Für David McAllister, Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, geht der europäische Fortschrittsgedanke mit stetigem Wandel einher. Wir haben mit ihm über interne und externe Herausforderungen für Europa gesprochen, die entscheidende Rolle der EU im globalen Umfeld sowie über den Kampf für Frieden, der im Herzen Europas Realität geworden ist.

Was bedeutet Fortschritt für Sie persönlich, insbesondere im Kontext Ihrer Arbeit als Europaabgeordneter?

Fortschritt bedeutet für mich, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn wir im Europäischen Parlament ein Gesetz oder eine Entschließung Wort für Wort erörtern, dann gilt es, sich hin und wieder zurückzunehmen und zu fragen: Was ist das langfristige Ziel? Wie viel davon wurde seit dem Beginn des Projekts bereits erreicht? Wenn ich darauf eine positive Antwort finde, dann bedeutet das für mich Fortschritt. Die Europäische Union befindet sich stetig im Wandel. Regierungen in den Mitgliedstaaten unterliegen Wechseln. Es gibt zahlreiche sich verändernde externe und interne Herausforderungen, denen sich die EU gegenübersieht. Die großen Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass unsere Staatengemeinschaft lernfähig ist und mit ihren Aufgaben wächst. Das Aufbauprogramm „NextGenerationEU“ oder der Europäische Stabilitätsmechanismus sind Beispiele. Auch wenn berechtigterweise über die Details dieser Maßnahmen in demokratischen Verfahren gerungen wird, verbirgt sich dahinter die Absicht, unser Europa für die Zukunft zu stärken.

Jedes Projekt benötigt Indikatoren, die es dem Projektteam erlauben, Fortschritt sowie das Erreichen von Zielen zu messen. Anhand welcher Indikatoren machen Sie Fortschritt in der Politik fest?

Die großen Sprünge der europäischen Integration dokumentieren den Fortschritt. Die Einführung unserer gemeinsamen Währung, der Binnenmarkt, Schengen sowie die Förderung von grenzüberschreitenden Innovationen und Spitzenforschung sind konkrete Beispiele. Positive Umfragewerte in der jüngeren Generation zur Identifikation mit dem vereinten Europa oder die steigenden Wahlbeteiligungen bei den Europawahlen sind weitere Indizien dafür, dass europäische Politik zu echten Verbesserungen führt.

Präsident Macron sagte in seiner Rede vor dem Europaparlament im Januar, dass Europa für ihn ein Versprechen auf Demokratie, Fortschritt und Frieden sei. Wie bewerten Sie diesen Dreiklang?

Ja. Das Europäische Projekt wurde auf der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 gegründet. Durch die Vergemeinschaftung kriegsnotwendiger Ressourcen wollte man es den Staaten Europas unmöglich machen, in Zukunft gegeneinander Krieg zu führen. Auf Grundlage dieser Kooperation wurde in den Folgejahren eine Zollunion, ein europäischer Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung erschaffen. Parallel dazu wurde die Politische Union formiert, die auf den Grundwerten der Demokratie, der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit fundiert. Die Europäische Union ist also eine Geschichte des graduellen Fortschritts, der zunehmend engeren Integration der Mitgliedstaaten. Nun liegt es an uns, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Klimaschutz, die Digitalpolitik, die Gesundheitsunion und Energie sind zentrale Politikfelder.

Gerade in der Außenpolitik sehen wir aktuell, dass Fortschritt nicht immer einfach ist und Konflikte nicht immer lösbar. Die Invasion der Ukraine durch Russland ist ein aktuelles Beispiel für ein Europa, das im wahrsten Sinne an die Grenzen des Fortschritts gerät. Welchen Beitrag kann die EU für mehr Sicherheit leisten?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in jeglicher Hinsicht eine historische Zäsur. Das ist eine Zeitenwende der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir Europäer müssen selbst mehr für unsere eigene Sicherheit und Verteidigung leisten. Es braucht in der Europäischen Union einen stärkeren und echten politischen Willen aller Mitgliedstaten, die Kräfte zu bündeln. Ebenso geboten sind massive Investitionen für zusätzliche Ausrüstung und operative Fähigkeiten. Beides muss deutlich besser werden. In enger Abstimmung mit der NATO braucht es einen konkreten Fahrplan, wie wir uns zu einer Europäischen Verteidigungsunion entwickeln. Der strategische Kompass kann diesem Zweck dienen.

Wie aktuell ist der Fortschrittsgedanke im Sinne eines friedlichen Europas?

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ist er aktueller denn je. Wir erleben gerade im Herzen Europas einen konventionell geführten Krieg, in unserer direkten Nachbarschaft. Diese durch nichts zu rechtfertigende völkerrechtswidrige Invasion muss sofort beendet werden. Die Bilder von Luftschlägen, toten und verwundeten Soldaten, zerstörten Wohnhäusern, schreienden Kinder, überfüllten U-Bahn-Stationen und Flüchtlingsströmen führen uns schrecklich vor Augen, wie wichtig Frieden und Freiheit sind. Das sind die Grundlagen unseres Zusammenlebens auf dem europäischen Kontinent.

Der Fortschrittsgedanke wird nicht nur in der Außenpolitik in Frage gestellt, auch den Brexit, der sich 2022 gejährt hat, bewerten einige als Schritt zurück. Wie bewerten Sie die Entscheidung im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der EU?

Der Brexit ist und bleibt ein historischer Fehler. Die Hauptaufgabe war es von Anfang an, die negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Der Brexit kennt nur Verlierer. Gleichzeitig hat der Austrittsprozess die Einigkeit innerhalb der EU 27 gestärkt. Es gibt keine Nachahmer.

Mit dem neuen Handels- und Kooperationsabkommen steht unsere künftige Partnerschaft auf einer soliden und rechtlich abgesicherten Grundlage. Es ist beispiellos in seinem Umfang und geht weit über ein traditionelles Freihandelsabkommen hinaus. Als Europäische Union hätten wir uns gewünscht, dass die britische Regierung noch ambitionierter in der zukünftigen Zusammenarbeit gewesen wäre. Denn einige wichtige Politikfelder sind im Handels- und Kooperationsabkommen nicht enthalten. Das gilt beispielsweise für die institutionelle Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Trotz bestehender Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung der vertraglichen Regellungen, insbesondere mit Blick auf das Protokoll zu Irland und Nordirland, ist und bleibt die EU auch weiterhin eng mit dem Vereinigten Königreich verbunden. Dieses Land ist unser Nachbar, wichtiger Handelspartner und verlässlicher Verbündeter in der NATO, der OSZE, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in den G7- und G20-Formaten sowie im Europarat.

In der aktuellen Gemengelage: In welchen Bereichen geht es in der EU voran, wo besteht Handlungsbedarf?

Die Europäische Union ist eine internationale Handelsmacht und der größte Geldgeber der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Darauf können wir stolz sein. Mit mehr als 70 Ländern hat die EU vertragliche Beziehungen in Form von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, Freihandelsabkommen oder Assoziierungsabkommen abgeschlossen. Dieses breite Netzwerk erlaubt es, unser diplomatisches und wirtschaftliches Engagement auf der Welt auszubauen, globale Standards zu setzen, den Kampf gegen den Klimawandel voranzubringen und die Pandemie zu überwinden.

Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfordern mehr, nicht weniger EU-Engagement auf der globalen Bühne. Europa muss größer bei großen Themen sein. So gilt es, die gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik stärker, effizienter und handlungsfähiger zu gestalten. Auch im Kampf gegen den Klimawandel muss die Europäische Union sich weltweit als Vorreiter positionieren. Das tun wir bereits. Mit dem European Green Deal und dem Klimagesetz haben wir uns ambitionierte Ziele gesetzt. Wichtig ist dabei, die ökologischen Ziele mit der ökonomischen Realität und dem globalen Wettbewerb zu vereinen. Klimapolitik darf für unsere Unternehmen nicht zu einem regulatorischen Wettbewerbsnachteil werden, sondern Ausgangspunkt für nachhaltige, innovative und exportfähige Lösungen. In diesem Zusammenhang bietet Afrika große Chancen, sofern wir unseren Nachbarkontinent als Partner auf Augenhöhe betrachten. Afrika und Europa verfolgen ein gemeinsames Ziel: Wir wollen nachhaltige Volkswirtschaften und zukunftssichere Arbeitsplätze. Deshalb müssen wir die europäische und die afrikanische Wirtschaft besser zusammenbringen und bessere Rahmenbedingungen für Investitionen sowie für die Entwicklung und den Einsatz neuer Technologien schaffen.

Wo wird die EU in zehn Jahren stehen?

Mut machen mir die jungen Menschen. Diese Generation ist so proeuropäisch und mobil wie keine andere zuvor. Das verdanken wir auch EU-Programmen wie Erasmus+, DiscoverEU oder dem Europäischen Solidaritätskorps. Durch die zeitweise geschlossenen Grenzen während der Pandemie und durch den Krieg im Osten wird dieser Generation vor Augen geführt, wie wichtig der Kampf für den Frieden, die europäische Verständigung und Einheit sind. Für den europäischen Kontinent gibt es nur eine Zukunft – und zwar in einem vereinten Europa.

Das Gespräch führte Johanna Fleger.

David McAllister wurde am 12. Januar 1971 in Berlin geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Von 1991 bis 1995 studierte David McAllister Rechtswissenschaften an der Universität Hannover und schloss mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen ab. Nach der Referendarzeit am OLG Celle folgte 1998 das Zweite Staatsexamen, seitdem ist er Rechtsanwalt. 1988 trat er in die CDU ein. Von 2008 bis 2016 war er Landesvorsitzender der CDU in Niedersachsen. Bis 2014 war er Abgeordneter des Niedersächsischen Landtags und dabei von 2003 bis 2010 Vorsitzender der CDU-Fraktion und von 2010 bis 2013 Ministerpräsident von Niedersachsen. Seit 2014 ist David McAllister Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Er leitet den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten und ist Ko-Vorsitzender der UK Contact Group. Zudem ist er Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP).