Für Staatsministerin Serap Güler ist ein handlungsfähiges Europa zentral. Sie spricht im Interview über Deutschlands Verantwortung in der NATO und Reformen im Asylsystem, betont die Bedeutung eines geeinten Europas für Sicherheit, Wohlstand und Freiheit und nennt konkrete Maßnahmen zur Konfliktprävention und Zusammenarbeit mit globalen Partnern.

Frau Staatsministerin, wo sehen Sie inmitten der allgegenwärtigen weltpolitischen Herausforderungen Chancen für ein starkes Europa?

Wir müssen zeigen, dass wir entschieden handlungsfähig sind. Und dafür muss Europa zusammenstehen – von der Transformation unserer Wirtschaft bis zum Umgang mit geopolitischen Rivalitäten. Wir brauchen mehr strategische Handlungsfähigkeit, um unsere Interessen zu verfolgen und zugleich den Wesenskern der EU – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität – entschlossen zu verteidigen. Wenn wir diese Prinzipien konsequent vertreten, unsere wirtschaftlichen Abhängigkeiten reduzieren und die Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung stärken, stärken wir Europa von innen und nach außen. Ein geeintes Europa ist der beste Garant für Sicherheit, Wohlstand und Freiheit in Deutschland und auf dem ganzen Kontinent – auch für kommende Generationen. Wir haben keinen Grund, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren: Die EU ist einer der größten Märkte der Welt, mit sehr leistungsfähigen Volkswirtschaften. Sie kann für die Sicherheit und den Wohlstand ihrer 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger sorgen.

Kanzler Friedrich Merz beansprucht eine deutsche Führungsrolle in Europa und will sich damit auch bewusst von seinem Vorgänger Olaf Scholz absetzen. Was folgt daraus – Stichwort Verteidigung, möglicherweise sogar atomarer Schutzschild?

Es ist unser Kernanliegen als Bundesregierung, die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten Deutschlands und Europas deutlich zu stärken – und damit auch mehr Verantwortung in der NATO zu übernehmen. Dafür baut die Bundesregierung zum einen die konventionellen Fähigkeiten der Bundeswehr deutlich aus, und zum anderen setzen wir die enge Zusammen- arbeit im Rahmen der nuklearen Abschreckung der NATO fort. Darüber hinaus steht die Bundesregierung im regelmäßigen und vertrauensvollen Austausch mit unseren Partnern und Alliierten zu Fragen der Abschreckung und Verteidigung sowie ihrer möglichen Stärkung, etwa mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich. Klar ist: Der nukleare Schutzschirm der USA bleibt für die europäische Sicherheit zentral.

Wie passt Merz‘ Anspruch auch in Zusammenhang mit seinem Wunsch nach einem geeinten Europa mit seinem bisherigen Kurs in der Flüchtlingspolitik zusammen?

Im Koalitionsvertrag bekennen wir uns zu einer kohärenten und verlässlichen Europapolitik. Deshalb engagieren wir uns zum Beispiel auch für eine schnelle und vollständige Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in der ganzen EU. Dabei gehen wir selbst mit gutem Beispiel voran und werden GEAS in Teilen bereits bis Jahresende umsetzen. Das machen wir in enger Abstimmung mit unseren europäischen Partnern. Auch über die temporären Kontrollen an den deutschen Grenzen sind wir in intensivem Austausch mit unseren Nachbarn. Gemeinsam wollen wir negative Auswirkungen auf den Grenzverkehr und die Pendlerinnen und Pendler möglichst gering halten. Das übergeordnete Ziel ist, dass die Entscheidung über den Zutritt nach Europa wieder an den Außengrenzen getroffen werden kann. Mit diesem Ziel stehen wir in Europa nicht alleine, sondern wissen die anderen EU-Mitgliedsstaaten an unserer Seite.

Wie kann Deutschland in Europa und international für Konfliktprävention einstehen?

Prävention ist gerade in Zeiten knapper Mittel sehr gut und sinnvoll investiertes Geld, davon konnte ich mich gleich in meiner ersten Woche als Staatsministerin überzeugen: Da haben das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium hier in Berlin die größte Konferenz organisiert, die je im Auswärtigen Amt stattgefunden hat. Mit Partnern aus 130 Ländern haben wir über die Zukunft des Peacekeeping gesprochen. Ich gebe zwei aktuelle Beispiele, wie wir gerade konkret für Konfliktprävention einstehen: In Westafrika arbeiten wir mit dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden zusammen, um eine Ausbreitung terroristischer Gruppierungen aus dem Sahel in die westafrikanischen Staaten zu verhindern. In enger Abstimmung mit den Regierungen vor Ort werden dort mehr als 100 konkrete Projekte zur Stabilisierung der umkämpften Grenzregionen umgesetzt. Und in Syrien unterstützen wir die Bemühungen für die Übergangsjustiz, dazu haben wir erst vor kurzem syrische und internationale Akteure in Berlin zusammengebracht. Die Sicherheitslage in Syrien kann nur dauerhaft und spürbar verbessert werden, wenn die unterschiedlichen Gruppen in einen Dialog kommen.

Wenn wir in die USA schauen, machen es uns Präsident Donald Trump und seine Regierung nicht leicht. Wo liegen die größten Herausforderungen, aber auch Potenziale für die transatlantischen Beziehungen?

Die transatlantischen Beziehungen befinden sich im Wandel. Jahrzehntelange Gewissheiten werden hinterfragt. Das sorgt verständlicherweise für Verunsicherung. Trotz aller gegenwärtigen Herausforderungen bleiben das transatlantische Bündnis und die Zusammenarbeit mit den USA für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit von entscheidender Bedeutung. Dass die Fortsetzung dieser Zusammenarbeit insbesondere angesichts der russischen Bedrohung der transatlantischen Sicherheit in beiderseitigem Interesse liegt, zeigen auch die Ergebnisse des NATO-Gipfels von Den Haag, auf dem sich alle 32 Mitgliedsstaaten, inklusive der USA, klar und eindeutig zur Beistandspflicht nach Artikel 5 bekannt haben. Auch klar ist: Deutschland und Europa werden mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen.

Ihr Chef, Außenminister Johann Wadephul, möchte Außenpolitik mit dem Fokus aufs Wesentliche machen. Gleichzeitig fordern eine Vielzahl von Kriegen, Krisen und Konflikten mit weitreichenden Auswirkungen unsere Aufmerksamkeit. Wie priorisieren Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen, worum Sie sich kümmern?

Meine beiden Staatsminister-Kollegen und ich arbeiten eng mit dem Außenminister zusammen und vertreten ihn, wenn nötig. Die beiden Staatsminister und ich haben eine klare Aufgabenteilung, damit bei jedem Thema klar ist, wer sich darum kümmert. Denn es ist nicht effizient, wenn jeder alles macht. Wir richten unsere Außenpolitik an den Zielen aus, die der Minister schon ganz zu Beginn seiner Amtszeit klar benannt hat: Sicherheit, Freiheit und Wohlstand für Deutschland und Europa.

Was können Politikerinnen und Politiker dafür tun, dass die Bürgerinnen und Bürger außenpolitische Entscheidungen besser nachvollziehen und akzeptieren können?

Die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren und Informationen aufnehmen, verändert sich fundamental. Gerade junge Menschen informieren sich längst in erster Linie auf Plattformen wie Instagram oder TikTok. Dass wir auch in den Sozialen Medien präsent sind, wird immer wichtiger. Gleichzeitig ist es so, dass die meisten vor allem die Fragen bewegen, die sie ganz unmittelbar und jeden Tag betreffen. Außenpolitik scheint für viele weit weg, dabei werden Fragen von Sicherheit und Wohlstand nicht nur in Berlin entschieden werden – sondern im internationalen Miteinander. Zu Recht erwarten Menschen heute mehr denn je Authentizität und Offenheit – auch im Umgang mit den Widersprüchen und Dilemmata, die außenpolitisches Handeln prägen. Deshalb suchen wir im Auswärtigen Amt ganz gezielt das Gespräch mit den Menschen in Deutschland. Das gilt für uns Staatssekretärinnen und Staatssekretäre und das gilt für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Das Auswärtige Amt bietet seit fast zwei Jahren an, dass Expertinnen und Experten Vereine, Schulen und Kommunen überall besuchen, um über Außenpolitik zu diskutieren. Diese Gesprächsformate kann jeder auf unserer Website anfragen.

Welche persönlichen Schwerpunkte und Ziele verfolgen Sie in Ihrer Rolle als Staatsministerin?

Ich bin als Staatsministerin zuständig für Lateinamerika, für den afrikanischen Kontinent, Teile des Nahen und Mittleren Ostens und die Türkei. Dazu kommen noch Auswärtige Kultur- und Gesellschaftspolitik, Krisenprävention und humanitäre Hilfe, also ein sehr breites und abwechslungsreiches Themenfeld. Mir ist wichtig, keine Region aus den Augen zu verlieren. Konkret wird ein erster Schwerpunkt meiner Arbeit die humanitäre Lage im Sudan sein, die aktuell größte humanitäre Katastrophe auf der Welt. Auch in Zeiten knapper Haushalte und weltweiter Kürzungen von Hilfsgeldern setzen wir uns weiter für Menschen in Not ein. Dafür arbeiten wir eng mit internationalen Partnern zusammen. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit wird es sein, die Auswärtige Kultur- und Gesellschaftspolitik an den Herausforderungen unserer Zeit auszurichten. Denn die Auswärtige Kultur- und Gesellschaftspolitik ist eine langfristige Investition in unsere Sicherheit, unsere Freiheit und unseren Wohlstand.

Welche „Chancen“ für Europa möchten Sie in fünf Jahren realisiert sehen, und welchen Beitrag möchten Sie dazu geleistet haben?

Wir wollen Europa stärken und fit für die Zukunft machen. Das wird erhebliche Kraftanstrengungen von uns abverlangen, insbesondere in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Wettbewerbsfähigkeit und institutionelle Reformen. Außerdem wollen wir bei der EU-Erweiterung weiterkommen. Sie bleibt eine geopolitische Notwendigkeit und es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Damit auch eine EU mit 30+ Mitgliedern handlungsfähig ist, müssen heute bereits die Weichen für interne Reformen gestellt werden. Außerdem muss die EU resilienter werden und auch den Schutz von Minderheiten, der Bewahrung unserer Meinungsfreiheit und -vielfalt gewährleisten. Unsere Freiheit und Demokratie sind unverzichtbar für unseren Kontinent und müssen geschützt werden gegen Desinformation und Einflussversuche. Ich sehe, dass ein Land wie Deutschland im Herzen Europas eine entscheidende Rolle für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand in Europa spielt. Wir müssen und wollen Verantwortung übernehmen in und für Europa. Dabei wollen wir moderieren, zuhören, aber auch wenn und wo nötig vorangehen.

Im Gespräch mit Marian Bracht und Verena Gathmann

Serap Güler (CDU) ist seit Mai 2025 Staatsministerin im Auswärtigen Amt und seit 2021 Mitglied des Bundestages. Von 2017 bis 2021 war sie Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie gehört seit 2012 dem Bundesvorstand der CDU an. Güler ist gelernte Hotelfachfrau und studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft.

Bildnachweis © Laurence Chaperon