Knapp 18 Jahre nach der ersten schwarz-blauen Koalition kommt es in Österreich zu deren Neuauflage. Gingen damals die Wogen national wie international hoch, gibt es heute keine vergleichbare Aufregung, obwohl sich wesentliche Charakteristika des österreichischen politischen Systems verändern. Oder gerade deswegen?

Eine Bundesregierung, die den unterirdischen Gang zur Angelobung in die Hofburg nehmen muss, 250.000 Demonstranten am Heldenplatz, EU-Sanktionen und ein politisches Establishment unter Schock. Die Begleiterscheinungen der ersten ÖVP-FPÖ-Koalition, der sogenannten Wenderegierung im Jahr 2000 waren heftig. Umso ruhiger zeigt sich die innenpolitische Lage heute. Litt das politische System damals unter einem akuten Kontrollverlust, herrschen heute trotz Kanzler- und Koalitionswechsel Normalität und Vorhersehbarkeit: Die ÖVP stellt als Wahlsieger den Bundeskanzler und koaliert mit der Partei, mit der sie die meisten inhaltlichen Schnittmengen hat. Das ist die FPÖ, deren Regierungsbeteiligung auch erwartet wurde.

Unsicherheiten trotz bewährter  Stabilitätsgaranten

Diese Umstände täuschen darüber hinweg, dass sich auch in Österreich die bisherigen Stabilitätsgaranten gewandelt haben. Die erste schwarz-blaue Koalition war zwar nach etwas weniger als sieben Jahren zu Ende und es folgten für die nächsten elf Jahre wieder Große Koalitionen, die sinnbildliche Stabilität war jedoch futsch: Von den drei Regierungsperioden dauerte nur  eine die vollen fünf Jahre. Zudem beherrschten Finanz-, Wirtschafts-, und Flüchtlingskrise ganz Europa und auch  Österreich. Diese Unsicherheiten ergeben sich aber nicht aus einem zufälligen Aufeinandertreffen von Ereignissen. Den laufenden Wandel des politischen Spielfeldes kann man an Merkmalen beobachten, die früher für das politische System kennzeichnend waren.

Steigende Volatilität der Parteien

Zwischen 1945 und 2002 gab es im Nationalrat wenig Veränderung. 1959 verschwand die Kommunistische Partei, die Grünen zogen 1986 erstmals ein und das Liberale Forum war in den 1990er Jahren kurz vertreten – mehr Bewegung war nicht. Seither hat die Dynamik drastisch zugenommen. Allein bei den zwei letzten Wahlen sind drei Parteien neu eingezogen (2013: Team Stronach, NEOS; 2017: Liste Pilz) und drei Parteien verschwunden (2013: BZÖ; 2017: Grüne, Team Stronach). Zudem häufen sich die Ein-, Aus- und Übertritte in den Klubs (Fraktionen) während der Legislaturperioden. Die fehlende Planbarkeit und (Versorgungs-)Sicherheit schwächt die Loyalität – gerade bei Hinterbänklern ohne aussichtsreichen Listenplatz. Sowohl das Team Stronach (2013) als auch die Liste Pilz (2017) bildeten einen Parlamentsklub mit abtrünnigen Abgeordneten, bevor sie überhaupt an einer Wahl teilgenommen hatten. Zudem versuchen die Parteien, mit neuen Gesichtern Wählersegmente zu mobilisieren. Das Resultat: 85 von 183 Abgeordneten sind Newcomer, in der ÖVP stellen sie sogar die Mehrheit.

Große Koalition ist out

Die Koalition zwischen SPÖ und ÖVP galt lange Zeit als erstrebenswert, war sie doch Ausdruck der Konsensdemokratie mitsamt ihren institutionellen Ausgestaltungen (Proporz, Kammern). Heute gilt sie stattdessen als Sinnbild lähmender Reformblockade. Weder in der Bevölkerung noch bei den Funktionären steht sie hoch im Kurs und schon gar nicht mehr in den Bundesländern. Nur in der Steiermark und in Kärnten, hier mit den Grünen als drittem Partner, bilden sie noch gemeinsam die Landesregierung. Österreich ist im Kreis der westlichen Demokratien angekommen, wo „minimum winning coalitions“ angestrebt werden, um möglichst viele eigene Inhalte durchzusetzen. ÖVP und SPÖ präferieren nun kleine Koalitionspartner und nicht mehr einander. Die Grünen sitzen heute in fünf von neun Landesregierungen, die FPÖ in zwei. Selbst die SPÖ hat ihre Vranitzky-Doktrin über Bord geworfen und öffnet sich gegenüber der FPÖ.

Kammern unter Druck

Ein weiteres Charakteristikum der alten Stabilität steht gehörig unter Druck: die Kammern. Als Vertretung und Selbstverwaltung der Berufsgruppen wurden sie im 19. Jahrhundert geschaffen und ausgebaut. Die Mitgliedschaften sind verpflichtend, und seit 2007 ist ihr gemeinsames Wirken als Sozialpartner sogar in der Verfassung verankert. Sie standen lange Zeit für die Einbindung aller Interessen – auch bei Alleinregierungen Mitte der 60er bis Mitte der 80er Jahre. Heute steht die verpflichtende Mitgliedschaft zur Disposition. NEOS ist vehement dagegen, die FPÖ hat die Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft als zentrale Forderung im Wahlkampf erhoben und trägt dies mit in die Regierung.

Volksbegehren und verpflichtende  Abstimmungen

Aktuell noch wenig diskutiert wird die enorme Veränderungskraft durch die Stärkung von direktdemokratischen Elementen. Die österreichische Verfassung kennt derzeit drei: Volksabstimmung, -befragung und -begehren. Vor allem Letzteres soll die Möglichkeit zu Gesetzesinitiativen von Bürgern ermöglichen und fördern. In der Praxis setzen vor allem die etablierten Parlaments­parteien dieses Instrument für öffentliche Kampagnen zu ihren Themen ein. Die erfolgreichsten Volksbegehren: Konferenzzentrum 1982 (ÖVP), Gentechnik 1997 (Grüne) und Temelin 2002 (FPÖ). Jedoch bewirkt ein Volksbegehren ab 100.000 Unterschriften lediglich, dass sich der Nationalrat damit befassen muss. Die zahmen direktdemokratischen Instrumente könnten in Zukunft schärfer werden. Die FPÖ strebt nach einem Schweizer Modell, wonach es ab einer gewissen Unterschriftenzahl automatisch zu einer bindenden Volksbefragung kommt. Sebastian Kurz zeigte sich in der Vergangenheit offen dafür, und auch die SPÖ könnte sich als nunmehrige Oppositionspartei damit anfreunden. Immerhin können sich die Sozialdemokraten nun Themen mit ungeheurer Mobilisierungskraft einverleiben, wie beispielsweise die Vermögens- und Erbschaftssteuern oder die 6. Urlaubswoche.

Neue Räume für zivilgesellschaftliche Spieler

Wesentliche Eckpfeiler und Selbstverständlich­- keiten des auf Konsens und Stabilität orientierten politischen Systems sind dem­nach  im Wandel begriffen. Eine ÖVP-FPÖ-Regierung löst keinen Systemschock mehr aus, muss sich aber auch auf einem anderen politisch­en Spielfeld behaupten. Traditionelle Akteure des Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses waren für die Regierungen der Vergangenheit Stabilitätsfaktoren. Auf diesem Spielfeld entstehen nun neue Räume für zivilgesellschaftliche Bewegungen, Initiativen oder Interessengruppen. Womöglich werden sie die neuen Stabilitätsfaktoren.

 

Dieser Beitrag ist im November 2017 entstanden, als die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ noch nicht abgeschlossen waren. Erschienen ist der Beitrag im Dezember 2017 in unserem Jahresbrief  „Haltung“; Thema der Ausgabe ist „Neue Berechenbarkeit“.

 

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