Großbritannien hat einmal mehr gewählt. Boris Johnson und die konservativen Tories feiern dieses Mal einen fulminanten Wahlsieg, die oppositionelle Labour-Partei um Jeremy Corbyn wurde pulverisiert. Die Spaltung des Landes ist damit wohl stärker denn je.

„Get Brexit done“. Die meisten Briten sind dieser Wahlkampf-Devise der konservativen Tories gefolgt und haben die Lähmung der britischen Innenpolitik beendet. Das britische Unterhaus ist wieder arbeitsfähig und Jahre der Blockade sind vorbei. Wird jetzt alles besser? Stehen bald endlich wieder Parlamentsdebatten über Gesundheits-, Sozial- oder Familienpolitik im Mittelpunkt? Das wird die Hoffnung der meisten Briten sein. Aber selbst, wenn das Austrittsabkommen der Briten schnell von allen Beteiligten ratifiziert wird, steht die spannende Übergangsphase noch bevor. Hier geht es um die künftigen Handelsbeziehungen des Vereinigten Königreichs mit der Europäischen Union. Nach aktuellem Stand ist die Zeit für alle Beteiligten wieder mal knapp. Bis Ende 2020 soll alles geregelt sein. Ob es zu einem weiteren Showdown und weiteren Fristverlängerungen kommen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob sich Boris Johnson in die politische Mitte zurückbewegt und einen konsensgetragenen, weicheren Brexit anstrebt. Der zurückliegende Wahlkampf lässt daran Zweifel aufkommen. Es ist schon besorgniserregend, dass sein populistischer Ein-Themen-Wahlkampf („The Brexit Election”) zu absoluten Mehrheiten führt, während seine um Ausgleich und Kompromisse bemühte Vorgängerin Theresa May („Strong and stable“) massiv abgestraft worden war.

Camerons Erbe

Die Umstände könnten im (noch) Vereinigten Königreich spezieller nicht sein: Unterhauswahlen in den Jahren 2015, 2017, 2019 (die normale Legislaturperiode dauert übrigens fünf Jahre), das Brexit-Referendum im Jahr 2016 und eine Europawahl im Mai 2019 (der Name wird der Wahl in Großbritannien nicht gerecht). Es hat fünf Wahlen gebraucht, bis die Wähler ein klares (!) Statement gegen den politischen Stillstand abgegeben haben. Dabei geht es bei weitem nicht mehr nur um die Frage, ob das britische Volk wirklich den Brexit will. Es sieht eher so aus, als ob die Wählerinnen und Wähler müde waren und Johnson ihnen das entsprechende Aufputschmittel gegen innenpolitische Lähmung verabreicht hat.

David Cameron, ehemaliger Premierminister und Remainer (!), hat im Wahlkampf 2015 ein Referendum über den EU-Verbleib in Aussicht gestellt – damals eine machtsichernde Maßnahme, die massive Folgen hatte. Der Brexit wird als Musterbeispiel in die Geschichte eingehen, wie direktdemokratische Abstimmungen eine Gesellschaft spalten und destabilisieren können. Bereits der Meinungsbildungsprozess im Vorfeld des Brexit-Referendums war von populistischen Fake News geprägt. Die „leave-campaigner“ haben mit nachweislich falschen Informationen und Versprechen („Let’s give our NHS the 350 million pounds the EU takes every week“) geworben und waren so vielleicht das Zünglein an der Waage für das knappe Ergebnis gegen die Europäische Union. Auch der heutige Premier Johnson war am damals überraschenden Votum nicht ganz unbeteiligt.

Der Fall hat gezeigt:  Direkte Demokratie kann selbst etablierte und vermeintlich stabile politische Prozesse aufbrechen. Komplexe politische Fragestellungen auf „ja“ oder „nein“, „leave“ oder „remain“ zu simplifizeren – hanebüchen! Zudem war die Wahlbeteiligung bei den älteren Briten (eher leave) deutlich höher als bei den Jüngeren (eher remain). Schottland klar pro, England knapp gegen die EU. Gesellschaftliche Spaltungen zwischen jung und alt, Engländern und Schotten oder Nord und Süd wurden noch stärker als sie ohnehin schon waren. Diese Entwicklung war leider vorprogrammiert, sie ist gewissermaßen systemimmanent: Eine Kompromissaushandlung ist in einem direktdemokratischen Prozess, der nur schwarz und weiß kennt, nicht möglich. Dies kann direkte Demokratie zu einer anfälligen Plattform für Populisten und Demagogen machen.

Vakuum in der Mitte

Dies gilt umso mehr, wenn eine der beiden Volksparteien in sich selbst gespalten ist. Der traditionell stärkste Gegner der Tories, die Labour-Partei wurde von ihrer eigenen inneren Spaltung aufgefressen – nicht etwa von den Tories. Dabei hätte es Labour sein können, die sich als glaubhafte Pro-Europa-Partei positioniert. Diese Rolle ging dagegen an die Liberaldemokraten, die durch das britische Mehrheits-Wahlsystem traditionell unter politischer Einflusslosigkeit leiden.

Labour – traditionell stark in den nordöstlichen Industrieregionen Englands – steht weder für leave noch für remain. Der Nordosten Englands steht wiederrum klar für leave. Jeremy Corbyn hat seit Jahren beim Thema Brexit rumgeeiert und somit seinen Stammwählern kein glaubwürdiges Angebot mehr machen können. Keine klaren Aussagen, zähneknirschendes Einlassen auf ein mögliches zweites Referendum, die Aushandlung neuer Deals und so weiter. Alles zu kompliziert. Und so kommt es eben, dass Labour in den ehemaligen Hochburgen Sitze an die Tories verloren hat – eigentlich undenkbar.

Wenn jemand so scharf schießt wie Ober-Brexiteer Nigel Farage oder der alte und neue Premier Boris Johnson, bleibt ein trauriges Bild: Eine eigentlich unüberwindbare Spaltung zwischen Europafreunden und -gegnern. Und eine nicht zuletzt geographische Spaltung von Stadt und Land auf der einen und von Schottland und England auf der anderen Seite. Schottland ist nach der Unterhauswahl noch stärker das andere, pro-europäische Großbritannien. 48 der 59 schottischen Unterhaussitze fallen an die Scottish National Party (SNP) – eine Partei, die sich mindestens so stark für den Verbleib Schottlands in der EU wie seine Abspaltung vom Vereinigten Königreich, einsetzt. Mit 48 Sitzen ist die politische Durchsetzungsfähigkeit im House of Commons zwar begrenzt, aber die Forderungen der Partei und ihrer Vorsitzenden Nicola Sturgeon nach einem weiteren Referendum über die schottische Unabhängigkeit von Großbritannien werden wieder stärker werden.

Das Fazit fällt leider kurz und schmerzvoll aus: Die Unruhe bleibt, die Spaltung ist stärker und die EU verliert eine seiner ältesten und (ehemals?) stärksten Demokratien. Man kann nur hoffen, dass Franzosen, Italiener und Niederländer dieses gescheiterte Experiment sehr genau verfolgt haben.

*Bildquelle: Johannes Plenio auf Pixabay