrainische Heimat zurückkehren können: Sie können eine Arbeit aufnehmen und erhalten Sozialleistungen. Ebenso sollen sie Zugang zu den Integrationskursen zum Deutschlernen haben.
Ihr Thema ist die Integrationspolitik. Das ist für Sie kein neues Thema, damit haben Sie sich schon an anderen Stellen intensiv beschäftigt. Was wäre aus Ihrer Sicht Fortschritt in der Integrationspolitik und wie müsste er aussehen?
Die neue Bundesregierung hat sich klar dazu bekannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ich möchte, dass wir dann auch als modernes Einwanderungsland im Integrationsbereich vorangehen. Lebensgeschichten wie meine, mit Einwanderung und Ankommen, sind längst Normalität in Deutschland. Unsere Gesellschaft ist sehr vielfältig, und diese Vielfalt müssen wir in allen Bereichen wertschätzen und widerspiegeln. Konkret geht es mir um bessere, schnellere und mehr Einbürgerungen, um mehr Fachkräfteeinwanderung oder Diversität – auch im öffentlichen Dienst. Aber es geht auch um konsequente Antirassismusarbeit. Das sind meine Schwerpunkte, da möchte ich mit meinem Amt etwas für den Fortschritt in unserem Land erreichen.
Der Bundeskanzler hat in seiner ersten Regierungserklärung die Rolle Deutschlands als Einwanderungsland betont. Warum war das wichtig?
Das war sehr wichtig, weil dieses klare Bekenntnis in den letzten Jahren oft gefehlt hat. Deutschland ist schon lange Einwanderungsland, viele Menschen nehmen das so wahr und die Zahlen zeigen das. Auf politischer Ebene wurde das nicht wirklich thematisiert. Ich hatte tatsächlich Gänsehaut, als Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung über Deutschland als Einwanderungsland gesprochen hat, vielen Menschen spricht er damit aus der Seele, viele fühlen sich dadurch gesehen und wertgeschätzt. Wir repräsentieren mit der neuen Bundesregierung gerade bei der Integration einen echten Aufbruch. Wir haben im Koalitionsvertrag viele Vorhaben vereinbart, sei es im Aufenthaltsgesetz oder bei der Einbürgerung, aber auch bei der Partizipation von Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte. Ich freue mich, Teil dieses Aufbruchs zu sein, und werde mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen, diesen Fortschritt gemeinsam umzusetzen.
Nach Hanau habe ich mich entschieden, für den Bundestag zu kandidieren.
Was bringen Sie an speziellem Blick, an Hintergrund oder Vordergrund mit, der vorher fehlte?
Abgesehen von meiner eigenen Lebensgeschichte und der Perspektive einer jungen, ostdeutschen Frau mit Einwanderungsgeschichte, bringe ich auch meine berufliche Erfahrung mit. Ich habe in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge gearbeitet. Danach war ich Integrationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern und habe Erfahrung mit Initiativen für mehr Teilhabe und Integration. Ich weiß also, was die Gesetze und die Vorhaben, die wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, für die Menschen vor Ort konkret bedeuten, an welchen Stellen wir besser werden müssen. Dieser Blick aus der Praxis, aus dem Alltag in Städten und Gemeinden ist wichtig, weil Integration sonst schnell abstrakt sein kann.
Wo sehen Sie den größten Änderungsbedarf in der Integrationspolitik?
Ein wichtiger Punkt ist die Antirassismusarbeit. Das Bundeskabinett hat mich im Februar zur allerersten Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus berufen. Darüber freue ich mich sehr, da müssen wir vieles anpacken. Die Migrantenorganisationen und viele zivilgesellschaftliche Akteure kämpfen seit Langem um die Anerkennung, dass es in einigen Bereichen strukturelle Hürden gibt, auch strukturellen Rassismus. Der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist daher ein Schwerpunkt meiner Arbeit. Wir wollen die Perspektive wechseln und die Betroffenen in den Mittelpunkt stellen – mit ihnen statt über sie zu sprechen. Das ist wichtig für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Es wird viel über die Spaltung der Gesellschaft diskutiert. Was brauchen wir, um als Gesellschaft fortschrittlich, inklusiv und frei von Rassismus zu sein?
Alle 83 Millionen in unserem Land müssen gleichberechtigt teilhaben können und die gleichen Chancen haben. Gerade im Integrationsbereich merken wir, dass wir das noch nicht geschafft haben. Da werden wir einiges umsetzen: Wir stärken die frühkindliche Bildung und Sprachförderung in den Kitas für alle Kinder. Wir wollen Integrationskurse ermöglichen für alle Eingewanderten, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Aber auch Einbürgerungen sind wichtig, denn nur dann haben Menschen – die oftmals seit zehn Jahren oder länger bei uns leben, arbeiten und Steuern zahlen – auch alle Rechte. Nur als Deutsche können sie wählen und gewählt werden. Wahlvolk und Bevölkerung dürfen nicht weiter auseinanderfallen. Es geht also um das Widerspiegeln unserer Diversität auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Gegen Spaltung hilft nur Zusammenhalt, den wollen wir stärken. Und unser Zusammenhalt hat nicht nur durch die Corona-Pandemie, sondern auch durch rechtsextreme und rassistische Anschläge und Straftaten gelitten.
Gegen Spaltung hilft nur Zusammenhalt, den wollen wir stärken.
Warum ist die Verbindung von Integrations- und Antirassismusarbeit so wichtig?
Die Verbindung der beiden Ämter ist wichtig, weil ich als Integrationsbeauftragte bereits durch das Aufenthaltsgesetz den gesetzlichen Auftrag habe, das Zusammenleben in Deutschland zu stärken und jeder „Fremdenfeindlichkeit“ entgegenzuwirken. Das ist zwar ein sehr veralteter Begriff für Rassismus – den ich im Gesetz gerne streichen möchte –, doch es ist ein klarer Auftrag. Dass dieser Auftrag höchste Priorität hat, wird dadurch deutlich, dass die neue Stelle direkt im Bundeskanzleramt verortet ist. Ich kann aus dem Bundeskanzleramt heraus die Maßnahmen der Bundesregierung gegen Rassismus zentral koordinieren und den Betroffenen Stimme und Gehör geben.
Was hat Sie bewogen, für den Bundestag zu kandidieren, und weshalb haben Sie sich für die Sozialdemokratie entschieden?
Der entscheidende Moment, in die Politik zu gehen, war für mich der rassistische Anschlag von Hanau im Februar 2020. Was damals passiert ist, hat mich ins Mark getroffen. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben und ich habe gedacht: Ich muss mich politisch aktiv beteiligen, mich einmischen, laut werden und mitgestalten. Nach Hanau habe ich mich entschieden, für den Bundestag zu kandidieren. Mein Herz schlägt schon immer für die Werte und Ideen der Sozialdemokratie und es war immer klar: Wenn ich in die Politik gehe, dann in die SPD. Und ich bin sehr dankbar, dass mir die Menschen in Schwerin und Westmecklenburg ihr Vertrauen und ihre Stimme gegeben haben.
Ab wann haben Sie sich politisch engagiert?
Engagiert habe ich mich seit 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung von Mecklenburg-Vorpommern, das Politische kam dann durch meine Arbeit in der Landesregierung hinzu. Ich finde es sehr wichtig, jungen Menschen zu zeigen, dass sie sich politisch beteiligen und damit auch tatsächlich etwas bewirken können – parteipolitisch, aber auch bei „Fridays for Future“ oder der „Black Lives Matter“-Bewegung. Im Antirassismus- und Integrationsbereich ist es ganz ähnlich, es gibt viel politisches Engagement in Migrantenorganisationen oder in Stadtteilvereinen. Das ist wichtig für unsere Demokratie.
Mit Blick auf Ihre Erfahrung im Land: Ist Integrationspolitik ein sehr föderales Thema oder ist es von Vorteil, im Kanzleramt mit einer gewissen Durchschlagskraft an diesem Thema zu arbeiten?
Es ist wichtig, dass wir als Staat in jeder Kommune und in jedem Bundesland die gleichen Möglichkeiten und Perspektiven schaffen. Beispielsweise müssen Integrationskurse und Migrationsberatung in Mecklenburg-Vorpommern ebenso erreichbar sein wie in Bayern. Das koordinieren und finanzieren wir auf Bundesebene. Aber ich habe natürlich auch einen Blick dafür – gerade, weil ich aus Mecklenburg-Vorpommern komme –, dass Integration im ländlichen Raum anders laufen muss als in Berlin oder Hamburg. Manche Dinge funktionieren sehr gut in den Städten, sind aber anderswo aufgrund der Infrastruktur schwer umzusetzen. Deshalb bin ich regelmäßig im Austausch mit den Integrationsbeauftragten der Länder und Kommunen, damit wir deutschlandweit die besten Bedingungen für Teilhabe und Integration schaffen.
In Ihrer Freizeit boxen Sie. Haben Sie sich vorgenommen, eine gute Sparringspartnerin für Olaf Scholz zu sein, was das Thema Integration und Antirassismus betrifft?
(Lacht) Gut, dass Sie das sagen. Sparringspartnerin? Daran habe ich noch gar nicht gedacht, da ich eher hobbymäßig boxe, nicht im Wettkampf im Ring. Mich lehrt das Boxen aber, dass man Geduld, Disziplin und Ausdauer braucht. Und auf die Integrationspolitik übertragen zeigt es, dass es um gemeinsame Regeln für alle geht und um Respekt für mein Gegenüber, egal woher man kommt.
Das Gespräch führten Tobias Jerzewski und Cornelius Winter.
Reem Alabali-Radovan ist Staatsministerin für Integration und Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung. Sie war zuvor Integrationsbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern. Alabali-Radovan trat erst Anfang 2021 in die SPD ein, kandidierte im gleichen Jahr für die Bundestagswahl und zog in den Bundestag ein. Ihre Eltern stammen aus dem Irak und kamen 1996 mit ihr nach Mecklenburg- Vorpommern. Alabali-Radovan ist Hobbyboxerin und mit einem Profiboxer verheiratet.