Ursula von der Leyen war schon vieles: Pionierin, Querdenkerin, Reizfigur.  Mit uns hat die Verteidigungsministerin über die Rolle der Union in einer  sich verändernden Gesellschaft, über Frauen bei der Bundeswehr und über  die Chancen und Bedrohungen der Digitalisierung gesprochen.

365 Sherpas: Wir sind im Jahr 2016 von manchem Ereignis überrascht worden, wichtige Partnerländer, mit denen wir in der NATO zusammenarbeiten, haben – milde gesprochen – ungewöhnliche Wege eingeschlagen. Ist das Bündnis noch so berechenbar wie es mal war?

Ursula von der Leyen: Ja. Die Nato ist seit vielen Jahrzehnten das stärkste Militärbündnis der Welt, weil sie immer wieder ihre Strukturen der Sicherheitslage anpasst. Die Modernisierungsschritte seit dem Gipfel von Wales sind enorm. Alle Partnerländer wissen, dass sie mit dem Bündnis angesichts der globalen Gefahren mehr Sicherheit haben.

365 Sherpas: Die Gründung des europäischen Verteidigungsbündnisses PESCO ist ein Meilenstein, der bisher als undenkbar galt. Brauchte es Brexit, Trump und Erdogan, um diesen Durchbruch zu schaffen? Hat es Unberechenbarkeit gebraucht, um Verlässlichkeit zu erzeugen?

Ursula von der Leyen: Dass wir jetzt den historischen Schritt zur Europäischen Verteidigungsunion gehen können, hat viele Ursachen. Aber das Referendum in Großbritannien und die Wahl in den USA haben auch den letzten Zweiflern unter den Europäern schließlich die Augen geöffnet, dass ein starkes Europa in der Lage sein muss, die Probleme in seiner Nachbarschaft selber zu einer Lösung zu bringen. Ob unser Nachbar Afrika unter Fragilität, Menschenschmuggel und Terror leidet oder ob es zu Stabilität, Entwicklung und Wachstum findet – das hängt auch davon ab, ob wir zu seiner positiven Entwicklung beitragen, die auch in unserem Interesse ist. Wenn wir Europäer uns zusammenschließen, können wir enorme Kräfte freisetzen.

365 Sherpas: Sie haben in der Vergangenheit für die Idee der Vereinigten Staaten von Europa geworben. In Anbetracht europafeindlicher Entwicklungen in vielen EU-Ländern und der Erfahrungen während der Euro-Krise: Ist das eine Vision, hinter der sich die Menschen immer noch versammeln können?

Ursula von der Leyen: In einer mehr und mehr globalisierten Welt wird Europa nur gehört werden, wenn wir zusammenhalten und als Europäer mit einer Stimme sprechen. Bei den großen Themen wie äußere Sicherheit und stabile Nachbarschaft, Freihandel oder Klima wünschen sich die Menschen bereits heute ein starkes, handlungsfähiges Europa. Europa ist aber mehr als ein Wirtschafts- oder Verteidigungsbündnis. Europas Werte bilden das Fundament, auf dem alles ruht: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität. Das verdrängen die Populisten. Wenn sie Europa angreifen, greifen sie unsere Kultur an, unsere Art zu leben. Wir müssen für Europas Werte stärker kämpfen und diese glaubwürdiger durchsetzen – auch nach innen. Insofern sind wir auch in einer Phase, wo meine Generation ihr Europa wieder bestätigen muss. Heute geht es mir darum, die Grundmauern dieser Gemeinschaft zu stärken. Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist eher eine Vision für die Generation meiner Enkel.

365 Sherpas: Sie haben sich, so unser Eindruck, ganz bewusst für das Verteidigungsressort entschieden? Warum? Lag es an der Herausforderung oder wollten Sie diese Männerdomäne aufbrechen?

Ursula von der Leyen: Ich habe die Herausforderung gerne angenommen. Von Tag eins an haben mich die Sicherheitslage und der enorme Modernisierungsbedarf der Truppe beschäftigt. Und dazu gehört eine Truppe, die breit aufgestellt ist, damit sie Chancen und Risiken in allen Facetten erkennt. Wir haben also Daten erhoben über Karrierewege und festgestellt, dass weibliche Karrieren in der Bundeswehr längst nicht so selbstverständlich laufen wie männliche. Mit der Transparenz bei den Daten wuchs die Erkenntnis, wie viel Potenzial der Bundeswehr verloren geht. Seitdem haben wir an den Fehlern gearbeitet und sehen jetzt viele positive Zeichen. Der Anteil weiblicher Bewerbungen steigt stetig. Immer mehr Frauen wollen beim Bund auch Karriere machen. Von den angehenden Offizieren sind schon rund ein Viertel weiblich.

365 Sherpas: Ob Traditionspflege in der Truppe oder Qualität von Waffen und Ausrüstung – Sie haben sich mit mächtigen Akteuren im sicherheitspolitischen Kosmos angelegt. Weder Ihre christ- noch Ihre sozialdemokratischen Vorgänger haben sich das angetan. Musste erst eine Frau kommen, damit sich hier etwas bewegt?

Ursula von der Leyen: Es waren eher zwei gegenläufige Entwicklungen, die es erforderten, beherzt zu modernisieren. Einerseits hat sich die Sicherheitslage kein halbes Jahr nachdem ich angefangen habe, dramatisch verändert – Stichworte sind Russlands hybrider Krieg in der Ostukraine, das Wüten des IS in Syrien und Irak und die Fluchtbewegungen in Afrika. Die Bundeswehr musste in viele neue Einsätze. Andererseits trafen diese Mehrforderungen auf eine Bundeswehr, die seit der Wiedervereinigung geschrumpft und gekürzt worden ist. Wir mussten also eine vollständige Trendwende einleiten: Die Bundeswehr wächst wieder, die Materiallücken werden gefüllt und die Finanzen gesunden. Hinzu kommt, dass wir uns seit Aussetzen der Wehrpflicht als Arbeitgeber jedes Jahr um 30.000 freiwillige Fachkräfte neu bemühen müssen – gegen die harte Konkurrenz des deutschen Mittelstandes. All das hat die Truppe bravourös umgesetzt. Jetzt geht es darum, den Modernisierungskurs zu verstetigen.

365 Sherpas: Die Union ist in der Ära Merkel bewusst in die Mitte gerückt. Der konservative Flügel ist dadurch heimatlos geworden. Wie kann die Union jene zurückgewinnen, die sich früher mit den Positionen von Alfred Dregger oder auch Wolfgang Bosbach identifiziert haben?

Ursula von der Leyen: Unsere gesamte Gesellschaft hat sich doch in den Jahrzehnten deutlich verändert. Die Union wäre heute nicht mehr Volkspartei, wenn sie stehen geblieben wäre. Jede Partei, die Zukunft gestalten will, muss sich mit der Gesellschaft nach vorne bewegen und Antworten auf die aktuellen Fragen geben. Wir müssen den Menschen erklären, wie sie auch künftig sicher in ihrer Heimat leben können. Wie wir alte Werte wie Familie, Verantwortungsbereitschaft, Leistungsfreude, Rechtstreue in die Moderne übersetzen. Unser Wohlstand lebt von Neugier, Offenheit und Austausch. Ich sehe in meiner Union viele junge Talente mit einem modernen konservativen Anspruch.

365 Sherpas: Muss die Union diese Wählermilieus überhaupt zurückgewinnen oder fährt sie besser damit, im gemäßigten linken Lager zu wildern?

Ursula von der Leyen: Weder noch. Die Union hat immer den Anspruch, zu regieren und Verantwortung zu übernehmen. Und sie hat diesen Anspruch über programmatische Starre gestellt. Es hat immer eine heilsame Wirkung, wenn man jeden Tag auf die Realität trifft. Das macht die eigentliche Stärke der Union aus.

365 Sherpas: Die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl gestaltet sich schwieriger als sonst. Nach dem Scheitern von Jamaika befürchtet gerade die Wirtschaft viele teure Kompromisse. Wofür steht die Union in den Verhandlungen?

Ursula von der Leyen: Für mich ist für die nächsten vier Jahre ganz entscheidend, dass Deutschland die historisch gute Ausgangslage nutzt. Die Wirtschaft brummt, die öffentlichen Haushalte stehen so gut da wie seit langem nicht, Deutschland hat international hohes Ansehen. Jetzt ist die Chance da, kraftvoll in die Zukunft zu investieren. In ein starkes Europa, das in der Welt gehört wird, in demografiefeste Konzepte des Zusammenlebens, in innere wie äußere Sicherheit, weil sich die Welt um uns herum deutlich verändert hat. Aber das alles überlagernde Megathema wird die konsequente Digitalisierung unseres Landes sein.

365 Sherpas: Beim Thema Digitalisierung wird es ja kaum Streit geben. Für Breitbandausbau sind ja alle …

Ursula von der Leyen: Wir sollten uns keine Illusionen machen. Digitalisierung ist weit mehr als das und findet weltweit in rasendem Tempo statt. Von den nächsten Jahren hängt ab, ob Deutschland zu den Gewinnern oder Verlierern gehören wird. Mir ist wichtig, dass wir den Mut finden, diesen unausweichlichen Wandel mit einer positiven Grundhaltung zu gestalten. Mit einem klaren Blick für die Risiken, aber ebenso für die gute Nachricht, dass Digitalisierung auch viele Lösungen für alte Probleme bringt. Zum Beispiel medizinische Versorgung in entlegenen Regionen. Ich sehe enorme Verbesserungen für Patienten. Und das ist nur ein Splitter der neuen Möglichkeiten.

365 Sherpas: Welche Aufgaben sehen Sie denn dabei für den Staat? Bislang ist es ja eher so, dass die großen Konzerne den Takt vorgeben.

Ursula von der Leyen: Vorweg: Die Wirtschaft wird immer Treiber der Entwicklung bleiben. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf nahezu alle Bereiche unseres Lebens sind aber so gravierend, dass der Staat den Prozess viel aktiver mitgestalten muss.

365 Sherpas: Worum geht es konkret?

Ursula von der Leyen: Vier Stränge. Erstens: eigene Hausaufgaben machen. Wir brauchen eine voll digitalisierte Verwaltung, damit der Staat für Bürger und Unternehmen nicht zum Bremsklotz wird. In Estland kann man heute schon Kita-Plätze online belegen. Mit einem Mausklick wird automatisch die Gebühr abgebucht und in der elektronischen Steuererklärung als absetzbar vermerkt. Nach demselben Prinzip können wir auch viel Zeit und Zettelbürokratie für Firmen sparen. Zweitens: Durch Digitalisierung werden sehr viele neue Arbeitsplätze entstehen, auch als Arbeit in der Cloud. Auf der anderen Seite werden viele einfache Tätigkeiten verschwinden. Für diese Menschen muss es ein Auskommen und neue Aufgaben geben. Das ist soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter.

365 Sherpas: Viele Menschen fühlen sich von der Digitalisierung bedroht.

Ursula von der Leyen: Deswegen ist es so wichtig, dass wir Digitalisierung mitgestalten. Dazu gehört drittens auch, Datenschutz neu zu denken. Alte Denke ist, dass die Daten des Bürgers vor allem vor dem Staat geschützt werden müssen. Die neue Frage ist doch: Wie schützen wir uns, unsere Bürger vor der Allmacht der globalen Datenriesen? Diese Firmen speichern alles über uns. Was wir kaufen, was wir im Netz lesen, wen wir kennen, wo wir unterwegs sind. Die wissen, welche Kleidung ich bevorzuge, und schicken meinem Mann gleich die Werbung dafür. Was ist, wenn wir beide das nicht wollen? Darauf müssen wir Antworten finden.

365 Sherpas: Wie können die aussehen?

Ursula von der Leyen: Natürlich ist das ein ganz mühsamer Prozess und eine Herausforderung, vor der andere Länder ebenfalls stehen. Wir müssen auf nationaler oder europäischer Ebene einen Ordnungsrahmen erstellen, in dem sich diese Unternehmen bewegen. Es muss Regeln geben, die Transparenz über Daten und Algorithmen herstellen. Der Bürger muss Einfluss darauf bekommen, welche Daten Wirtschaftsunternehmen über ihn speichern und was sie damit machen. Die Rolle des Staates ist dabei, dem Bürger zu helfen, sein legitimes Interesse durchzusetzen. Das müssen wir angehen.

365 Sherpas: Vielen Menschen, die sich  im Netz bewegen, scheint es ziemlich  egal zu sein, was mit den Bildern und  Daten passiert, die sie von sich preisgeben.

Ursula von der Leyen: Das stimmt, hängt aber auch damit zusammen, dass noch viel Unwissen darüber herrscht, mit welchen Mechanismen das Netz arbeitet. Wem ist ständig bewusst, dass scheinbar objektive Algorithmen nie zur einzigen Wahrheit führen, sondern immer nur zu einer möglichen Lösung für eine bestimmte Frage? Das führt mich zum vierten Punkt: Wir alle müssen lernen, digital zu leben, ohne elementare Werte des Zusammenlebens zu verlieren. Digitalisierung beginnt in der Kindheit. Unsere Kinder sind schon Digital Natives, sie leben mit Smartphones und Tablets. Wie gehe ich mit meinen Daten um? Was macht es mit einem Teenager, der mit jedem Post sofort bewertet wird, mit Likes und Dislikes? Gibt es noch ein Gespräch, ohne dass dauernd ein Smartphone blinkt? Können wir noch über Stunden in eine Aufgabe konzentriert eintauchen? Klar sind das Erziehungsfragen, aber zu einem guten Stück auch eine nationale Bildungsaufgabe. In der jetzigen Legislaturperiode müssen wir dieses Thema noch stärker in die Schulen und Universitäten bringen. Der Umgang mit Technologie muss auch in seinen sozialen Dimensionen verpflichtender Teil der Lehrpläne werden.

365 Sherpas: Da klingt die ehemalige  Arbeits- und Familienministerin durch.  Trotz Ihrer mittlerweile zwölf Jahre  Regierungserfahrung im Bund sind  Sie recht spät in die Politik eingestiegen. Brauchen wir mehr Quereinsteiger in  der Politik, um aus gewohnten Routinen auszubrechen?

Ursula von der Leyen: Meine Erfahrung ist: Politik braucht beide. Die erfahrenen Profis, die die Regeln und das politische Handwerk im Detail kennen und genau wissen, wie aus guten Ideen Gesetze werden. Aber auch Querdenker, die den weiten Blick mitbringen, dem System den Spiegel vorhalten und neue Schneisen schlagen. Deswegen lege ich in meinem direkten Führungsteam auch sehr viel Wert auf Diversität.

365 Sherpas: Früher gab es Schwarz-Gelb, Rot-Grün und GroKo. Inzwischen hat fast jedes Bundesland eine andere Koalition. Wie berechenbar ist politisches Handeln auf diesem politischen Flickenteppich?

Ursula von der Leyen: Die Zeiten klarer Mehrheiten im Bundesrat sind schon lange vorbei. Die Länder haben parteiübergreifend andere Schwerpunkte als der Bund. Vielleicht ist die Kunst, immer einen Ausgleich zu finden zu müssen, eine große Stärke unseres Systems. In den USA und England gilt das Prinzip „the winner takes it all“ – egal, wie knapp die Wahl ausgeht. Relevante Minderheitsinteressen geraten rasch unter die Räder, was Unfrieden in der Gesellschaft schürt. Die inneren Ausgleichssysteme machen unser Land berechenbarer.

365 Sherpas: Früher kannte man seine Gegner, heute verschwimmen die Grenzen der politischen Lager. Braucht berechenbare Politik die klare Abgrenzung politischer Lager?

Ursula von der Leyen: Ich glaube, dass wir derzeit eher eine Entwicklung erleben, in der sich politische Strömungen wieder stärker voneinander abgrenzen. Meine Sorge ist, dass wir im Ringen um parteipolitisch aufgeladene Ladenhüter wie Vermögenssteuer oder Bürgerversicherung wichtige Zukunftsinvestitionen vernachlässigen. Ein Beispiel: Was auch immer wir beim Klima oder Rentenniveau versprechen – um das zu stemmen, muss unser Land erst gewaltige Sprünge nach vorne machen, etwa bei den Themen Bildung und Digitalisierung. Ein starkes Europa muss sich weltweit für freien Handel einsetzen und für Stabilität insbesondere in seiner Nachbarschaft sorgen. Nur dann kann Deutschland auch künftig in der Spitzengruppe mithalten.

365 Sherpas: Frau von der Leyen, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führten Cornelia Göbel  und Cornelius Winter.

Ursula von der Leyen ist seit 2013 Bundesministerin der Verteidigung. Von 2003 bis 2005 war sie niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, nach ihrem Wechsel in die Bundespolitik war sie bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und von 2009 bis 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales.

Das Interview ist im Dezember 2017 in unserem Jahresbrief „Haltung“ erschienen, Thema der Ausgabe ist „Neue Berechenbarkeit“. 

Bild: Hans Christian Plambeck