Führungsdrama der Volksparteien: Traut euch den großen Wurf zu!

Führungskrisen sind normal und wichtig. Gerade für Parteien. Sie können personell, programmatisch und ideell befreien, ermöglichen und erleichtern. Manchmal braucht es den Schock, das Vakuum, aus dem Neues und Euphorie entstehen kann. Fragen Sie doch mal bei den Grünen nach!

Das Problem von Union und SPD ist derzeit allerdings, dass sie ihre Führungskrise wie eine lästige Erkältung über den Winter verschleppen und kein wirkliches Mittel zu einem positiven Befreiungsschlag aus der Krise verhilft. Spott und Fremdscham ist den beiden Regierungspartnerinnen von allen mehr oder weniger sachkundigen Beobachter*innen sicher. Doch wer meint, dass eine Führungskrise ausschließlich an den alten, neuen oder potenziellen Führungspersonen liegt, überschätzt die Macht einer Parteiführung gewaltig. Das Problem sitzt weitaus tiefer. Der Reihe nach.

Wer allen gefallen möchte, gefällt niemandem

Der englische Begriff der Catch-All-Party beschreibt das Drama der Gattung Volkspartei aus zeitgenössischer Perspektive besonders treffend. Wer alle catchen will, catcht niemanden. Die Gesellschaft hat sich seit den besten Zeiten der Christ- und Sozialdemokratie rapide diversifiziert. Längst sind Wählermilieus abseits des klassischen „Kleinen Mannes“ oder der katholischen Beamtin entstanden, deren Stimmen den beiden Catch-All Parties so sicher waren wie der pünktliche Schichtwechsel in der Zeche und das Amen in der Kirche. Das Problem: Diesen Idealtypus von Wähler*in gibt es nicht mehr. Stattdessen haben wir es mit neuen Konflikten, Widersprüchen und Milieus zu tun, die den legitimen Anspruch haben, von Parteien repräsentiert zu werden, die ihre noch so speziellen Interessen ohne ständige Grundsatzdebatten vertreten. Und das sind derzeit nun mal kleinere Parteien mit klarem inhaltlichem Profil.

SPD und CDU vereinen in ihrer Mitgliedschaft alle existierenden gesellschaftlichen Widersprüche. Von Kohlekraftwerk bis Klimaschutz, von Ehe-Für-Alle bis Grenzschließung. Trotzdem haben beide Parteien noch immer (zwangsläufig) den Anspruch für all diese Leute Politik zu machen. Das ist ein äußerst ehrenwerter Ansatz – nur wird dieser von Mitgliedern nicht belohnt. Dieser Catch-All-Anspruch der Führung wird katalysiert durch die überzogene Erwartung, die die Mitglieder an ihre Vorderen stellen. In ihren Augen muss das Spitzenpersonal alle mitnehmen und gleichzeitig ein scharfes Profil erkennen lassen, dass zum Alleinstellungsmerkmal wird. Dieser Anspruch, der einer Quadratur des Kreises nahekommt, ist aktuell so exorbitant hoch, dass eine Parteiführung nur scheitern und enttäuschen kann.

SPD und CDU waren einst Meisterinnen der politischen Erzählung

Gänzlich ausgeschlossen ist es allerdings nicht, ein scharfes politisches Profil und die Repräsentation aller Gruppen in Einklang zu bringen. Für diesen Zweck braucht es allerdings das, was beide Catch-All-Parties über lange Zeit erfolgreich gemeistert haben: Eine politische Erzählung der Zukunft, die im Einklang steht mit dem Zeitgeist und den real erlebbaren Alltagsfragen der Gesellschaft. Das Paradoxe: Union und SPD sind Expertinnen in diesem Feld. Die Union konnte über Jahrzehnte eine Erzählung von westlichem Wohlstand und Sicherheit vermarkten, während die SPD sozialen Aufstieg und Frieden besetzte. Diese Konzepte trafen Realität und Gefühlswelt der Menschen. Allerdings nur in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Seitdem, und das muss so deutlich gesagt werden, eiern beide Parteien orientierungslos von Spiegelstrich zu Spiegelstrich und scheuen auf eine radikal unstrategische Art und Weise die Zukunftsdebatte.

Wir sehen in Ansätzen wie die Kandidierenden beider Parteien um den Vorsitz versuch(t)en, mit programmatischer Schärfe einer politischen Erzählung zumindest im Ansatz nahezukommen. Kramp-Karrenbauer kam auf Idee, nach ihrer Wahl mit einem Debattencamp zur Migrationspolitik die konservative Gefühlswelt der Union zu bespielen. In der SPD versuchte das Kandidatenpaar Nowabo/Esken kürzlich, mit einem 500 Mio. Investitionsprogramm die keynesianistische Keule der Sozialdemokratie auszupacken. Das sind programmatische Bruchstücke, die eine emotionale Erzählung, welche sich mit konkreten politischen Inhalten verbindet, vermissen lassen. Spätestens nach der Wahl sind die Vorsitzenden beider Parteien ohnehin verpflichtet, das gegnerische Lager zu integrieren. An diesem Punkt geht viel programmatische Schärfe verloren – bis hin zur Orientierungslosigkeit, die wir aktuell bei Kramp-Karrenbauer beobachten können. Und wieder wären wir beim Problem, es allen recht machen zu wollen.

Keine Angst vor Utopien

Eine politische Zukunftserzählung, so gut sie auch sein mag, kann jedoch niemals von einer Parteiführung aufoktroyiert werden. Sie muss in der Gesellschaft und der Mitgliederbasis entstehen. Parteien sind Mittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie bringen politisch ein, was gesellschaftlich Realität ist. Das muss die Führung, aber vor allem die Mitgliedschaft lernen. Solange die politische Erzählung fehlt, wird Führung in Volksparteien weiterhin scheitern müssen.

Man kann den Parteiführungen nur raten, die Debatte für eine gemeinsame Erzählung einzuleiten. Eine Erzählung, die über symbolische Einzelmaßnahmen hinausgeht. Das ist unangenehm, aber überlebenswichtig. Es bedeutet parteiintern wirklich zu klären, was Sache ist und wo es hingehen soll. Das setzt die Einbindung der Mitglieder, aber vielleicht auch die Enttäuschung einiger weniger voraus. Denn eine große Erzählung kann nicht nur aus einzelnen Kompromissen in der Asyl-, Klima- oder Digitalpolitik bestehen. Eine Erzählung bedarf einer Vision in diesen Feldern, die kompromislos und auch utopisch sein darf. Wenn auf diesem Weg gänzlich unzufriedene Mitglieder innerhalb der Parteien verloren gehen, gehört auch das zur Demokratie.

Vor allem aber sind Basis und konkurrierende Partei*freundinnen gefragt, die überzogenen Erwartungen einzudämmen und die eigene Verantwortlichkeit zu erkennen: Führung erfordert die Bereitschaft, sich führen zu lassen. Aus der Krise Großes entstehen zu lassen, ist in demokratischen Organisationen die Aufgabe aller, und nicht Führungsaufgabe allein.

*Bildquelle https://www.flickr.com/photos/spd-sh/31785788544