Was versteht jemand unter Fortschritt, der Skispringen über Jahrzehnte miterlebt und geprägt hat? Toni Innauer über die ethisch-moralischen Grenzen von Fortschritt, und warum uns der Sport dennoch zeigt, dass der Mensch sich entwickeln kann.

Was bedeutet Fortschritt für Sie?

Ob etwas Fortschritt ist, darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Im Spitzensport ist nicht unbedingt die nächste Höchstleistung ein Fortschritt, wenn man nicht auch die Gesamtauswirkungen betrachtet. Im Sport wird viel getan, um schneller, weiter und höher zu kommen. Es muss aber auch diese gesamtheitliche Dimension stimmen.

Im Spitzensport ist nicht unbedingt die nächste Höchstleistung ein Fortschritt, wenn man nicht auch die Gesamtauswirkungen betrachtet.

Was heißt das konkret?

Im Skifliegen könnte es bei idealen Bedingungen über 300 Meter weit gehen, aber es würde automatisch wesentlich gefährlicher. Skifliegen ist deshalb ein interessantes Denkbeispiel, weil es rein physikalisch betrachtet umsetzbar wird, wenn man noch riesigere Schanzen baut. Allerdings werden Geschwindigkeit und auftretende Kräfte bedrohlich ansteigen und der Windeinfluss noch viel dramatischer. Schon jetzt sind Stürze nie völlig zu vermeiden und ganz knapp am tödlichen Ausgang – siehe Thomas Morgenstern oder Daniel-André Tande. Zu dieser Frage laufen gerade Diskussionen, auch in Bezug auf das Frauenskispringen.

Sie haben sich kürzlich in dieser Frage öffentlich zu Wort gemeldet. Worum geht es?

Das Skispringen entwickelt sich bei Frauen sehr erfreulich. Sie springen auf Großschanzen über 130 Meter weit und es gibt mittlerweile Wettbewerbe bei Olympischen Spielen mit beeindruckenden Leistungen. Nun gibt es Stimmen, die Frauen auch Skifliegen sehen wollen {Anm.: Schanzen ab einer Hillsize von 185 Metern werden als Flugschanzen bezeichnet. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 253,5 Metern.}. Man solle Frauen nicht im Weg stehen, heißt es. Man dürfe es ihnen nicht verbieten. Die Debatte zum Frauenskifliegen ist aber keine Genderdiskussion, sondern aus meiner Perspektive vorrangig eine ethisch-moralische. Ich sehe das sehr kritisch. Warum? Frauen bräuchten noch mehr Geschwindigkeit als ihre männlichen Kollegen, um diese Riesenschanzen zu bewältigen. Im Falle eines Sturzes wäre dadurch auch die Aufprallenergie größer und Frauenkörper haben weniger Muskelanteil und sind sportartspezifisch auf möglichst geringes Gewicht getrimmt. Für Männer ist dieser Sport schon lebensgefährlich, bei Frauen könnte eine kritische Grenze überschritten werden.

Es geht also nicht ums Können?

Frauen können auch 250 Meter fliegen – da bin ich mir sicher. Wie auch die besten Männer werden auch Skispringerinnen irgendwann stürzen. Darum sollte man vorher nachdenken und nicht erst, wenn was Tragisches passiert ist. Man muss in der Diskussion auch den Worst Case mitdenken. Als jemand, der selbst schwer gestürzt ist und es überlebt hat, erlaube ich mir deshalb auch als älterer Mann dazu etwas zu sagen.

Ist Skispringen ein Beispiel, bei dem die sportlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen für Zuschauer:innen nicht mehr sichtbar sind?

Skispringen ist eine der wenigen Sportarten, wo die Leistungsfähigkeit der Frauen nahe an die der Männer herankommt. Es sind nicht nur die Sprungkraft, sondern auch sportmotorische und körperbauliche Qualitäten determinierend. Im Mixed-Bewerb nehmen Frauen etwas mehr Anlauf und erzielen ähnliche Weiten.

Kommen wir zu den Grenzen in Ihrem Sport. Ist eine fortschreitende Weitenjagd auch angesichts der Risiken überhaupt erstrebenswert?

Was man als erträglich bewertet, ist ein gesellschaftlicher Konsens. Manche finden Stürze toll – Fendrich goss diesen Zynismus in „Es lebe der Sport“ in einen Kultsong. Ich komme von der anderen Seite und finde das höchst abstoßend. Letztendlich müssen die Frage nach der Grenze aber die juristischen, medizinischen und sportlichen Komitees in den großen Verbänden entscheiden. Aber selbst aus kommerzieller Sicht gibt es Grenzen. Ewig langes Warten auf passende Windbedingungen würde die Dramaturgie eines Wettkampfes zerstören. So ein Event lässt sich weder im TV noch vor Ort verkaufen. Generell sollten im Sport nicht die kommerziellen Überlegungen, sondern die Modellrolle für die Gesellschaft die größere Bedeutung haben. Spitzensport sollte sich seiner Bedeutung als Modell für Konkurrenz und klug geregelten Wettbewerb unter fairen Spielregeln bewusster sein.

Wäre es dann nicht auch konsequent – Stichwort Innovation – jedem Springer und jeder Springerin das gleiche Material zur Verfügung zu stellen?

Skispringen ist in dieser Hinsicht eine interessante Sportart, weil man sich über Jahrzehnte bemüht hat, ein Materialreglement zu finden, das sich möglichst viele Nationen leisten können. Halbwegs kostengünstige Materialvorschreibungen und ein leicht zu überprüfendes Reglement stützen den Versuch, eine bestimmte Breite zu schaffen, damit nicht die wohlhabendste Nation alles dominiert. Dieses Reglement schreibt sich immer wieder neu, weil erfinderische Athleten und Trainer Lücken und Grauzonen finden, um sich Für Männer ist dieser Sport schon lebensgefährlich, bei Frauen könnte eine kritische Grenze überschritten werden. Im Spitzensport ist nicht unbedingt die nächste Höchstleistung ein Fortschritt, wenn man nicht auch die Gesamtauswirkungen betrachtet. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 253,5 Metern. einen Vorteil zu verschaffen. Die Komitees greifen diese Entwicklungen dann wieder auf und es wird nachreguliert. Bei dieser Frage, wie auch bei den zuvor angesprochenen ethisch-moralischen Fragen, geht es letztlich um Haltung. Wie selbstreflexiv ist eine Sportart?

Für Männer ist dieser Sport schon lebensgefährlich, bei Frauen könnte eine kritische Grenze überschritten werden.

Was bedeutet Haltung für Sie in diesem Zusammenhang?

Mir geht es um den selbstkritischen Blick auf das eigene Tun. Das ist im Spitzensport meist schlecht ausgeprägt, weil kurzzyklische Erfolgsgedanken vorherrschend sind und Trainer kurzzeitige Verträge und den schnellen Erfolg im Auge haben. Darum ist es so wichtig, dass Sportdirektoren und Präsidenten eine Grundhaltung haben, den Sport gesund und klug zu führen und zu gestalten.

Also kein unregulierter Fortschritt?

Für mich wäre es ein Fortschritt, wenn sich der Mensch nicht nur über das Gewinnen oder das Stärkersein definiert. Sportkultur bedeutet, nicht nur am eigenen Erfolg um jeden Preis, sondern an einem auf längere Sicht für alle sinnvollen Reglement zu arbeiten. Im Skispringen hatten wir genau so ein Beispiel mit der Einführung des BMI (Body-Mass-Index, Anmerkung d. Red.). Obwohl wir wussten, wie gesundheitsgefährdend das geringe Gewicht bei Athleten ist, war es dennoch schwierig, das sportpolitisch einzuführen. Viele Nationen hatten das Gefühl, Wettbewerbsvorteile aufzugeben. Wir waren aber die einzige Sportart weltweit, die in der Lage war, ein Gewichtslimit einzuführen. Ein Reglement zu schaffen, das Spannung behält, aber auch den Sportler und die Sportlerin schützt, ist für mich wirklicher Fortschritt.

Thema Sport und Politik. Wie politisch ist Sport oder Skispringen?

Einerseits gibt es die Sportpolitik – WM-Vergaben, Präsidentenwahlen und Reglements. Das ist eine Art Miniparlamentarismus, spiegelt die große Politik wider und hat vieles von dem, was man aus der Tagespolitik kennt. Dann gibt es die Politisierung des Sports, die laut Regularien keine Rolle spielen sollte – das war ja auch der Grundgedanke von Pierre de Coubertin: Sport soll ein eigenes „unpolitisches“ Feld sein. Das trifft natürlich nicht zu. Sport wird und wurde über Jahrzehnte instrumentalisiert. Die meisten Sportler versuchen sich, solange es geht, nicht zu äußern. Würden sie zum Beispiel nach vier Jahren Training nach China zu den Olympischen Spielen fahren, um dort als Aktivisten aufzutreten, würden sie das energetisch nicht durchstehen. Andererseits können sie aber nicht verhindern, dass sie und ihre Erfolge durch ihre Regimes instrumentalisiert werden.

Taugt Sport als Sanktionsinstrument, zum Beispiel russische Sportler:innen nicht mehr an internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu lassen, als Reaktion auf den Ukraine-Krieg? {Anm.: Interview am 11. März 2022}

Ich finde das richtig. Es ist für die betroffenen Sportler und Sportlerinnen extrem hart. Die internationale Staatengemeinschaft und auch der Sport lassen die Russen spüren, welche Folgen der Völkerrechtsbruch ihres Regimes hat, dass gar nichts ganz normal weiterlaufen kann, wenn die wichtigsten Spielregeln missachtet werden.

Abschließend – noch mal zum Thema Fortschritt. Wo sehen Sie die positiven Seiten des Fortschritts im Skispringen?

Der Fortschritt beim Sportler selbst. Wenn er als junger Mensch einen unglaublichen Lernprozess beginnt, sich Fähigkeiten aneignet und dann Dinge beherrschen lernt, vor denen er vorher sogar Angst hatte. Daran merkt man exemplarisch, wie groß das Entwicklungspotenzial des Menschen ist. Beim Skispringen sind die Entwicklungserlebnisse dramatisch – zum ersten Mal am Bergisel 130 Meter springen – das geht durch Mark und Bein. Der Sport zeigt, dass solch persönlicher Fortschritt möglich ist mit Engagement, Zielen und vorübergehendem Verzicht. Die Erfindung des V-Stils durch den Schweden Jan Boklöv war ein Fortschritt der ganz besonderen Art. Der Sprungstil hat die Sportart nicht nur in neue Leistungsdimensionen katapultiert, sondern Skispringen und Skifliegen erfreulicherweise viel sicherer gemacht. {Anm.: Im V-Stil kann mit viel geringeren Geschwindigkeiten weiter geflogen werden!}

Gibt es abschließend noch einen Aspekt von Fortschritt, der Ihnen wichtig ist?

Wenn man Vater und Großvater ist, beurteilt man die Sportart auch aus dieser Perspektive und nicht nur aus einer leistungsmäßigen. Bei den Entwicklungen, die momentan stattfinden, fragt man sich: „Würde ich das meiner Tochter oder meinen Enkeln zumuten wollen?“ Wenn es persönlich wird, fallen Entscheidungen oft anders aus, als wenn man sie am Reißbrett über andere trifft.

Das Gespräch führten Anna Schmeikal und Joachim Kurz.

Toni Innauer (64) ist ehemaliger Skispringer, Trainer und Funktionär. Zu seinen größten Erfolgen zählen unter anderem seine Weltrekordflüge 1970 sowie die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1980. Nach seinem verletzungsbedingten Karriereende im selben Jahr studierte er Psychologie/ Philosophie und Sport und startete später eine erfolgreiche Karriere als Cheftrainer der österreichischen Skisprung-Nationalmannschaft und als Nordischer Direktor im ÖSV. Aktuell ist er als Berater, Vortragender und ZDF-Experte tätig.