In seinen Filmen dokumentiert Stephan Lamby präzise den Weg zu politischen Entscheidungen. Wir treffen Lamby in seinem Hamburger Schnittraum und sprechen mit ihm über die Bundesregierung, Journalismus in bewegten Zeiten und die Konkurrenz durch soziale Medien.
Sie haben den Wahlkampf hautnah verfolgt. Was hat Olaf Scholz aus Ihrer Sicht besser gemacht als die anderen?
Die Nominierung und der Wahlkampf von Scholz als Kanzlerkandidat waren geräusch- und nahezu fehlerlos, während seine Mitbewerber eine Menge Fehler gemacht haben. Ich finde, dass man im Wahlkampf vor allem über die großen politischen Herausforderungen reden sollte, aber wenn eine Kandidatin auf großer Bühne dabei ertappt wird, dass sie ein Buch in Teilen abgeschrieben hat, dann ist das tödlich in einem Wahlkampf, in dem es um Vertrauen geht. Wenn jemand bei über 100 Toten im Hochwassergebiet seine Mimik nicht unter Kontrolle hat und unangemessen lacht, ist das auch schädlich für eine Kampagne. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, wenn Armin Laschet und Annalena Baerbock diese schweren Fehler nicht gemacht hätten, würden wir heute vermutlich nicht über einen Bundeskanzler Olaf Scholz sprechen. Denn das Rennen war ja monatelang sehr knapp.
„Mehr Fortschritt wagen“ heißt es im Koalitionsvertrag. Was denken Sie, wie viel Zeit hat eine Bundesregierung, sich an diesem Versprechen messen zu lassen?
Der Schwung des Anfangs ist enorm wichtig, eine Mischung aus Stabilität und Veränderung ist notwendig. Es geht darum, die Bevölkerung mitzunehmen bei den einschneidenden Maßnahmen, die anstehen. Ich sehe so die Chance, die gravierenden Veränderungen gesellschaftlich zu verankern. Wenn wir so weiterleben, wie wir die letzten über 100 Jahre gelebt haben, werden wir unseren Kindern und Kindeskindern eine wenig lebenswerte Welt hinterlassen. Es gibt einen wachsenden Druck zur Veränderung. Es ist paradox, macht aber Sinn: Wir brauchen Stabilität genauso wie Veränderung.
Wir alle, unsere Kinder und Kindeskinder erleben gerade den Krieg in der Ukraine. Wie verändert sich nach Ihrer Beobachtung das Verhalten von Politiker:innen, wenn Stabilität durch ein externes Ereignis derart bedroht ist?
Die Regierungsmitglieder unternehmen einen Drahtseilakt. Einerseits versuchen sie, die Bevölkerung zu beruhigen. Sie beteuern, dass Deutschland nicht aktiv in den Krieg eingreifen wird und dass die Versorgung mit Energie gesichert ist. Es gibt keinen Grund zur Sorge, soll das heißen. Andererseits können die Regierungsmitglieder nicht vorhersagen, wie sich der militärische und der wirtschaftliche Konflikt entwickeln. Daher bereiten sie die Bevölkerung auf Entbehrungen vor, etwa auf steigende Benzin- und Gaspreise, auf das Herunterdrehen der Heizung. Um die Sanktionen gegen Russland durchzuhalten, muss die Regierung dafür sorgen, dass die eigene Bevölkerung die Folgen im eigenen Land akzeptiert. Das geht nur, indem die Regierung ihre Entscheidungen laufend und gründlich erklärt.
Wie nehmen Sie den Kommunikationsstil von Olaf Scholz bis jetzt wahr?
Ich war mit ihm unterwegs in Washington und er war ganz anders in der politischen Kommunikation als üblich. Ein Bundeskanzler, der in einem Regierungsflugzeug zum Antrittsbesuch nach Washington fliegt, kommt zu uns Journalistinnen und Journalisten im Juso-Pullover und ausgewaschenen Jeans. Ich habe Angela Merkel gelegentlich begleitet, niemals hätte sie das gemacht und niemals hätten wir Journalisten davon Fotos machen können. Er wollte dieses Zeichen setzen. Er kämpft gegen das Bild des „Scholzomaten“.
Wenn wir als Journalistinnen und Journalisten die vierte Gewalt im Staat sind, dann ist es unsere Aufgabe, die anderen drei Gewalten zu kontrollieren.
Wie finden Sie, dass mit Wolfgang Büchner und Christiane Hoffmann zwei gestandene Journalist:Innen jetzt für die Regierung sprechen?
Ich sehe Chancen und Risiken. Die Chancen bestehen darin, dass wir gut miteinander arbeiten können, weil sie unser Handwerk verstehen. Umgekehrt sehe ich den Vorwurf an den Stammtischen der Republik, die der politisch-medialen Klasse vorwerfen, wir würden alle unter einer Decke stecken. Wenn wir als Journalistinnen und Journalisten die vierte Gewalt im Staat sind, dann ist es unsere Aufgabe, die anderen drei Gewalten zu kontrollieren. Deshalb muss es da eine rote Linie geben. Ich verstehe, warum einige Kolleginnen und Kollegen diese rote Linie überschreiten. Ich warne aber davor, dass das zu häufig passiert, und warne erst recht davor, dass sie dann wieder zurückkommen. Ein Sündenfall war Ulrich Wilhelm, der war in früheren Jahren Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, dann wurde er Regierungssprecher von Ministerpräsident Stoiber, dann Regierungssprecher von Bundeskanzlerin Merkel und wurde dann nach ganz kurzer Pause Intendant des Bayerischen Rundfunks. Ein Unding.
Was erwarten Sie von Friedrich Merz?
Friedrich Merz ist ein Politiker von vorgestern, der aus meiner Sicht zu lange aus der aktiven Politik draußen war. Friedrich Merz weiß, dass ihm dieser Ruf anhaftet, deshalb hat er jetzt ein paar Dinge ganz gut gemacht. Er hat gesagt, dass er die Bundesregierung nicht bei der Außenpolitik, sondern bei der Innenpolitik stellen will. International steht er für den Zusammenhalt des Westens. Auch Merz hat eine Chance verdient. Das Verhältnis zwischen CDU und CSU wird noch spannend werden. Ich habe den Kampf zwischen Laschet und Söder aus der Nähe beobachtet und weiß, wie da gespielt wird.
In einem Zeitungsartikel der SZ wurden Sie mal als „Chronist der Hinterzimmer“ bezeichnet. Warum hat Ihnen die Bezeichnung nicht gefallen?
Politische Kommunikation und Entscheidungsprozesse müssen transparent sein. Hinterzimmer stehen für Heimlichtuerei. Und wenn ich der Chronist bin, dann stehe ich im Verdacht, Teil dieser Hinterzimmer- Politik zu sein. Es ist zwar für meine Arbeit notwendig, Politikerinnen und Politikern nahezukommen, um an Informationen zu gelangen. Aber genauso wichtig ist es, die Distanz zu wahren und wieder herzustellen. Nähe allein macht noch keinen guten Journalismus aus.
Was fasziniert Sie daran an Ihrer Arbeit?
Ich komme gebürtig aus Bonn. Mein Vater war in jüngeren Jahren Referendar im Bundeskanzleramt. Mit meinem älteren Bruder wurde ich Ende der 60er Jahre als Knirps ins Kanzleramt geladen, um ein Krippenspiel aufzuführen. Ich war Maria, mein Bruder war Josef. Ich habe also eine biografische Nähe zur Macht. Darum habe ich angefangen, mich anders mit der politischen Klasse zu beschäftigen. Für mich gehören die politischen Überzeugungen und die Biografien von Politikerinnen und Politikern ganz wesentlich zusammen. Es ist ein Privileg, die Bedingungen, unter denen Politik entsteht, aus der Nähe beobachten zu können. Mir geht es dabei aber nie um das Privatleben oder um sogenannte Homestorys.
Wenn ein Politiker vor allem über soziale Medien kommuniziert, dann missachtet er die Kernaufgabe von uns, Widerspruch zu leisten und kritisch zu sein.
Hat sich die Offenheit gegenüber Journalist:innen geändert?
In meinem Fall hat sie eher zugenommen. Mit einer Ausnahme: Ich habe Angela Merkel sieben Mal interviewt und habe gemerkt, dass das Misstrauen nicht mir als Person, sondern uns Journalisten gegenüber zugenommen hat. Die Interviews wurden immer kürzer und unergiebiger. Die meisten Politiker und Politikerinnen, mit denen ich zu tun habe, reden ganz bereitwillig mit mir. Das sind souveräne Persönlichkeiten, von denen ich auch den Eindruck habe, dass sie von mir intellektuell gefordert werden wollen.
Wie blicken Sie auf die Konkurrenz durch soziale Medien?
Wir Journalisten müssen informieren, aufdecken und gewichten. Wenn ein Politiker vor allem über soziale Medien kommuniziert, dann missachtet er die Kernaufgabe von uns, Widerspruch zu leisten und kritisch zu sein. Ich kann verstehen, warum Politiker das machen. Wenn beides nebeneinander existiert, ist das noch in Ordnung. Eine Gefahr sehe ich in autoritären Staatsformen. Hier ist die Versuchung, ohne kritische Journalisten über untertänige Medien zu kommunizieren, sehr groß.
Die Vorteile von sozialen Medien sehe ich darin, dass auch Bürgerinnen und Bürger, die Möglichkeit haben, aktiv am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Ein leuchtendes Beispiel ist Rezo. Er hat ein sehr gut recherchiertes Video gemacht und innerhalb einer Woche 10 Millionen Views gehabt. Damit hat er den Ausgang der Europawahl im Mai 2019 beeinflusst.
Wenn sie sich nur auf Instagram und TikTok tummeln, ist mir das für die politische Kommunikation zu ärmlich.
Wir merken, dass Plattformen wie TikTok oder Instagram dazu genutzt werden, sich über Politik zu informieren. Die Tagesschau hat jetzt auch einen TikTok-Kanal und versucht darüber auch zu kommunizieren. Wie beobachten Sie das?
Die Marktplätze, auf denen Informationen ausgetauscht werden, verändern sich gravierend. Früher gab es diesen Lagerfeuercharakter von Eventfernsehen. Heutzutage findet das gerade mal bei Fußballweltmeisterschaften statt oder wenn Thomas Gottschalk ein Comeback feiert. Ich sehe mit Respekt, dass die Tagesschau durchschnittlich 10 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht. Aber ich nehme auch wahr, dass viele jüngere Leute das klassische Fernsehangebot gar nicht mehr nutzen. Es ist schwierig, Sozial-, Klima- und Finanzpolitik auf TikTok zu erklären. Instagram und TikTok funktionieren gut durch visuelle Reize, dadurch besteht aber die Gefahr, dass der politische Diskurs verflacht. Ich habe eben gesagt, dass Politikerinnen und Politiker gefordert werden wollen. Umgekehrt sollten sie nicht davor zurückschrecken, die Bevölkerung zu fordern. Wenn sie sich nur auf Instagram und TikTok tummeln, ist mir das für die politische Kommunikation zu ärmlich.
Sie schreiben am Ende Ihres Buches, dass es diese neue Regierung verdient hätte, dass die Bevölkerung ihr eine Chance gibt. Wie sehen Sie Ihre Aufgabe als Journalist bei der Beobachtung der neuen Regierung?
Meine Aufgabe als Journalist sehe ich darin, Dinge zu beobachten, über Entwicklungen zu informieren, Fehlentwicklungen aufzudecken und sie kritisch zu beschreiben. Es ist nicht meine Aufgabe, Vorschläge zur Überwindung der Gräben zu machen, sondern zu beschreiben, warum diese Gräben aufgerissen werden. Ich bin der kritische Beobachter und nicht der Brückenbauer. Wir sollten dieser demokratisch gewählten Regierung eine Chance geben, aber wenn sie ihre Ziele nicht erreicht und Strategien wählt, die dafür ungeeignet sind, dann schlägt meine Stunde als Journalist. Sie haben eine Chance verdient, aber sie müssen hart angefasst werden, wenn sie diese Chance nicht wahrnehmen.
Das Gespräch führten Antonia Meyer und Cornelius Winter.
Stephan Lamby ist Filmemacher und Autor. In seinen Dokumentationen kommt er politischen Entscheidungsträgern näher als die meisten anderen Journalist:innen. Er porträtierte unter anderem Helmut Kohl und Angela Merkel. Seine Filme sind vielfach ausgezeichnet. Gerade arbeitet Lamby an einer Dokumentation über die Ampel-Koalition.