Kevin Kühnert geht in der Bundespolitik gerne die großen Themen an und hat sich damit längst einen Namen gemacht. Und auf der europäischen Ebene? Auch für den Kontinent hat der Bundesvorsitzende der Jusos einige Vorschläge parat.
365 Sherpas: Herr Kühnert: Berliner, Deutscher, Europäer – oder doch Sozialdemokrat? Wo ist Ihre Heimat?
Kevin Kühnert: Ich würde eher von „Zuhause“ sprechen als von „Heimat“. In einer Welt, in der potentiell alles vernetzt ist und Menschen ständig unterwegs sind, aber doch meist an einen bestimmten Ort zurückkehren, scheint mir „Zuhause“ der modernere Begriff zu sein. Auch ich reise viel, kehre aber immer wieder nach Berlin zurück – in diesem Sinne würde ich mich am ehesten als Berliner bezeichnen. Ich lebe im Berliner Südwesten, bin dort aufgewachsen. Hier kenne ich mich aus, hier habe ich die meisten persönlichen Bezugspunkte. Und Berlin ist auch mein politisches Zuhause …
365 Sherpas: … in Steglitz-Zehlendorf haben Sie ein Praktikum bei der SPD gemacht, Ihre ersten Berührungspunkte mit der Politik …
Kühnert: … ja, aber ich würde nicht nur von der Sozialdemokratie sprechen. Mein politisches Zuhause sehe ich grundsätzlicher in einem linken, progressiven Denken.
365 Sherpas: Ist das Willy-Brandt-Haus für Sie dennoch eine Art von Zuhause? Ein Zuhause, dessen Bewohner*innen sich in letzter Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt haben?
Kühnert: Das Willy-Brandt-Haus versprüht manchmal das Gefühl eines Zuhauses, weil es ein fester Anlaufpunkt ist und ich dort irrsinnig viel Zeit verbringe – mit einem großen Aber: Ich lebe hier nicht. Ich – und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – fliegen nicht im Ufo über Berlin, sondern nehmen am normalen Leben teil. Natürlich muss jede Partei daran arbeiten, wieder stärker Wurzeln in einer Gesellschaft zu haben, die immer vielfältiger wird. Das heißt aber nicht, dass wir im Moment in irgendeinem Paralleluniversum leben würden. Unsere politische Arbeit ist viel geerdeter, als viele denken.
»„Heimat Europa“ kann nicht bedeuten, dass nur Einzelne individuell in Europa umherreisen können.«
365 Sherpas: Und doch muss sich die Politik immer wieder dem Vorwurf stellen, sie repräsentiere nicht alle Menschen – auch mit Blick auf Europa.
Kühnert: Eine Partei ist auch nicht dafür da, alle Menschen zu repräsentieren. Partei bedeutet Interessenvertretung. Die Herausforderung der meisten Parteien besteht eher darin, dass sie nicht mehr die Spannweite der Gesellschaft vertreten, die sie gerne repräsentieren würden. Schauen wir auf die SPD und ihre Wahrnehmung von Europa: Die meisten SPD-Repräsentanten sind Kosmopoliten, sprechen oft mehrere Sprachen, reisen viel. Sie haben eine eher positive Sicht auf Europa. Und nichts daran ist falsch oder gar verwerflich. Diese Perspektive teilen sie aber vielfach nicht mit Menschen, die diese Privilegien nicht genießen. Und Instagram und Co., wo täglich unzählige Bilder von Reisen und exklusiven Orten gepostet werden, machen natürlich etwas mit denen, die nicht daran teilhaben können. Das kann dazu führen, dass sie sich nicht repräsentiert oder gar nicht erst gemeint fühlen. Dass sie sich gegen eine als elitär empfundene Politik auflehnen und dabei auf das Lokale oder Nationale Bezug nehmen, um sich hier hinter einer Gegenidentität versammeln zu können.
365 Sherpas: Das muss per se nicht schlecht sein – populistische und radikale Strömungen versuchen jedoch davon zu profitieren. Wie lässt sich dieser Entwicklung eine positive Idee von „Heimat Europa“ gegenüberstellen?
Kühnert: Mir geht es vor allem um materielle Teilhabe. „Heimat Europa“ kann nicht bedeuten, dass nur Einzelne individuell in Europa umherreisen können. Wir müssen dafür eintreten, dass alle die Möglichkeit dazu haben. Wenn offene Grenzen und europäische Kultur das andere Flussufer sind, dann sind Armut und fehlende Bildungschancen heute die Zugbrücke, die den Weg versperrt, um Europa erlebbar zu machen. Und zwar in beide Richtungen.
365 Sherpas: Wo und wie müsste Europa noch erlebbar werden?
Kühnert: Europa ist top-down errichtet worden. Das ist kein Vorwurf, kann aber erklären, dass es Bereiche gibt, die völlig in den alten Nationalstaatsstrukturen geblieben sind – z.B. der Medienkonsum. Mal ehrlich, wann haben Sie das letzte Mal den „Guardian“ gelesen? Die Jusos wünschen sich, dass es zum Beispiel europäische Medienangebote gibt – nicht nur für eine kleine Fachzielgruppe. Wo ist so jemand wie der europäische Jan Böhmermann? Was ich sagen will: Wir müssen Orte und Momente schaffen, die Europa erlebbar machen und gemeinsamen Gesprächsstoff bieten – auch ohne dafür reisen zu müssen.
365 Sherpas: „Erleben“ ist das eine, „Überleben“ das andere. Derzeit wird oft von einer Krise Europas gesprochen, teilweise von einem Zerfall der EU. Stimmen Sie diesem Bild zu?
Kühnert: Es ist heute leicht, ein sehr pessimistisches Urteil über Europa zu fällen. Sicher, es gibt Gründe dafür. Im Kern halte ich es aber für falsch. Denn es lässt die Tatsache außer Acht, dass sich Europa seit 70 Jahren trotz aller Widrigkeiten weiterentwickelt hat. Nehmen wir das Beispiel Polen: Auch ich sorge mich um die aktuelle Entwicklung dort, was zum Beispiel die Meinungs- und Pressefreiheit angeht. Trotz allem liegt die Zustimmung der Bevölkerung zu Europa bei über 80 Prozent. Ich sehe in diesem vermeintlichen Widerspruch keine Abgrenzung von der EU, sondern den Versuch, die eigene Rolle in dem Projekt Europa zu definieren. Auch hier wird es weitergehen, für mich ist das keine Bedrohung der Existenz Europas. Mit dem Zustand der EU bin ich insofern zwar nicht zufrieden, weil Gerechtigkeitsfragen sträflich vernachlässigt werden. Das ist aber änderbar und lässt mich daher auch nicht verzweifeln.
365 Sherpas: Lassen Sie uns die Perspektive wechseln, Europa von außen betrachten. Was, glauben Sie, sehen Geflüchtete in Europa?
Kühnert: Trotz aller Unterschiede denke ich, dass es eine Sache gibt, die die Geflüchteten eint: Sie haben den Wunsch, an Frieden und Wohlstand teilzuhaben. Ihnen geht es dabei – so mein Eindruck nach zahllosen persönlichen Begegnungen – in erster Linie überhaupt nicht um Europa als Ort, ihr Blick richtet sich eher auf die gesamte westliche Welt. Zudem haben viele überhaupt keine Vorstellungen, was sie konkret in Europa erwartet. Sie wollen mehr von etwas weg als zu etwas Bestimmtem hin.
365 Sherpas: Zurück nach Berlin: In den Wintermonaten ist die Stadt eine echte Herausforderung. Wenn Sie jetzt in ein Flugzeug oder einen Zug steigen könnten – wohin in Europa würden Sie reisen?
Kühnert: Ganz klar: Lissabon. Die portugiesische Mentalität und der Lebensstil strahlen eine so große Entspanntheit aus, dass es mich immer wieder dorthin zieht …
365 Sherpas: … klingt nach einem zweiten Zuhause in Europa …
Kühnert: … auf jeden Fall! In Lissabon anzukommen, aus dem Flughafen herauszutreten – da stellt sich bei mir direkt ein Gefühl von Zuhause ein, das ich jenseits von Berlin auch in keiner deutschen Stadt so empfinde.
365 Sherpas: Herr Kühnert, wir danken Ihnen für das Gespräch!
______________________________
Das Gespräch führten Sonja Ludwig und Patrick Simm.

Kevin Kühnert ist seit Ende November 2017 Bundesvorsitzender der Jusos. Zudem arbeitet der gebürtige Berliner für ein Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Kommunalpolitisch engagiert sich Kevin Kühnert als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung in Tempelhof-Schöneberg.