Maja Göpel beschäftigt sich mit den großen Themen des 21. Jahrhunderts: Klimaschutz, eine neue Form des Wirtschaftens, Gerechtigkeit. Als Transformationsforscherin sieht sie die Dinge nicht nur anders, sondern denkt sie neu – Grund genug, um mit ihr über Kommunikation in Coronazeiten, die heutige Rolle des Staates und Lobbyismus zu sprechen.
365 Sherpas: Frau Göpel, in Ihrem aktuellen Buch „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung“ schreiben Sie, dass unser heutiges Wirtschaften ökonomisch nicht logisch ist. Warum ist das so?
Maja Göpel: Wir zahlen für Produkte Preise, die den Ressourcenverbrauch in der Herstellung nicht mit einrechnen. Das nennen wir Externalisierung der ökologischen Kosten. Das heißt, ich bezahle den Marktpreis für ein Stück Metall, aber nicht, welche Umweltkosten beispielsweise aufgelaufen sind durch die Art und Weise, wie das Metall aus dem Boden geholt wurde, welche Abfallstoffe dabei entstanden sind, wie viel Wasser verschmutzt und Biodiversität zerstört wurde. Daher gibt es bereits seit rund 40 Jahren die Forderung, die Kosten für den Ressourcenverbrauch zu internalisieren: damit ein Preismechanismus funktionieren kann, muss er auch die wahren Kosten anzeigen. Auch negative soziale Konsequenzen werden zunehmend diskutiert. Dass wir weiter „Wachstum“ messen in unserer Wirtschaft, ist sogenannten TrueCost-Studien nach nur deshalb noch aufrechtzuerhalten, weil die Schadschöpfung in den Bilanzen unzureichend einfließt. Die minimale Forderung aus der Nachhaltigkeitsökonomie ist daher, aufrichtig zu bilanzieren. Solange wir dies nicht tun, können wir nicht ehrlich davon sprechen, ob steigende Geldwerte auch Fortschritt anzeigen oder die Kosten auf die Zukunft oder in andere Länder verlagert werden.
»Wir haben eine Klimakrise, eine Ungleichheitskrise und eine Demokratiekrise, während der Leitindikator uns nicht das leiseste Gefühl vermittelt, dass wir ein Problem haben könnten.«
365 Sherpas: Sie kritisieren, dass der öffentliche Diskurs beim Thema Wachstum durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bestimmt wird. Warum?
Göpel: Weltbankökonom Herman Daly hat schon in den 1990ern den Begriff des unökonomischen Wachstums geprägt, weil er gesagt hat, Ökonomie als Idee kommt aus dem Haushalten. Das heißt, ich mache mir ein Bild davon, welche Ressourcen ich zur Verfügung habe, und überlege, wie ich sie einsetzen möchte, um zu einem gewünschten Ergebnis zu kommen. Aus dieser Sicht gibt es gesellschaftlich betrachtet ultimative Ziele wie hohe Lebensqualität und Wohlergehen der Menschen und ultimative Grundlagen wie die natürlichen Ressourcen. Deshalb ist das kontinuierliche Runterfahren der Ressourcenbestände und ihrer Fähigkeit, sich wieder zu regenerieren, irgendwann unökonomisch: Die Kosten der ökologischen Degradation übersteigen die Preise der Konsumgüter. Und auf dem Auge der Ressourcenbestände und ihrer Qualität ist das BIP blind. Es ist ein rückwärtsgewandter Indikator für die Marktpreise im letzten Jahr und solange jemand dafür bezahlt wird, Umweltkatastrophen aufzuräumen, kann es sogar dadurch steigen. Daher wird unter anderem in der OECD diskutiert, wie man das Haushalten breiter messen kann – also Kapitalstöcke wie Naturkapital, soziales Kapital, menschliches Kapital, gefertigtes Kapital und Finanzkapital als Grundlage für erfolgreiches Wirtschaften in der Zukunft. Sonst passiert, was der US-Ökonom Joseph Stiglitz vor der Coronapandemie gesagt hat: Wir haben eine Klimakrise, eine Ungleichheitskrise und eine Demokratiekrise, während der Leitindikator uns nicht das leiseste Gefühl vermittelt, dass wir ein Problem haben könnten.
365 Sherpas: Durch die Coronapandemie ist die Stimme der Wissenschaft so laut und zentral in gesellschaftlichen Debatten und politischen Entscheidungen geworden wie lange nicht mehr. Ist diese Entwicklung günstig für eine wissenschaftlich basierte Debatte über den Klimaschutz?
Göpel: Die Hoffnung ist natürlich da. In den ersten Monaten hatte ich das Gefühl, dass die Orientierung an wissenschaftlicher Aufklärung und Rat eine große Chance mit sich bringt. Die Tagesschau erklärte uns „Flatten the curve“ und exponentielles Wachstum. Auf einmal haben wir Muster komplexer Systeme verstanden: Auch der Klimawandel ist eine Krise, die sich jetzt mit vielen Rückkopplungsschleifen aufbaut und nicht sofort stoppt, wenn wir Emissionen stoppen. Gegenwärtig habe ich eher die Sorge, dass es einen Backfire Moment geben wird, weil sich das Gefühl mehrt, die Epidemiologen und die Exekutive schrieben uns vor, was wir dürfen. Das kennen wir aus der Klimageschichte schon gut. Dort ist es der Ökodiktatur-Vorwurf. Daher hoffe ich, dass die Erklärungsmodi, warum wir was wann machen, noch besser werden und wir in der Sache erklären und Erfahrungen offen diskutieren. Das darf dann nicht von Partikularinteressen und parteipolitischem Kalkül überlagert werden, wie es bei Umweltthemen so virulent ist.
»Gemeinwohlorientierung ist bei einer Revolution wie der Digitalisierung wichtig, andernfalls konzentrieren sich Macht und Finanzkapital wieder nur bei wenigen.«
365 Sherpas: Sie werfen der Politik vor, einen „Short-Termism“ zu praktizieren, und fordern, antizipativ zu handeln und zu kommunizieren. Was meinen Sie damit?
Göpel: Wir haben zu allen maßgeblichen Fragen unserer Zeit langfristige Studien oder Trendprognosen. Und wenn Politik dann verhandelt, fallen diese Langfristbetrachtungen regelmäßig unter den Tisch. Deshalb sollten wir dieser kurzfristigen Orientierung etwas entgegensetzen. Mehrere wissenschaftliche Beiräte und Institute haben eine institutionalisierte Vertretung der Interessen zukünftiger Generationen gefordert, nicht nur der jungen Generation. Denn Zukunft kommt nicht auf uns zu und wir müssen uns ihr anpassen. Nein, Zukunft entsteht aus dem, was wir heute tun. Und Nichtstun heißt nicht, dass sich nichts ändert, der Status quo wirkt ja weiter. Damit bekommt Verantwortung, damit bekommen Entscheidungen in der Politik eine ganz neue Dimension.
365 Sherpas: In dem Sinne beginnt der von Ihnen häufig beschriebene Strukturwandel dann im Kopf.
Göpel: Total. Ich habe immer den Eindruck, wenn wir zum Beispiel über die Konsumfrage sprechen, wir uns dabei nicht vorstellen, dass eine Gesellschaft auch ganz anders aussehen kann. Nehmen Sie das Thema Mobilität. Dann wird immer so getan, als ob ich weniger Auto fahren soll und die Infrastruktur bleibt so wie heute. Das fühlt sich natürlich an wie ein Verlust, voll anstrengend. Die Idee ist aber, dass wir gesellschaftliche Lösungen anders gestalten und deshalb Alltagspraktiken und Routinen anders sind inklusive der technologischen Entwicklung. Daher sollte es auch in der Digitalisierung heißen: „Purpose first“. Wie schaffen wir mit diesen neuen Möglichkeiten jetzt wirklich eine Kreislaufwirtschaft, in der wir die unterschiedlichen Stoffströme verfolgen und produktiv zusammenführen können, viel Transparenz in korrupte Regime hineinbringen können. Und auch die erneuerbaren Energiesysteme gehen gar nicht ohne Digitalisierung. Daher sollten wir bei aller Faszination für technische Innovationen niemals aus den Augen verlieren, dass sie von Akteuren mit Weltbildern, Zielen und Interessen entwickelt und verbreitet werden. Gemeinwohlorientierung ist bei einer Revolution wie der Digitalisierung wichtig, andernfalls konzentrieren sich Macht und Finanzkapital wieder nur bei wenigen.
»Wenn wir uns anschauen, wo in den letzten Jahren etwas bewegt wurde, ist das dort, wo Lager überbrückt wurden und sich neue Allianzen gebildet haben.«
365 Sherpas: Sehen Sie dafür einen gesellschaftlichen Konsens?
Göpel: Es gibt einen breiten Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit angesichts der Vielzahl und des Umfangs von Veränderungen. Und genau da kommt die Rolle des Staates zum Tragen. Corona hat uns doch gezeigt, wie wichtig öffentliche Daseinsvorsorge ist. Nur so können wir die Pandemie einigermaßen parieren. Und nur so geben wir den Menschen in einer Gesellschaft ein individuelles Sicherheitsniveau, von dem aus ganz andere Kreativität, Dynamik und Innovation freigesetzt werden können.
365 Sherpas: Wie müsste aus Ihrer Sicht eine „Lobby for future“ aussehen, damit sich die richtigen Akteure zusammenfinden und eine Plattform entsteht, die in der Lage ist, die konstruktiven Kräfte zu bündeln?
Göpel: Für mich hat das ganz viel mit Transparenz zu tun, und ich frage mich, wieso wir das Lobbyregister in Deutschland immer noch nicht haben. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Es geht vor allem darum, dass ich nicht vordergründig etwas vertrete und dasselbe hintenrum verhindere. Diese „Corporate Political Responsibility“ wäre ein wichtiger nächster Schritt für Glaubwürdigkeit. Und genau hier ist sektorale Interessenvertretung an einer Bruchstelle, bei der ich hoffe, dass sich die „4future“-Unternehmen noch klarer von den „4past“ abspalten werden.
365 Sherpas: Seit 1. November sind Sie als wissenschaftliche Direktorin am Aufbau von THE NEW INSTITUTE beteiligt, einer Denkfabrik, die sich mit Zukunftsfragen beschäftigen wird. Was erhoffen Sie sich, mit THE NEW INSTITUTE verändern zu können?
Göpel: Die Themen haben mich zuallererst überzeugt: Ökologie, Ökonomie, bessere demokratische Prozesse und Werte. Und auch der transdisziplinäre Ansatz, „Best Science“ mit der „Mission to change“ zusammenzubringen. THE NEW INSTITUTE möchte auf der Basis akademischer Exzellenz Menschen miteinander verbinden, die optimistisch und kreativ gesellschaftlichen Wandel gestalten: also zum Beispiel Unternehmer, Politikerinnen, Journalisten, Aktivistinnen und Künstler. Wir wollen systemische Zusammenhänge erkennen und erklären. Wenn wir uns anschauen, wo in den letzten Jahren etwas bewegt wurde, ist das dort, wo Lager überbrückt wurden und sich neue Allianzen gebildet haben. Wenn wir proaktiv Zukunft gestalten wollen, anstatt reaktiv Krisenbekämpfung zu betreiben, können wir es uns nicht mehr leisten, in Lagern festzuhängen – das gilt auch für die Wissenschaft. Wichtig ist auch, dass wir die Erkenntnisse künftig so aufbereiten, dass sie in die Öffentlichkeit durchdringen, Mut machen und die strukturelle Macht des Status quo brechen. Hier wollen wir auch eine aufklärende Instanz werden, beispielsweise Bürgerdialoge begleiten und den Wandel, der stattfindet, sichtbar machen.
»Es geht vor allem darum, dass ich nicht vordergründig etwas vertrete und dasselbe hintenrum verhindere.«
365 Sherpas: Sie haben auf dem Kommunikationskongress 2019 Ihrem Publikum aufgetragen, dass sich alle die Frage stellen, wofür sie in Erinnerung bleiben möchten. Wie ist das bei Ihnen?
Göpel: Ich hoffe für meine unerschütterliche Bereitschaft, an das menschliche Potenzial zu glauben und es hochzuhalten (lacht).
365 Sherpas: Frau Göpel, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Gespräch führten Cornelia Göbel und Cornelius Winter.

Prof. Dr. Maja Göpel hat Medienwirtschaft studiert und in globaler politischer Ökonomie promoviert. Sie hat für verschiedene Institute und Thinktanks in den Bereichen der Zukunfts-, Klima- und Generationengerechtigkeitsforschung gearbeitet. Sie bekleidet eine Honorarprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg, ist wissenschaftliche Direktorin des Thinktanks The New Institute sowie Autorin des Bestsellers „Unsere Welt neu denken“.