Seit Jänner 2020 sitzen die Grünen erstmals in der österreichischen Bundesregierung. Leonore Gewessler führt dabei das Schlüsselministerium dieser grünen Beteiligung: Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie. Wir sprachen mit ihr über das Zusammenwirken von Klima und Innovation und was die Entwicklungen aus 2020 zur Debatte beigetragen haben.
365 Sherpas: Frau Bundesministerin, auch für Sie brachte das Jahr 2020 durch Ihre neue Rolle als Ministerin eine Veränderung. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede zu Ihrer Zeit als NGO-Geschäftsführerin?
Leonore Gewessler: Auf der inhaltlichen Ebene gibt es viele Parallelen. Ich arbeite bereits seit Jahren an Energie- und Klimathemen, denn im Klimaschutz etwas voranzubringen, das ist mittelfristig die größte Herausforderung – sei es global, in Europa oder in einem Nationalstaat. Das Thema weiter voranzubringen, war meine Motivation, in die Politik zu gehen.
365 Sherpas: Und in methodischer Hinsicht: Wie viel Aktivismus verträgt die Tätigkeit als Ministerin?
Gewessler: Ich werde mein aktivistisches Herz sicher nie ganz ablegen können, es ist aber jetzt eine andere Aufgabe. Die Zivilgesellschaft hat eine enorm wichtige Rolle. Sie hat den größten Anteil, dass die ganze Welt so öffentlich über die Auswirkungen des Klimawandels diskutiert. Und es ist der Zivilgesellschaft zu verdanken, dass für die Klimaneutralität 2050 nicht mehr das „Ob“, sondern das „Wie“ entscheidend ist. Die Methoden unterscheiden sich, das aktivistische Herz wird aber immer bleiben.
»Klimapolitik heißt, die Veränderung aktiv zu gestalten.«
365 Sherpas: Die Bekämpfung des Klimawandels ist ein sehr komplexes Thema mit vielen verschiedenen involvierten Akteuren. Welche Rolle soll die Politik dabei einnehmen?
Gewessler: Aktuell gibt es für die Politik zwei große Aufgaben: Klarheit und Richtung vermitteln. Nach der Zeit des Abwartens gibt es nun ein klar formuliertes Ziel: Klimaneutralität 2040 in Österreich. Diese Klarheit in der langfristigen Zielsetzung brauchen alle – die Bürger:innen und auch die Wirtschaft. Die Klimaneutralität erfordert eine große gesellschaftliche Transformation und dazu muss die Politik klar eine Richtung vorgeben. Das heißt einen Instrumentenkoffer an Maßnahmen bereitstellen, damit dieses Ziel Realität wird. Diese zwei Aspekte sind mir besonders wichtig.
365 Sherpas: In diesem Kontext wird auch immer wieder die Rolle von Innovationen angesprochen. Wo ist der Bedarf an innovativen Lösungen am größten?
Gewessler: Innovationen spielen gerade in den Bereichen eine große Rolle, wo es noch keine konkreten Lösungswege gibt. Während man beispielsweise weiß, dass der Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder beispielsweise der Rad- und Gehwege sowohl für das Klima als auch für uns Menschen gut ist, gibt es auch andere Sektoren, wo der Weg nicht so klar gezeichnet ist. In Bereichen, die schwer zu dekarbonisieren sind, Stichwort Flugverkehr, oder anderen industriellen Prozessen muss noch viel passieren. Da müssen noch andere Lösungen gefunden werden als die, die wir schon kennen. Das Schöne ist aber, dass ein klares Ziel auch Innovationen antreibt und ihnen eine Richtung gibt. Auch das ist Aufgabe dieses Hauses.
365 Sherpas: Die Politik als „Enabler“ hört sich schön an, aber müsste man nicht zu drastischeren Maßnahmen greifen? Braucht es einen „Klimalockdown“?
Gewessler: Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe nichts gegen gesetzliche Regelungen, wir brauchen sie dringend. Aber Krise ist keine Klimapolitik. Klimapolitik heißt, die Veränderung aktiv zu gestalten.
365 Sherpas: Sie haben es schon kurz angeschnitten, aber wie steht es um die Klimapolitik in Österreich? Wie würden Sie die allgemeine Stimmung beurteilen?
Gewessler: Wir sind klimapolitisch auf Aufholjagd. Österreich liegt im Vergleich zu anderen Ländern im Bereich der CO2-Einsparungen noch hinten. Das heißt, wir haben einiges zu tun. Allerdings stimmen mich die vergangenen Monate sehr positiv. Wir investieren derzeit so viel Geld wie noch nie in den Klimaschutz. Wir gehen Schritt für Schritt voran, aber ich verspüre viel Rückenwind und positive Energie. Denn Klimainvestitionen bringen einen dreifachen Nutzen: Klimaschutz, lokale Arbeitsplätze und regionale Wertschöpfung. Das ist das volle Programm.
»Die Methoden unterscheiden sich, das aktivistische Herz wird aber immer bleiben.«
365 Sherpas: Das heißt, man kann optimistisch in die Zukunft blicken?
Gewessler: Das ist eine richtig große Aufgabe, die in ganz Europa vor uns steht – da mache ich mir keine Illusionen. Österreich hat allerdings eine gute Ausgangsposition mit einer hoch innovativen Wirtschaft und einem hohen Anteil von erneuerbaren Energien im Strombereich. Bei der Mobilität sind wir noch nicht ganz so weit. Wenn wir jetzt die Chancen nutzen und konsequent nach vorne gehen, sind wir die, die gemeinsam mit Europa den Zug antreiben, und nicht diejenigen, die irgendwann hinterherhoppeln. Das gilt im Besonderen auch für die wirtschaftlichen Aspekte des Klimaschutzes. Man muss die Chancen nutzen und sich nicht irgendwann wundern, den Zug verpasst zu haben.
365 Sherpas: Nun lässt sich die globale Klimakrise nicht in Österreich lösen, mehr Hebel liegt da auf europäischer Ebene. Viele Länder haben ganz andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Historien. Wo liegen Ihrer Meinung die zu lösenden Knoten, damit der „European Green Deal“ wirklich die erhoffte Dynamik auslöst?
Gewessler: Ich begrüße die konsequente Haltung der Europäischen Kommission gegenüber dem Green Deal sehr. Im Frühjahr sagte meine spanische Kollegin: „We had a plan, let‘s stick to it“, und genau das ist passiert. Der Green Deal war von Anfang an ein Programm für eine nachhaltige, wettbewerbsfähige Wirtschaft und nicht nur ein Klimaschutzplan. Als solcher kann er den Weg aus der Krise ebnen. Uns ist bewusst, dass wir das Vertrauen der Bevölkerungen in allen Ländern aufbauen und stärken müssen. Vor allem müssen wir verdeutlichen, dass wir in diesem Transformationsprozess niemanden zurücklassen.
»Das gilt im Besonderen auch für die wirtschaftlichen Aspekte des Klimaschutzes. Man muss die Chancen nutzen und sich nicht irgendwann wundern, den Zug verpasst zu haben.«
365 Sherpas: Wie kann das gelingen?
Gewessler: Solidarische Instrumente wie ein Just-Transition-Fonds spielen eine ganz zentrale Rolle. Gerade in den schwierigen Bereichen müssen wir unterstützen, um diesen Satz „leave no one behind“ Realität werden zu lassen.
365 Sherpas: Also darf es in der Klimapolitik kein Europa der zwei Geschwindigkeiten geben?
Gewessler: Es braucht eine starke EU, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Jeder Staat hat aber auch eigene Hausaufgaben, um die Klimaneutralität zu erreichen. Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
Das Schöne ist, dass ein klares Ziel auch Innovationen antreibt und ihnen eine Richtung gibt.
365 Sherpas: Wir haben ein heraus-forderndes Jahr hinter uns. Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise, Klimakrise – was kann uns dennoch Hoffnung geben?
Gewessler: Die Klimakrise ist ein tat-sächliches Bedrohungsszenario, das uns auch Angst machen kann. Was uns daher noch viel besser gelingen muss, ist, zu
beschreiben, welche tatsächlichen Vorteile und Lebensqualität entstehen, wenn wir in einem klimaneutralen Europa leben. Unsere Mobilität wird sich ändern, unsere Städte werden anders aussehen. Manche dieser Dinge haben wir womöglich bereits in diesem außergewöhnlichen Jahr entdeckt, die auch bleiben werden. Videokonferenzen statt Business-Trip oder auch Homeoffice. Das sind Anfangszeichen eines Veränderungsprozesses. Diese Welt gemeinsam zu beschreiben und erlebbar zu machen, ist eine der großen Aufgaben.
365 Sherpas: Frau Bundesministerin, wir danken für das Gespräch!
Das Gespräch führten Christina Vösl und Joachim Kurz.

Leonore Gewessler ist politische Quereinsteigerin, kennt die Abläufe allerdings genau. Vor ihrer Kandidatur für den österreichischen Nationalrat war sie jahrelang als Geschäftsführerin von Global2000 tätig und sammelte auch Erfahrungen auf EU-Ebene. Nun steht sie an der Spitze eines „Superministeriums“, in ihre Zuständigkeiten fallen die Themen Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie.