Von Cornelius Winter und Daniel Wixforth
Dass die Bundeskanzlerin ihre Flüchtlingspolitik 2016 zum „humanitären Imperativ“ erklärt hat, ist prototypisch für eine Gegenwart, in der Debatten zunehmend an Haltungsfragen ausgerichtet werden. Bleibt die Frage: Was bedeutet das für uns als politische Berater?
Wer mit politischer oder gesellschaftlicher Brille einen Rückblick auf das Jahr 2016 wirft und sich dabei die Frage stellt, was wir aus diesem Jahr in das neue „Superwahl(kampf)jahr“ 2017 mitgenommen haben, der wird – neben einigen anderen Dingen – eine Renaissance des Begriffes der Haltung konstatieren. Haltung war 2016 offensichtlich schwer gefragt. Oder anders ausgedrückt: In unserer politischen und gesellschaftlichen Umwelt scheint es heute Fragen von so existenzieller Grundsätzlichkeit zu geben, dass es oft nicht mehr genügt, bloß eine Meinung zu ihnen zu entwickeln – es muss eben eine Haltung sein. Die viel beschriebene Haltung der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage ist nur das prominenteste Exempel. „Hier stehe ich und kann nicht anders“ – wer hätte noch vor kurzer Zeit gedacht, dass die Pastorentochter Angela Merkel mit einer Politik nach Luther’schem Dogma in das 500. Jubiläumsjahr der Reformation geht?
Diese Beispielkette lässt sich mühelos fortsetzen: Wir reden über die Haltung der Bundesregierung zu Russland, die Haltung der deutschen Wirtschaft zur Digitalisierung, die Haltung unserer Gesellschaft zu politischer Satire à la Jan Böhmermann, die Haltung zum transatlantischen Freihandel, die Haltung der deutschen Medien zur AfD und so weiter. Und natürlich lässt sich auch der zurückliegende Wahlkampf in den USA als Haltungsdisput lesen: Eine liberale, der Haltung nach aufgeklärte (aber für bestimmte gesellschaftliche Friktionen offenbar blinde) Elite gegen jene offensichtlich vernachlässigte Masse, die sich auszeichnet durch eine ablehnende Haltung gegenüber allem, was nach Establishment und Political Correctness riecht. Die Wahl von Donald Trump war in diesem Sinne vor allem eine Haltungswahl und weniger eine Wahl pro Mexiko-Mauer oder contra Obamacare.
Wie kommt es zu diesem Aufschwung, diesem gestiegenen Bedürfnis nach Haltung? Haltung ist zunächst etwas scheinbar Unumstößliches, eine in Zeiten zunehmender Komplexität von Sachfragen willkommene Festlegung, hinter der man nicht so einfach zurückfallen kann. Und, fast noch wichtiger: Eine erkennbare Haltung unseres Gegenübers verrät uns, mit wem wir es zu tun haben. Haltung stiftet Identität, Haltung ist die Grundlage für Diskurs und Debatte, der Europäer zum transatlantischen Freihandel, die Haltung der deutschen Medien zur AfD und so weiter. Und natürlich Haltung stiftet Identität, Haltung ist die Grundlage für Diskurs und Debatte, für Reibung und Empathie. Und Haltung ermöglicht Meinung, nicht umgekehrt. Es ist ja kein Zufall, dass Margarethe ihren Faust unmittelbar nach dem ersten Kuss nicht etwa fragt, was er über Religion denkt oder wie seine Meinung zur Religion ist. Sie will wissen, wie er’s mit der Religion hält. In diesem Sinne war 2016 auch das Jahr der Gretchenfragen. Und von diesen Fragen, soviel ist sicher, werden uns noch einige weiterhin beschäftigen.
Für politische Beratung und Interessenvertretung, so wie wir sie verstehen, sind solche Zeiten von Gretchenfragen spannende, herausfordernde und ermutigende Zeiten zugleich. Das gilt für uns selbst, als Teil einer gerne und immer mal wieder ins Zwielicht gerückten, mit moralischen Fragen konfron- tierten Branche. Und es gilt ebenso für unsere Kunden, für die politische Fragen immer auch Haltungsfragen sind – oder es zumindest sein sollten.
Bleiben wir unhöflicherweise kurz bei uns selbst. In unserem Beratungsalltag, davon sind wir überzeugt, sollten wir uns so oft es geht die Haltungsfrage stellen. Und diese muss bei weitem nicht immer gleich moralisch konnotiert sein. Viel häufiger geht es um eine beraterische Haltung als Mehrwert für unsere Kunden. Es geht darum, den Kunden so ernst zu nehmen, dass man in den Diskurs mit ihm tritt, ihn bei Bedarf auch herausfordert, um ihn und seine Entscheidungen dadurch am Ende weiterzubringen. Oder anders: Warum sollte ein Kunde uns dafür bezahlen, Dinge aus falsch verstandener Dienstleistungsmentalität nur abzunicken? Warum sollte er uns konsultieren, wenn er nicht mit uns diskutieren will? Beratung als Ja- und-Amen-Service jedenfalls brauchen weder die Entscheider aus der Wirtschaft noch die aus der Politik. Um dabei gleich mögliche Missverständnisse auszuräumen: Eine so verstandene beraterische Haltung steht nicht im Gegensatz zu einer Hands-on-Mentalität in der Umsetzung. Gute Berater haben Rückgrat, sie müssen aber auch jederzeit die Ärmel hochkrempeln und anpacken können – Haltung ist keinesfalls nur im strategischen Elfenbeinturm zuhause. Beraterische Haltung, wie wir sie verstehen, beschreibt vielmehr eine Wegbegleitung auf Augenhöhe.
Und natürlich müssen wir uns als Berater und Lobbyisten auch die Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung stellen: nach dem Verhältnis von Gemeinwohl und den Partikularinteressen, die wir vertreten, nach Standards in Sachen Transparenz, Offenheit, Fairness und Nachhaltigkeit. Auch dies sind Haltungsfragen und auch hier gilt: Wer diese Grundsätze als Politikberater heute immer noch nicht wahr- und ernst nimmt, der nimmt auch seinen Kunden nicht ernst, weil er ihm eine Realität vorspielt, die es (zum Glück) nicht mehr gibt. Die aus der Mitte unserer Branche vorgebrachten und von uns unterstützten Vorschläge zur Schaffung eines zentralen Lobbyregisters sind in diesem Sinne eben auch Ausdruck von zeitgemäßer und souveräner beraterischer Haltung.
So wie wir uns selbst die Haltungsfrage als Gretchenfrage stellen, diskutieren wir sie auch mit unseren Kunden. Denn klar ist auch: Politische Kommunikation von Unternehmen, die Vertretung von Wirtschaftsinteressen gegenüber Politik können nur auf der Basis von klaren Haltungen langfristig und nachhaltig erfolgreich sein. Die Politik hat ein berechtigtes Interesse zu wissen, woran sie bei ihrem Gegenüber eigentlich ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Gespräch zwischen Minister und CEO nicht von der Begegnung zwischen Gretchen und Faust in Marthens Garten.
Und Haltung, wie wir sie gemeinsam mit unseren Kunden herausarbeiten, schließt inhaltliche Fragen genauso ein wie Stilfragen. Wer als Wirtschaftsak- teur seinem politischen Gegenüber mit falsch adressierten oder unsauber aufbereiteten Inhalten begegnet, der verschwendet dessen (und damit auch seine eigene) Zeit genauso wie derjenige, der es an stilistischem Respekt mangeln lässt. Wer der Politik aber mit sachlich nachvollziehbaren und stilsicher kom- munizierten Interessen gegenübertritt, wer Haltungen kommuniziert, statt nur Meinungen durchdrücken zu wollen, der wird in der Regel auch das Ohr und die Anerkennung der Politik finden. Haltung ist in der politischen Kommunikation deshalb noch längst nicht alles – aber ohne Haltung ist alles nichts.
Dieser Artikel ist im Dezember 2016 im Jahresbrief der 365 Sherpas namens „Haltung“ erschienen. Das Thema der ersten Ausgabe 2016 ist „Guter Lobbyismus“.
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