Im Gespräch mit Maria Walsh, Mitglied des Europäischen Parlaments
365 Sherpas: Frau Walsh, betrachten Sie Europa als Heimat, ähnlich wie Sie Ihre Heimatstadt oder Ihr Heimatland als Heimat empfinden?
Maria Walsh: Ich wurde in den USA geboren, habe in Philadelphia beim „Rose of Tralee“-Wettbewerb die irische Diaspora vertreten und bin in Shrule in der irischen Grafschaft Mayo aufgewachsen. Meine Definition von Heimat ist also ziemlich flexibel. Heute ist das sogar noch ausgeprägter, weil ich sehe, wie negativ es sich auswirkt, wenn sich Menschen Europa nicht besonders verbunden fühlen. Ich bin Irin und Europäerin.
365 Sherpas: Glauben Sie, dass sich Ihre Generation eher als europäisch identifiziert als vorherige Generationen?
Walsh: Das ist sicher so. Mein Vater ist 65 Jahre alt und war letztes Wochenende zum allerersten Mal in Brüssel und wahrscheinlich überhaupt in Kontinentaleuropa. Er hatte einfach nie eine Verbindung zu Europa. Menschen in meinem Alter hingegen sehen Europa als einen Ort, der unzählige Chancen bereithält. Doch unsere Identitäten sind im Wandel und es geht darum, unsere jeweiligen Kulturen einzubringen und dabei eine Balance zu finden.
»Menschen in meinem Alter sehen Europa als einen Ort, der unzählige Chancen bereithält. Doch unsere Identitäten sind im Wandel und es geht darum, unsere jeweiligen Kulturen einzubringen und dabei eine Balance zu finden.«
365 Sherpas: Wie stellen Sie sich die EU in 20 Jahren vor? Wie kann Ihre Vision von Europa verwirklicht werden?
Walsh: Ich hoffe, dass wir dann proeuropäischer sein werden als jemals zuvor, dass wir miteinander verbunden sind und unsere Werte nicht einem ständigen Hin und Her unterworfen sind. Technologie wird eine sehr große Rolle spielen. Das ist einerseits spannend, andererseits aber auch ein bisschen besorgniserregend für Menschen wie mich, denen auch traditionelle Werte am Herzen liegen – und das sage ich als moderne Frau, die sich dem LGBTQI-Spektrum zuordnet. Ich hoffe, dass wir unsere Individualität dann noch leben werden, aber auf proeuropäische Art, und dass bis dahin ein gutes Verhältnis zwischen städtischen und ländlichen Räumen erreicht wurde.
365 Sherpas: Was haben Sie sich vorgenommen, um zu erreichen, dass sich Menschen in Europa zu Hause fühlen?
Walsh: Wenn wir möchten, dass sich die Menschen zu Hause fühlen, müssen wir kommunizieren, im ständigen Informationsaustausch stehen und verstehen, dass es wichtig ist, dass sich alle mit ihrer gesamten Persönlichkeit einbringen können – ganz egal, ob sie Iren sind oder Deutsche, schwarz oder weiß, Protestanten oder Katholiken, heterosexuell, homosexuell oder Transgender. Unsere größte Aufgabe besteht im Moment darin, herauszufinden, was wir tun müssen, um bei den Millionen von jungen Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen. Ich glaube, wir sollten ihnen wirklich gut zuhören, so können wir sie in Europa halten.
365 Sherpas: Sie wurden Ende Mai ins Europäische Parlament gewählt und verbringen seitdem viel Zeit in Brüssel und Straßburg. Gibt es etwas aus Ihrem Wahlkreis, das Sie vermissen?
Walsh: Irische Hausmannskost. Morgens mag ich es gerne schlicht und ich habe mich noch nicht an das typische Brüsseler Frühstück – Croissants, Nutella und Orangensaft – gewöhnt. Eier mit Speck sind eher meins. Außerdem würde ich gerne weiter Gaelic Football spielen und ich wünschte, dass in Brüssel sonntags nicht alle Läden zuhätten.
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Das Gespräch führte Verena Bitter.

Maria Walsh wurde 2019 für Fine Gael (EVP) ins Europäische Parlament gewählt. Sie wurde 1987 als Tochter irischer Eltern in Boston geboren und zog 1994 mit ihrer Familie nach Irland, wo sie auf einer Familienfarm aufwuchs. Maria Walsh gewann 2014 den Titel „Rose of Tralee“ bei dem gleichnamigen Festival, an dem irische Gemeinden aus aller Welt teilnehmen.